Alexander Wendt / 11.01.2013 / 08:29 / 0 / Seite ausdrucken

Überhauptnichtantisemiten (Eine Annäherung)

Es gibt in Deutschland eine Menge Antisemitismus, aber keine Antisemiten. Jürgen Möllemann erklärte mir vor ziemlich genau zehn Jahren auf einer Dampferfahrt bei Dresden, er betreibe seine Sharon- und Friedmannkritik selbstverständlich aus tiefer Sorge um Israel, und berief sich auf die Tochter Jitzchak Rabins, während seine bekräftigenden Handbewegungen mehrmals knapp an meinem Gesicht vorbeizischten. Auf der von Sachsens Freidemokraten organisierten Elbpartie fand übrigens eine Tombola statt, der Hauptgewinn bestand in einem Tandem-Fallschirmabwurf mit dem deutschen Vizekanzler a. D. Den Vorwurf, Antisemit zu sein, hätte Jürgen W. Möllemann auch bei diesem Tete a tete und selbst noch ein paar Monate später bei seinem Einzelsternsprung indigniert weggefuchtelt.

Mit dem RAF-Mitgründer und späteren NPD-Mitglied Horst Mahler hatte ich etwa um die gleiche Zeit längere Gespräche geführt. Damals leugnete er den Holocaust noch nicht, sondern lobte ihn; Auschwitz sei, so erklärte er mir, der „Aufstand des deutschen Geistes gegen den Weltgeist des Geldes“ gewesen. Auch Mahler begehrte damals, kein Antisemit zu sein. Er helfe den Juden nur, ihr Jüdischsein zu überwinden.
Während der israelischen Operation „Cast Lead“ im Gazastreifen hielt ein Antiisrael-Demonstrant in Berlin ein selbst gemaltes Schild in die Höhe, auf dem stand:„Ich bin Antisemit, und das ist auch gut so.“ Es handelte sich, deutlich erkennbar, um einen zugewanderten Araber. Der Mann war mit den Landessitten nicht vertraut.

Alle Fahndungen nach einem authentischen, bekennenden Judenhasser bleiben in Deutschland notorisch erfolglos, und auch die Integrationsfortschritte unseres arabischen Freundes wird man daran ablesen können, dass er beim nächsten Protestzug auf seine Pappe schreibt:„Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden.“ Es hilft nichts: Deutschlands letzter aufrichtiger Antisemit verstarb am 30. April 1945 in einem Berliner Tiefparterre, ungefähr dort, wo heute in der Voßstraße das Restaurant „Peking-Ente“ steht.
Der Fall Jakob Augstein reiht sich ein in die große Gemeinschaft der Überhauptnicht-Antisemiten, eine Gemeinschaft, die viele Grauschattierungen kennt, mehr als fünfzig allemal. Es gibt Gebildete unter ihnen und Unbedarfte, Einflussreiche und Unbekannte, Originelle und Wiederkäuer, und neben ihrer Eigenschaft als Überhauptnicht-Antisemiten nehmen wir sie natürlich auch Kollegen, Familienväter, Einhandsegler oder Hobbygärtner wahr, das heißt, sie bestehen ganz zu Recht darauf, nicht auf ihre Obsession reduziert zu werden. Schon den Begriff Obsession würden sie zurückweisen und stattdessen von Fürsorge, Liebe, Interesse oder besonderer Verantwortung sprechen, ungefähr so, wie ein Käfersammler eine besondere Verantwortung für alles krabbelnde Getier verspürt. Weltweit gibt es etwa 14 Millionen Juden, weniger Menschen also, als in Nordrhein-Westfalen leben. Es existiert nur ein jüdischer Staat, und der besitzt die Ausmaße Hessens, wenn auch nicht dessen günstige geografische Lage.

Sie müssen also etwas an sich haben, die Juden und ihr Staat, wenn der so genannte Afrikanische Weltkrieg im Kongo und Umgebung mit seinen geschätzten drei Millionen Toten in Deutschland praktisch nicht wahrgenommen wurde, wenn der Bürgerkrieg in Syrien mit seinen bisher 60 000 Toten keinen einzigen Pace-Fahnenträger auf ein Marktplatz treibt, wenn Kim Jong Un eine bemerkenswert gute Presse genießt und niemand hierzulande die Bezeichnung Bolivien- oder Kubakritiker trägt, von Russlandkritiker ganz zu schweigen, während die Augen von ganz normalen Gesprächsgästen auf einer Party eine fiebrigen Glanz annehmen und die Stimme einen metallischen Klang bekommt, sobald von Israel die Rede ist. Der sympathische Zeitgenosse im Schwabinger Altbau, der eben noch mit seinem Kartoffelsalat beschäftigt war, möchte dann unweigerlich als Geradewirdeutscher etwas sagen, nämlich etwas Grundsätzliches zum Grundproblem des Nahen Ostens.

