Chaim Noll / 03.03.2019 / 06:29 / Foto: dissidenten.eu / 64 / Seite ausdrucken

Bärbel Bohley: Die Frau, die es voraussah

Ich habe mich immer gern erinnert. Schon als Kind. Mit jedem Jahr sammelt sich mehr Erinnernswertes an. Viele, an die ich denke, leben nicht mehr. In mir sind sie lebendig. Falls ihr mich hört, ihr Entschwundenen: Verlasst euch drauf, ich denke an euch. Gestern, beim Pflanzen in meinem Wüsten-Garten, erinnerte ich mich an Bärbel Bohley. Muss ich erklären, wer sie war? Sie ist 2010 gestorben, zu jung, kaum 65 Jahre alt. Vor dreißig Jahren, als die DDR unterging, kannte sie jeder. Ich erinnere mich, wie wir im Herbst '89 bei Freunden in der Schweiz, auf der Durchreise von Rom nach Berlin, die Fernseh-Nachrichten sahen – gerade war Honecker abgesetzt worden – und wie im Schweizer Fernsehen von Bärbel die Rede war wie von einer Instanz. Sie galt als Ikone der Bürgerrechtsbewegung. Doch zu einer Stellung im Nach-Wende-Deutschland kam es nicht, da stiegen andere auf, Mädchen, die bis zuletzt brav mitgemacht hatten. Bärbels Name stand für eine lange Vorgeschichte von Ungehorsam und Rebellion. Es lag in der Natur des westdeutschen Parteiensystems, dass im vereinigten Deutschland nicht Leute wie sie, sondern die Mitläufer hochkamen, die Angepassten. Als „Kohls Mädchen“ wäre Bärbel Bohley nicht geeignet gewesen. Da fanden sich Andere, Geschicktere.

Im Frühjahr 1991 habe ich Bärbel Bohley zum letzten Mal gesehen. Wir gingen nach einer Fernseh-Sendung, in der sie mich heftig angegriffen hatte, zum Essen in ein italienisches Restaurant nahe dem Gebäude des Senders Freies Berlin in der Masurenallee. Katja Havemann war dabei, die Witwe des berühmten Dissidenten, und der West-Berliner Schriftsteller Peter Schneider. Die Diskussion nach dem Essen, bei einer Flasche Wein, war fulminant. Bärbel konfrontierte uns mit ihren, wie wir fanden, naiven Vorstellungen von einer besseren politischen Ordnung nach der Wende. Sie war gegen die sofortige Auflösung der DDR, sie plädierte für eine Übergangszeit, in der beide deutsche Staaten in guten Beziehungen, aber noch getrennt, koexistieren sollten, im Osten schwebte ihr etwas vor wie eine Regierung des Runden Tischs. Der Runde Tisch war ein provisorisches Gremium, in dem Vertreter aller möglichen oppositionellen Gruppen zusammenkamen und diskutierten. Peter Schneider und ich hielten diese Runde für nicht regierungsfähig. „Ihr blickt nicht durch“, sagte sie. „Typisch westliche Arroganz.“

Wir verstanden wirklich manches nicht. Ich beschäftigte mich damals, im Rahmen eines Forschungsprojekts an der Freien Universität, mit den Akten des DDR-Schriftstellerverbands und war entsetzt über die lückenlose Überwachung und Bespitzelung, die schon im Keim erstickte Meinungsfreiheit, die „innere Zensur“, der sich die Schreibenden unterworfen hatten und die – der heutigen political correctness vergleichbar – bereits die Wege ihres Denkens auf ungesunde Weise lenkte und behinderte. Ich konnte nachverfolgen, wie Regulierung von Sprache, Themen, Meinungen ihre Rückwirkung nimmt auf die Psyche. Wie Menschen daran krank werden. Ich nannte es „Stacheldraht im Gehirn“.

