Die Bayreuther Festspiele waren einmal ein Pilgerort. Zum Grünen Hügel reiste man nicht, man wallfahrte. Spätestens in diesem Jahr dürfte der Mythos zerbröselt sein, vielleicht endgültig.
Die Bayreuther Festspiele waren einmal ein Mythos, ein Pilgerort, geweiht dem Werk eines Mannes, der privatim vielleicht ein sächselnder, antisemitischer Kotzbrocken gewesen ist, dessen künstlerisches Oeuvre jedoch, zumindest in den Ohren jener, die Richard Wagners narkotischer Musik und seiner genialisch verklausulierten Dichtung erlegen sind, alle Nachfragen verstummen lässt, selbst jene nach den Nazi-Verstrickungen seiner Nachfahren. Zum Grünen Hügel reiste man nicht, man wallfahrte. Ohne Beziehungen oder eine höhere Funktion in einer der über den Globus verteilten Richard-Wagner-Verbände musste man fast ebenso lange auf eine Eintrittskarte warten wie ein DDR-Bürger auf seinen Trabi. Und dann musste man auf einem ungepolsterten Klappsitz im unklimatisierten Festspielhaus Platz und in der Pause mit fränkischen Bratwürsten in der Semmel vorlieb nehmen. Doch man konnte sagen: Ich war dabei gewesen.
Spätestens in diesem Jahr dürfte der Mythos zerbröselt sein, vielleicht endgültig. Dafür verantwortlich ist in erster Linie Katharina Wagner, Urenkelin des Komponisten und Ururenkelin von Franz Liszt, seit 2015 auf Wunsch ihres 2010 verstorbenen Vaters Wolfgang Wagner und mit staatlicher Protektion alleinige Leiterin der Richard-Wagner-Festspiele. Selbst eine eher mittelmäßige Regisseurin und eine noch mittelmäßigere Intendantin von bemerkenswerter intellektueller Schlichtheit, engagierte sie einen erst 33 Jahre alten, österreichischen Regie-Jungspund namens Valentin Schwarz und vertraute ihm mit dem vierteiligen „Ring des Nibelungen“ – Gesamtaufführungsdauer 16 Stunden – sogleich das umfangreichste und inhaltlich komplexeste Werk des gesamten Opernrepertoires an, das dieser dann erwartungsgemäß und spektakulär in den Sand setzte.
Zu Katharina Wagners Entschuldigung mag anzuführen sein, dass Schwarz angeblich nicht erste, sondern dritte Wahl war und zahlreiche Absagen die Entstehungsgeschichte des neuen Bayreuther „Rings“ überschatteten. So musste zehn Tage vor Festspielbeginn der eigentlich nur für den „Tristan“ vorgesehene Dirigent Cornelius Meister auch den gesamten „Ring“ schultern, weil der ursprünglich vorgesehene finnische Kapellmeister Pietari Inkinen an Corona erkrankte. Coronabedingt gibt es dieses Jahr zudem zwei Orchesterbesetzungen, was einem musikalischen Ergebnis aus einem Guss ebenfalls nicht förderlich ist.
Ein szenischer und großenteils auch musikalischer Totalschaden
Während der Premiere der „Walküre“, dem zweiten Teil des Nibelungenrings, brach dann noch die Rückenlehne eines Sessels, in den sich Göttervater Wotan hineinzuwerfen hatte. Der polnische Bass Tomasz Konieczny verletzte sich dabei und musste seinen Auftritt abbrechen, ein Vorfall, der allenthalben als Menetekel angesehen wurde. Er selbst war schon für den Österreicher Günther Groissböck eingesprungen, der die Rolle vor einem Jahr zurückgegeben hatte. Als Folge der monatelangen Stilllegung des Kulturlebens durch Corona fühle er sich nicht auseichend für sein Rollendebüt präpariert, sagte Groissböck, der selbst als heftiger Kritiker der Corona-Maßnahmen angesehen werden kann, die im Bayreuther Festspielhaus besonders rigide gehandhabt wurden. Als das Ring-Unheil schon lief, erkältete sich „Siegfried“ Stephen Gould, die Zweitbesetzung der Rolle ließ sich während der Festspiel zum vierten Mal „impfen“ und vertrug das nicht, was eine erneute Umbesetzung in letzter Minute erforderte.
Es kam, wie es kommen musste: Das Desaster, das nun am am Freitag, dem 5. August mit der „Götterdämmerung“ seinen unrühmlichen Abschluss fand, stellte alles in den Schatten, was sich bisher an Skandalen und Pleiten auf dem Grünen Hügel ereignet hatte. Und der Buhsturm, der durchs Festspielhaus tobte, toppte locker jenen, den Frank Castorfs „Ring“-Deutung von 2013 heraufbeschworen hatte, wobei Castorf zweifellos ein ganz anderes Kaliber darstellt als Schwarz. Fast wäre es, glaubt man den Berichten aus dem Bayreuther Tollhaus, unter den (sehr) vielen Gegnern und (sehr) wenigen Befürwortern der Inszenierung zu einer Saalschlacht gekommen. Auch die professionelle Musikkritik, die sich gerne als Antipode und Korrektiv des Publikumsgeschmacks sieht, war sich einig wie selten: Dieser „Ring“ ist ein szenischer und großenteils auch musikalischer Totalschaden und selbst in der berühmten Bayreuther „Werkstatt“, in der jede Inszenierung als stets wandelbares und verbesserungsfähiges „work in progress“ angesehen wird, nicht mehr zu reparieren.
