Great minds think alike! Das gilt auch für den Leiter der „Bildungsstätte Anne Frank" in Frankfurt, Meron Mendel, und den bedeutendsten deutschen Philosophen der Gegenwart, Peter Sloterdijk. Jetzt haben sie sich gegenseitig überboten, auf der Documenta in Kassel.
Meron Mendel, Leiter der Frankfurter „Bildungsstätte Anne Frank", hat der Berliner Zeitung ein Interview gegeben, in dem er seine Enttäuschung darüber zum Ausdruck brachte, „dass im Zentrum der Ausstellung ein Kunstwerk zu sehen war, das in seinen Augen teilweise antisemitische Hetze beinhaltet". Man mag sich nicht vorstellen, wie enttäuscht MM wäre, wenn das Kunstwerk nicht „teilweise" antisemitische Hetze beinhaltet hätte, sondern durch und durch antisemitisch gewesen wäre.
Er habe sich darauf verlassen, „dass es keinerlei antisemitische Darstellungen zu sehen geben" würde, und müsse nun feststellen, die Künstler hätten „hier bewusst mehrschichtige antisemitische Narrative auf die Leinwand gebracht". Er sei auch darüber „enttäuscht, dass es von ruangrupa kein Statement zu dem Skandal gab", das mache ihn „insofern besonders traurig, weil ich mich immer gegen die in Deutschland weit verbreitete Annahme gewehrt habe, dass praktisch der halbe globale Süden aus Antisemiten besteht".
Dennoch bleibe er bei seiner „Position, dass ein Großteil und vielleicht alle Antisemitismusvorwürfe im Vorfeld unberechtigt waren". Vielleicht aber auch nicht oder nur „teilweise", denn nun fühle er sich „von den Kuratoren ein Stück weit verraten" und frage sich, wie die „Zusammenarbeit gegen Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus in Zukunft aussehen soll, wenn man feststellen muss, dass selbst so offensichtliche Diffamierung von Juden im Ernstfall unkommentiert bleibt und relativiert wird".
Undank ist der Welten Lohn
So ist es, im Ernstfall sieht manches anders aus als im Vorfeld. Um es mit einem großen Wiener Satiriker zu sagen: „Der Geschlechtsverkehr ist nie so schön, wie man sich ihn beim Onanieren vorstellt." Oder eine Spur bescheidener: „Undank ist der Welten Lohn." MM hat den Kuratoren vertraut und sich immer gegen die in Deutschland weit verbreitete Annahme gewehrt, dass praktisch der halbe globale Süden aus Antisemiten besteht, also „teilweise" antisemitisch versaut ist. Und jetzt fühlt er sich ein Stück weit verraten. Also teilweise.
Und das ist der tragische Kern der Documenta-Affäre. Der Verrat an Meron Mendel, dem Leiter der niederschwellig agierenden Frankfurter „Bildungsstätte Anne Frank". Jetzt steht er da wie ein Kind, das soeben erfahren hat, dass seine Eltern es bei eBay versteigert haben und fragt sich, wie die Zusammenarbeit gegen Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus in Zukunft aussehen soll.
Er könnte Peter Sloterdijk, den bedeutendsten deutschen Phillosophen der Gegenwart, um Rat fragen. Der hat im Vorfeld seines 75. Geburtstages der Berliner Zeitung ebenfalls ein Interview gegeben, in dem er u.a. „den Impuls, Israelkritik mit Antijudaismus gleichzusetzen", kritisierte. „Dass jede Art von Israelkritik mit den historischen Ausprägungen des Antijudaismus und des politischen Rassismus des 19. Jahrhunderts in eine Linie gestellt wird, halte ich für einen beklagenswerten anti-intellektuellen Mechanismus.“ Eine Art Kurzschluss, den er kraft der ihm von der Natur gegebenen Gaben beheben wollte. Das großflächige Wimmelbild, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte, „stand irgendwo in Asien 20 Jahre lang herum, niemand nahm davon Notiz, man musste es hierherschleppen, damit es Empörung erzeugt. (...) Für die Experten ein klarer Fall von antisemitischer Propaganda. Mir genügte ein kurzer Blick: ‚miserables Gemälde‘. Jedes zusätzliche Wort ist Verschwendung“.
Ein Zwischenfall in amerikanischen Hochhäusern
Ja, von Kunst versteht er auch was. Ein kurzer Blick, und fertig ist die Expertise. Howgh, der Häuptling hat gesprochen.
Der Satz kam mir irgendwie bekannt vor, als hätte ich ihn schon mal gehört oder gelesen. Ein Griff ins Buchregal, Abteilung Broders gesammelte Werke, und ich wurde fündig. „Kein Krieg, nirgends: Die Deutschen und der Terror", erschienen sechs Monate nach 9/11, Seite 9, Zitat aus einem Interview, das PS im Januar 2002 der WamS gegeben hatte:
„Und wenn mir jemand versichert, dass er nach dem 11. September im Bereich der Philosophie anders denkt als vorher, streiche ich ihn sofort aus der Liste der ernst zu nehmenden Personen. Man kann als Intellektueller nicht behaupten, dass man im Rückblick auf das 20. Jahrhundert durch einen Zwischenfall in amerikanischen Hochhäusern plötzlich aus einem dogmatischen Schlummer erwacht ist. Ich glaube, die Katastrophenlandschaft des 20. Jahrhunderts einigermaßen zu überblicken. Der 11. September gehört da eher zu den schwer wahrnehmbaren Kleinzwischenfällen."
Ein Großzwischenfall wäre nur passiert, wenn es auch PS erwischt hätte. Hat es aber nicht. Während in NY die Türme kollabierten, saß er in seinem Philosophen-Stüberl, kratzte sich im Schritt und überlegte, wen er aus der Liste der ernst zu nehmenden Personen streichen möchte.
Den Anschlag auf das WTC in Echtzeit miterlebt zu haben, ohne schwach geworden zu sein, angesichts des Grauens kein Mitgefühl empfunden zu haben und anständig geblieben zu sein, ist ein noch ungeschriebenes Ruhmesblatt in der Geschichte der deutschen Philosophie.
Die nächste Documenta sollte das Werk von Peter Sloterdijk thematisieren. Als Projektleiter kommt nur Meron Mendel von der „Bildungsstätte Anne Frank" in Betracht. Teilweise oder wenigstens ein Stück weit.