„Das ständige Lügen wird wiederkommen“

Sofort war Übereinstimmung hergestellt. Und nun sagte sie etwas, was ich nie vergaß. „Alle diese Untersuchungen“, sagte sie, „die gründliche Erforschung der Stasi-Strukturen, der Methoden, mit denen sie gearbeitet haben und immer noch arbeiten, all das wird in die falschen Hände geraten. Man wird diese Strukturen genauestens untersuchen – um sie dann zu übernehmen.“

Als wir verblüfft schwiegen, fuhr sie fort: „Man wird sie ein wenig adaptieren, damit sie zu einer freien westlichen Gesellschaft passen. Man wird die Störer auch nicht unbedingt verhaften. Es gibt feinere Möglichkeiten, jemanden unschädlich zu machen. Aber die geheimen Verbote, das Beobachten, der Argwohn, die Angst, das Isolieren und Ausgrenzen, das Brandmarken und Mundtotmachen derer, die sich nicht anpassen – das wird wiederkommen, glaubt mir. Man wird Einrichtungen schaffen, die viel effektiver arbeiten, viel feiner als die Stasi. Auch das ständige Lügen wird wiederkommen, die Desinformation, der Nebel, in dem alles seine Kontur verliert.“

An diese Sätze denke ich oft. Wir haben bald nach diesem Abend Berlin verlassen, sind nach Israel gegangen. Ich habe noch ein paarmal mit Bärbel telefoniert, ich konnte ihr helfen, einen guten Anwalt zu finden zur Abwehr der Gerichtsverfahren, Klagen und Einstweiligen Verfügungen, mit denen sie überschwemmt wurde – langwierige, kostspielige Prozesse, die ihr sehr geschadet haben. Für sie war das Leben im Westen kein Aufatmen. Sie hatte sich, in den kurzen Monaten der Euphorie, der Hoffnung und der Wahrheit, die auf den Fall der Mauer folgten, eine Offenheit angewöhnt, ein lautes Aussprechen unliebsamer Gedanken, die sie auch im Westen zur Unperson machten.

Ich denke oft an sie. Wenn ich davon lese, wie seltsame Einrichtungen, sagen wir: die von der deutschen Regierung finanzierte Amadeu Antonio Stiftung, das Beobachten von Kindergarten-Kindern suggerieren, wie die Vorsitzende dieser Stiftung, unsere alte Ost-Berliner Bekannte Netty, mit ihren Mitarbeitern Listen zusammenstellt, in denen Unliebsame, unter dem Vorwand eines „Kampfes gegen rechts“ oder der Prävention gegen „Rassismus“, namhaft gemacht, zur Ausgrenzung empfohlen, stigmatisiert werden – dann denke ich an Bärbel Bohley. An ihre prophetischen Worte vor fast dreißig Jahren.

Foto: dissidenten.eu

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Leserpost

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Jürgen F. Matthes / 03.03.2019

Als Mauerflüchtling, in Westberlin von der STASI verfolgt, erlebe ich, daß diese Bande nach der Wiedervereinigung immer noch oder immer wieder aktiv ist. Dank einer STASI Unterlagenbehörde, die unfähig, unwillig oder gar unterwandert ist, um Aufklärung zu betreiben und den Opfern Gerechtigkeit zu verschaffen. So unterbleibt „die gründliche Erforschung der Stasi-Strukturen, der Methoden, mit denen sie gearbeitet haben und immer noch arbeiten, all das wird in die falschen Hände geraten. Man wird diese Strukturen genauestens untersuchen – um sie dann zu übernehmen.“ Das sagte Bärbel Bohley voraus. Angesichts vieler Aufrichtiger, die in den Jahren nach der Wende plötzlich an Krebs erkrankten und starben beschleicht mich eine Ahnung…. Vor allem, weil Ines Geipel jüngst unmißverständlch darauf hinwies, daß die STASI im Westen und im Osten ihren Gegner nach dem Leben trachtete.

Ingolf Pärcher / 03.03.2019

„Das ständige Lügen wird wiederkommen“. Pfeilgrad so ist es. Man denke nur an die Situation von 89/90, welche Chancen sich für die Welt da eigentlich eröffnet hatten. Aber wenn’s der Kuh zu wohl ist, geht sie auf’s Eis.

Andi Laufer / 03.03.2019

Wahrhaft prophetische Worte! Ich stamme zwar nicht aus der DDR, aber ich glaube nicht, daß das misstrauische Beobachten, das Ausgrenzen, das mundtot machen von Andersdenkenden von der breiten Bevölkerung befürwortet, getragen und praktiziert wurde. Dies zu tun war das Privileg der Stasi, ihrer Mitläufer und der Parteigläubigen. Was es heute so unerträglich macht, ist, daß dieser Umgang mit Andersdenkenden von der breiten Masse nicht nur gebilligt und gutgeheissen, sondern auch unterstützt und praktiziert wird: ein Umfeld, in dem diese Haltung wohl gedeihen kann. Die Saat ist aufgegangen!

