Jedes Jahr pilgern etliche Menschen zum Salzburger Domplatz, erstehen für beträchtliches Geld eine Karte, um seiner teilhaftig zu werden. Die Rede ist vom „Jedermann“, der inzwischen bedroht scheint.
Er ist das pièce de resistance des deutschsprachigen Theaters, schlechterdings unkaputtbar, wenn auch das Publikum traditionell in zwei feindliche Lager spaltend. Die einen finden ihn banal, bigott, kitschig, einfach unmöglich, die anderen pilgern jedes Jahr aufs Neue zum Salzburger Domplatz, erstehen für beträchtliches Geld eine Karte, so es noch eine gibt, und werfen sich in edles Trachtengewand, um seiner teilhaftig zu werden. Die Rede ist vom „Jedermann“, jenem „Spiel vom Sterben des reichen Mannes“, mit dem die Salzburger Festspiele alljährlich seit 101 Jahren ihren Auftakt nehmen. Festspiele ohne die berühmten Jeeedeeeermaaaan-Rufe über den Dächern der Stadt? Kaum vorstellbar. Oder kriegen sie ihn doch klein, den Kraftlackel, den beim Festbankett der Tod ereilt und dem vom Sensenmann gnädig eine Stunde Frist gewährt wird, in der „Jedermann“ seine Lebensbilanz ein wenig aufhübschen darf, bevor er, zum Glauben bekehrt, als reuiger Sünder vor die Schranken seines göttlichen Richters tritt.
Während in deutschsprachigen Theatern landauf, landab kaum noch ein Stück im Original zu sehen ist und selbst Shakespeare, wenn überhaupt, nur noch in Adaptionen, Kompilationen oder medienwirksame Rekorde verheißenden „Theatermarathons“ auf die Bühne kommt (wie auch dieses Jahr bei den Festspielen), hielt sich der „Jedermann“ bislang recht tapfer in jener Gestalt, die ihm einst Hugo von Hofmannsthal gegeben hatte. Über das Sujet und die pseudo-mittelalterlichen Verse kann man geteilter Meinung sein. Aber wenn man sich erst mal an den gestelzten Duktus gewöhnt hat und die etwas überspannte Gläubigkeit des zum Katholizismus konvertierten Juden Hofmannsthal, wird man feststellen, dass das Stück seine Qualitäten hat und sogar den einen oder anderen Gänseschauermoment bereit hält, bis man beim finalen Absacker im nahen Peterskeller etwa aufkommende Lebenszweifel wieder herunterspülen kann.
Doch auch das Schlachtross „Jedermann“ schwebt in akuter Gefahr. Das Unglück namens Dekonstruktion und Genderismus pirscht sich schleichend wie der Tod aus den Katakomben des Salzburger Domes heran. Erstmals rüttelte Christian Stückl, Spielleiter der Oberammergauer Passionsspiele und Intendant des Münchner Volkstheaters, an der aus Max Reinhardts Zeiten überlieferten Gestalt des „Mysterienspiels“. Er sorgte von 2002 bis 2012 für eine durchaus notwenige Entschlackung und Dynamisierung des bis dato recht statischen Spiels, das vor allem von den großen (weißen) Männern des Theaters lebte: Curd Jürgens, Klaus-Maria Brandauer, Will Quadflieg, Helmut Lohner, Gert Voss, Peter Simonischek. An ihrer Seite irgendein vollbusiges Prachtweib, Buhlschaft genannt, die vielleicht bekannteste Nebenrolle der Welt. Vom Genderstandpunkt natürlich unmöglich, aber in Salzburg gingen die Uhren lange Zeit ein wenig vor.
„Operation am Herzstück“
Erste Zerfallserscheinungen kündigten sich an, als mit Brian Mertes und Julian Crouch 2013 ein angelsächsisches Regisseur-Duo mit einer Neuinszenierung des Stoffes betraut wurde und der „Tod“ als androgynes, etwas tuntiges Mischwesen in Stöckelschuhen in Erscheinung trat. Mit dem genialen Peter Lohmeyer ließ man sich die inszenatorische Extravaganz, theatralischer Vorbote der Transmenschen-Mode, aber noch gerne gefallen. Die Rolle avancierte zum Kult und stellte sogar die (noch recht jugendlich wirkenden) Jedermänner Nicholas Ofczarek und Cornelius Obonya in den Schatten, die an die rhetorische Brillanz von Peter Simonischek, dem am längsten amtierenden und vielleicht letzten „echten“ Jedermann, nie heranreichten.