Der Frage, woher dieser fiebrige Glanz rührt, nähert man sich am besten zunächst nicht historisch, sondern mit anthropologischem Interesse. Vor ein paar Jahren hatte die Bremer Linkspartei auf ihrer Website einen Text veröffentlicht, in dem von jüdischer Paranoia die Rede war und davon, dass die Jüdische Gemeinde in Bremen die Bevölkerung spalte; mit ihrer Verteidigung Israels würde die Gemeindeführung selbst Antisemitismus schüren. Bremer Linksparteimitglieder fanden selbstredend, es handele sich dabei um lupenreinen Überhauptnichtantisemitismus, machten sich aber trotzdem sicherheitshalber auf zur Jüdischen Gemeinde der Stadt, um sich die Unbedenklichkeit noch einmal in einem so genannten klärenden Gespräch bestätigen zu lassen. Einer der Linksparteigenossen sagte in diesem Gespräch zu dem stellvertretenden Gemeindevorsitzenden Grigori Pantijelew – denn es ging ja schließlich, was er noch einmal betonen wollte, überhaupt nicht um Juden, sondern um Israel – dass doch gerade die Juden angesichts ihrer Geschichte gegen das schreiende Unrecht protestieren müssten, das Israel den Palästinensern antue. Pantijelew antwortete, Auschwitz sei, anders als seine Besucher offenbar annähmen, keine Besserungsanstalt gewesen. Genau hier liegt der entscheidende Punkt, der gewissermaßen das Gravitationszentrum des Überhauptnichtantisemitismus bildet, den Kern, das ganze Gebilde zusammen und auf der Bahn hält: Nach der Überzeugung vermutlich einer Mehrheit handelte es bei Auschwitz sehr wohl um eine Besserungsanstalt: und zwar für die Deutschen. Wer vor diesem Satz zurückzuckt, der halte sich vor Augen, dass sich in Deutschland seit Jahrzehnten so etwas wie eine selbsttherapeutische Familienaufstellung mit mehreren Millionen Teilnehmern vollzieht, die mittlerweile in die vierte Generation reicht. Im Jahr 1951 brauchten die Einwohner von Landsberg am Lech noch keine Unbedenklichkeitsbescheinigung einer jüdischen Gemeinde, sondern stellten sie sich gleich selbst aus; auf einer „Protestkundgebung gegen Unmenschlichkeit“ zugunsten zu Tode verurteilter SS-Männer sagte der Bayernpartei-Politiker Gebhard Seelos damals unter frenetischem Beifall, das deutsche Volk lehne Unrecht ab, „unabhängig davon, ob es vor oder nach 1945 begangen wurde“. Die Veranstaltung, an der rund ein Drittel der Landsberger teilnahmen, endete mit dem gemeinschaftlichen Ruf: „Juden raus“. Die nächste Alterskohorten in Gestalt von Reinhard Lettau („Täglicher Faschismus“)und der 68er-Studenten („USA-SA-SS“) arbeitete an dem Nachweis, dass die eigentlichen Nazis in Washington saßen, beziehungsweise, dass es sich bei Moshe Dayan um „diesen Himmler Israels“ handelte (Ulrike Meinhof).

Die Erbengeneration um Augstein jr. kann es vergleichsweise ruhig angehen lassen, denn sie erntet die erfolgreichen Bemühungen ihrer Vorgänger zur Wiedergutwerdung. Sie kann sich ganz ohne Judenknacks (Dieter Kunzelmann) endlich der Hauptaufgabe junger Deutscher widmen, nämlich der Mission, schrankenlos gut zu sein. Natürlich könnte man diese Mission auch ausleben, indem man feststellt, dass alle Weltübel in Amerika und im Kapitalismus wurzeln, aber die eigentliche, die wirksamste Kontrastfolie zur Ausstellung des eigenen Gutseins, die noch dazu anregend prickelt, weil sie das Gutseinwollen an tiefe historische Energieströme anschließt, diese Folie liefert einzig und allein Israel. Die entsprechenden narrativen Figuren ähneln sich in Deutschland von links bis rechts, von sozialistisch bis bürgerlich so sehr wie nichts sonst. Wolfgang Gehrke von der Linkspartei bescheinigt etwa der Hamas: „Ihr Kurs der letzten Monate geht in Richtung Vernunft und Verhandlungen“; eine Publikation der sächsischen Linkspartei beschreibt den Beginn des letzten Gaza-Gefechts so: „Begonnen hatte das ganze ...mit der Ermordung des Sicherheitsverantwortlichen von Gaza durch israelisches Militär“ – aus blauem, nur durch einige Kassam-Sylvesterraketen getrübten Himmel, „die höchstens ein paar Schindeln vom Dach reißen“ (Otmar Steinbicker vom Aachener Friedensmagazin aixpaix), die Bedrohung durch den Iran ist ein jüdischen Hirngespinst, da sie nur von einem „Maulhelden“ (G. Grass) ausgeht; nicht etwa hätten Israel und die Juden tatsächlich Feinde zu gewärtigen, sondern sie sehnen sich geradezu feinselig welche herbei, wie die taz am Beispiel des Simon-Wiesenthal-Center engführt: „Und weil die meisten Altnazis weggestorben sind, hat es sich neue Gegner wie Irans Präsidenten Mahmud Ahmadineschad oder Louis Farrakhan, den Anführer der Nation of Islam in den USA, gesucht.“ In der erzbürgerlichen, gewiss keines Antisemitismus verdächtigen FAZ heißt es in einer Rezension von György Konráds „Über Juden“: „Für den älter werdenden Konrád ist eine starke israelische Armee die notwendige historische Antwort auf die Judenvernichtung. Aus seiner Sicht sind die heutigen Feinde des israelischen Staates ohne weiteres mit den Nationalsozialisten vergleichbar, streben sie doch mit ihrem radikalen Islamismus die Èndlösung` für Israel an. Solche überspitze Rhetorik ... stützt sich auf Geschichtsauffassungen konservativ-zionistischer Provenienz, die selbst in Israel als überholt gelten.“ Darüber hinaus wird Konrád vorgehalten, seinem Text fehle die „sprichwörtliche jüdische Fähigkeit zur Selbstkritik“, die man „im Allgemeinen von einem jüdischen Schriftsteller, der `Über Juden` schreibt, erwartet.“