Der Autor dieser Zeilen war glücklicherweise nicht unmittelbarer Zeuge dieser Bühnenkatastrophe. Besprechungen ist zu entnehmen, dass Schwarz in Anbiederung an die unsteten und assoziativen Sehgewohnheiten der Netflix-Generation dem „Ring“ alles Überzeitliche, jeden Mythos ausgetrieben hat. Alles, was den Zyklus auf der symbolisch-metaphysischen Ebene konstituiert und in Wagners berühmten Leitmotiven immer wieder aufscheint, mal plakativ unterstreichend, mal retrospektiv, mal vorwegnehmend, wurde im Sinne des Ewigheutigen getilgt. Wotans Speer ebenso wie Siegfrieds Schwert, Tarnhelm und Drache ohnehin. Der „Ring“ ist ein unflätiges Kind, das im Kinderhort die Mädchen tyrannisiert, und Grane, das heilige Ross, mit dem Brünnhilde am Ende der „Götterdämmerung“ in den Welterlösungstod springt, ein Bodyguard im Hause Gibichungen des Rockstars Gunther, der ein T-Shirt mit der Aufschrift „Who the fuck is Grane“ trägt.
Kruder Wirrwarr ohne Beispiel
Wagners großes Götter- und Menschheitsdrama wird reduziert auf die Befindlichkeiten einer toxischen Großfamilie, in der es offenbar zugeht wie bei Hempels unterm Sofa oder bei den Geissens, der so „schrecklich-glamourösen“ RTL-Fernsehfamilie. Einen so kruden Wirrwarr habe er in 30 Ringen zuvor nicht gesehen, meinte ein alt gedienter Rezensent und empfahl einen Beipackzettel. Wobei längst viele, wenn nicht die meisten neuen Operninszenierungen nicht mehr aus dem Bühnengeschehen heraus zu verstehen sind, sondern bestenfalls nach intensiver Lektüre des Programmheftes. Eigentlich eine Todsünde des Bühnenhandwerks.
Es lohnt sich nicht, den kruden Ideen eines sich entweder selbst überschätzenden oder heillos überforderten und möglicherweise nur mangelhaft (aus)gebildeten Regisseurs weiter nachzuspüren und dem von ihm verzapften Unsinn doch noch so etwas wie Kohärenz abzugewinnen. Viel lohnender wäre es, der Frage nachzugehen, wie es weitergehen soll auf den Opernbühnen, in Bayreuth und anderswo. Die Dekonstruktivisten sind erkennbar mit ihrem Latein am Ende, denn mittlerweile beginnen sie damit, Stücke zu zertrümmern, die sie selbst nicht mehr interessieren und die es im kollektiven Bewusstsein großer Teile des Publikums gar nicht mehr gibt. Allein die Musik hält hier den Laden noch zusammen, wobei sich immer beängstigendere Inkongruenzen zwischen Musik, Text und Szene auftun, die auch von handwerklich versierteren Regisseuren wie Valentin Schwarz nicht mehr miteinander in Einklang zu bringen sind.
Erl am Inn: Es geht auch anders!
Vielleicht sollte man die großen Festivals und „Tempel“ der Pflege des musiktheatralischen Kulturerbes einfach eine Zeitlang meiden. Im kleinen Tiroler Festspielort Erl am Inn nahe Kufstein gab es dieses Jahr ebenfalls Richard Wagners „Walküre“ zu sehen, in einer Inszenierung der früheren Sängerin und Intendantin des Tiroler Landestheaters Innsbruck, Brigitte Fassbaender, die dort nach und nach den gesamten „Ring“ auf die Bühne bringt. In dem ob seiner Akustik berühmten Erler Passionsspielhaus erzählte sie das Stück schnörkellos, textgetreu und mit manch klugen Details, welche die komplexen Beziehungen der handelnden Personen und deren überzeitliche Deutung unmittelbar verständlich machen. Dazu spielte ein inspiriertes Festspielorchester, bestehend großenteils aus osteuropäischen Musikern, unter der Leitung eines Dirigenten, der, wie die zumeist fabelhaften Sängerinnen und Sänger, nur Eingeweihten ein Begriff sind.
Man mag Fassbaenders unspektakuläre und handwerklich solide Deutung (die eigentlich keine „Deutung“ ist) brav, altbacken oder biedermeierlich nennen. Aber der Wechsel revolutionärer und restaurativer Epochen in der Geistesgeschichte ist etwas völlig normales. Manchmal braucht es den Rückgriff auf eine vermeintlich „gestrige“ Sicht, um innezuhalten, sich der eigenen kulturellen Errungenschaften vergewissern und irgendwann vielleicht neu ansetzen zu können.
Nein, es braucht kein Bayreuth (mehr), um selbst Ausnahmewerke wie den „Ring“ in höchst beachtlichen, manchmal sogar exemplarischen Aufführungen geboten zu kommen. Und zwar ohne den Druck, zwanghaft Sensationen bieten zu müssen, die Politiker, meist kulturelle Analphabeten, dazu motivieren sollen, weiterhin staatlich Subventionen fließen zu lassen und mediokre Gestalten wie Wagners Urenkelin im Amt zu halten. Nächstes Jahr soll es auf dem Grünen Hügel einen neuen „Parsifal“ in „augmented reality“ mit 3-D-Brillen für die Zuschauer geben – ein ähnlicher Versuch war schon vor Jahren an der Bayerischen Staatsoper gescheitert.
Auf in die Provinz!