Als 2017 Tobias Moretti die Titelrolle übernahm, wurde alles anders. Der österreichische Regisseur Michael Sturminger warf sämtliche Traditionen über den Haufen und machte aus dem behäbigen Spiel einen extrem diesseitigen, technisch aufwändigen Action-Thriller für die Videoclip-Generation. Sogar vor den berühmten „Jedermann“-Rufen, die immer während des Festbanketts von den umgebenden Kirchtürmen und von der Festung Hohensalzburg erschallen und „Jedermann“ das Nahen des Todes verkünden, machte er nicht halt. Sturminger setzte sie als Prolog an den Beginn des Stückes, was der Schlüsselszene der Todesverkündigung jede metaphysische Wucht raubte. Jetzt litt der „Jedermann“ nicht mehr an seinem gottlosen Lebenswandel, sondern an einem Gehirntumor, der ihn auf Intensiv brachte, umzuckt von grünlichen EEG-Linien. Seine finale Bekehrung wirkte in diesem ultraprosaischen Ambiente noch unglaubwürdiger als sonst.
Als Moretti nach vier mittelprächtigen Jahren abtrat, wurde für 2021 eine komplette Neubesetzung des Stückes nötig mit Lars Eidinger als erstem „Jedermann“ des Social-Media-Zeitalters. Ungewöhnlicherweise darf Sturminger sich zum zweiten Mal hintereinander an einer Neuinterpretation versuchen. Es soll, wie vorab durchsickerte, eine auch Corona geschuldete Sparversion werden, wenig Technik, wenig Glamour. Vielleicht eine Atempause, bis den „Jedermann“ endgültig das Fegefeuer des Zeitgeistes ereilt. Sturminger ließ in einem Interview durchblicken, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis auch die Titelrolle von einer Frau verkörpert werde. Sogar ein Transsexueller wäre denkbar, wenn eine Regisseurin oder ein Regisseur „eine Idee dafür habe“. Worauf man sich verlassen kann, auch wenn es nur die Idee einer angeblich fluiden Geschlechtlichkeit ist.
Ab in die Genderhölle
Die Festung Buhlschaft ist schon seit ein paar Jahren geschleift. Das letzte ernstzunehmende „Weib“ war Veronika Ferres an der Seite von Simonischek. Seither wurden die Haare der Damen kürzer, die Busen flacher und die Kostüme, um die im Vorfeld immer ein großes Gewese gemacht wurde, unauffälliger. Caroline Peters, die im vergangenen Jahr die Buhlschaft spielte, war in der Rolle so unsinnlich wie jene Kriminaloberkommissarin Sophie Haas, die sie in der Krimiserie „Mord mit Aussicht“ mimte. Heuer gibt die Salzburgerin Verena Altenberger die Buhle – mit raspelkurzen Haaren, sie hatte sich, wie es heißt, für die Rolle einer Krebskranken eine Glatze schneiden lassen.
So wie sich die Frauen aus dem „Jedermann“ verabschieden, greift das Feminat weiter um sich: Mit Edith Clever, an deren schauspielerischer Befähigung kein Zweifel besteht, verkörpert eine Frau zum zweiten Mal nach Tatort-Ermittlerin Ulrike Folkerts, die Rolle des Todes, was funktionieren könnte, weil der Tod nicht notwendigerweise männlich sein muss. Doch Mavie Hörbiger, Enkelin von Ufa-Star Paul Hörbiger, als erster weiblicher Teufel? Bislang war der Auftritt des Teufels, der sich an „Glauben“ und „Werken“ die Zähne ausbeißt und den „Jedermann“ nicht zu fassen bekommt, immer komödiantischer Höhepunkt des Spiels. Doch ein Teufel ist heute natürlich nicht mehr vermittelbar, der auf „Weiber“ schimpft, machohaft mit seinem Schweif wedelt und seinen rechtmäßigen Anspruch auf die Seele des „Jedermann“ selbst gegen Völker ohne vermaledeiten Christengott verteidigt: „Türken, Mohren und Chinesen.“
Klarer Fall für #MeToo und die Cancel Culture. Ab in die Genderhölle mit ihm!