Nicht nur, dass die Israelis vernünftige, verhandlungsbereite Gegner zusammenbomben, Sicherheitsverantwortliche auf dem Weg zur Sylvesterraketeninspektion ermorden und eine Bedrohung ihres Staates herbeiphantasieren, nur weil ein Ministerpräsident eines Landes die nichtssagende Bemerkung fallen lässt, er wolle Israel aus dem Buch der Geschichte tilgen, während seine Techniker Uran anreichern – die Juden Israels tragen auch noch „Herrenmenschenzüge“ (ein Autor auf der Webseite der Bremer Linkspartei), planen weltweite Genozide, „an deren Ende wir Überlebenden allenfalls Fußnoten sind“ (abermals G. Grass), sie „züchten sich ihre Feinde selbst“ in dem „Lager“ Gaza, wo ihre schuldlosen Opfer „zusammengepfercht“ sind (J. Augstein). Kurzum: Israels Juden morden nicht nur Unschuldige unter Paranoia, sie sind auch diejenigen, die explizit aus Auschwitz nichts gelernt haben. Sie sind die Wiedergänger der deutschen Urgroßväter, die man, sollte Israel untergehen, in diesem Moment endlich auch symbolisch loswürde. Aus der Entfernung lassen sich deutlich drei Phasen ausmachen: Die Schuldabwehr der unmittelbaren deutschen Nachkriegsgeneration, die Schuldverschiebung auf Israel, und schließlich, gegenwärtig, die nie ausgesprochene und immer mitgedachte Hoffnung, das Kollektiv, dem man die eigene Schuld übertragen hatte, möge damit endlich untergehen. Aus deutscher Sicht erinnert Israel durch seine schiere Existenz erstens an den Holocaust, und zweitens auch noch daran, dass Hitler und seine Gefolgsleute daran scheiterten, ihren wichtigsten Programmpunkt vollständig umzusetzen. Verschwände dieses lästige Land, dann verschwänden endlich auch Erinnerung, Schuld und Scham.

Unter all den Sprachfiguren der Gutgewordenen zu Israel liegt die völlig selbstverständliche und von den Sprechern überhaupt nicht mehr in Frage gestellte Grundüberzeugung, dass es ein Nahostproblem gibt, dessen Ursache Israel ist, und dass es irgendwie gelöst werden müsse. Das ist – exakt eins zu eins – die Übertragung der Art und Weise, wie in den dreißiger Jahren eine Mehrheit der Deutschen über die Juden dachte, auf Israel. Im Schlagschatten der Shoa verschwindet aus dem Blick, dass es damals viele Spielarten des Antisemitismus gab. Manche dachten daran, die Zahl jüdischer Studenten zu begrenzen, andere machten den Vorschlag, alle Juden nach Madagaskar zu deportieren, und wahrscheinlich hätten sogar einige von denen, die so dachten, mit Empörung von sich gewiesen, sie seien Antisemiten. Aber all diese selbstverständlichen Überzeugungen, es gebe in Deutschland eine Judenfrage, lieferten zusammen die Energie, die ein paar Jahre später Auschwitz erst möglich machte.

Zur Ehrenrettung des Überhauptnichtantisemiten Jakob Augstein fragen viele seiner Verteidiger spöttisch: Wer wäre denn kein Antisemit, wenn Augstein Jr.  einer sein soll?
Einer Legende nach stand 1932 ein Mann auf dem Potsdamer Platz in Berlin und rief: „Die Juden und die Radfahrer sind an allem Schuld!“ Ein Passant fragte ihn: „Warum die Radfahrer?“ Und der Mann antwortete: „Warum die Juden?“

Der Passant, der fragte: `warum die Radfahrer?, mochte ein höflicher, gebildeter, sympathischer Zeitgenosse gewesen sein, wahrscheinlich ein guter Familienvater – aber er gehörte zu dem anschwellenden Strom des Judenhasses der damaligen Zeit. Nicht in einer herausragenden Rolle, aber in einer für Auschwitz notwendigen.

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