Karla Kuhn / 03.03.2019

“Heute, nach über 30 Jahren, muss ich ihr hellseherisches Talent attestieren” “Auch das ständige Lügen wird wiederkommen, die Desinformation, der Nebel, in dem alles seine Kontur verliert.“ Bärbel Bohley saß an der Quelle, dazu brauchte sie kein hellseherisches Talent, sondern nur ihren gesunden Menschenverstand !! So wie “Aufarbeitung” der Nazizeit im Westen geschen ist, konnte sich JEDER vorstellen, wie die Stasi Aufarbeitung vonstatten gehen würde.  ” Doch zu einer Stellung im Nach-Wende-Deutschland kam es nicht, da stiegen andere auf, Mädchen, die bis zuletzt brav mitgemacht hatten” (VIEL zu freundlich ausgedrückt !) Die Wendehälse hatten anscheinend keinen Skrubel das “rote Kostüm” für ein “Schwarzes” zu tauschen. Merkel als ehemalige Agit Propagandistein, die so schnell in der SPD nicht nach oben kommen konnte (s. Artikel von Vera Lengsfeld) konnte unproblematisch in der CDU, im Kaninett Kohl als Bundesministerin für Frauen und Jugend und dananch als Umweltministerin ( Die Asse ist heute noch ein Thema!!) Karriere machen. Ich verzeihe Kohl NIE, daß er diese Frau in sein Kabinett geholt hat. Wie sie es ihm “gedankt” hat, konnte man bei einer Pressekonferenz sehen. Trotzdem wurde diese Frau 2005 gewählt, was ich NIE verstehen werde.  Ich kann mir nicht vorstellen, daß Frau Bohley in der Westpolitik glücklich geworden wäre.  Menschen, die immer wieder den Finger in die Wunde legen u. a. wie Vera Lengsfeld, haben es schwer, nicht nur in der Politik. Aber es ist gut, daß sie es gibt und sie werden vom GG gedeckt ”  Ich war auch für eine Übergangslösung, da wäre uns VIEL erspart geblieben !!

Gidon David / 03.03.2019

Lieber Chaim Noll, welch treffende Analyse und welche Weitsicht einer auf ewig bewundernswerten und bis zur Selbstaufopferung sich selbst treu gebliebenen, aufrichtigen Frau. Wie wir sehen, folgt die Geschichte ihren eigenen Naturgesetzen und wiederholt sich mit unschöner Regelmäßigkeit. Kassandra gleich, wurde auch Bärbel Bohley zur tragischen Heldin, die präzise unser Unheil vorhersagte, jedoch leider kein Gehör fand. Warum nur erinnern mich Ihre Zeilen an Georg Büchners Drama “Dantons Tod” und die darin verewigten letzten Worte Pierre Vergniauds auf dem Schafott: „Citoyens, il est à craindre que la révolution, comme Saturne, ne dévore successivement tous ses enfants et n’engendre enfin le despotisme avec les calamités qui l’accompagnent.“ (“Bürger, es steht zu befürchten, dass die Revolution, wie Saturn, sukzessive all ihre Kinder verschlingt und schlussendlich Despotie erzeugt, mit allem begleitenden Ungemach.”) Sagen Sie Bescheid, falls noch eine Parzelle “Wüsten-Garten” neben Ihnen frei ist… Seien Sie gesund! Shavua tov! Gidon David

Lars Schweitzer / 03.03.2019

Frau Bohley war wohl wirklich eine Visionärin. Kein Wunder, dass sie heute fast vergessen ist - oder sollte man lieber verschwiegen sagen? Auch noch aktive Akteure von damals wie Frau Lengsfeld werden marginalisiert und diffamiert. Vermutlich hat die Stasi gewonnen. Wir Westler waren schön doof, uns das unterjubeln zu lassen. Da wir inzwischen schon eine Generation weiter sind, wirkt die Geschichtsklitterung bereits. Es bleiben einsame Mahner in der Wüste, die nichts mehr dagegen ausrichten können.

Marc Greiner / 03.03.2019

Zu diesem hervorragenden Artikel kann ich auch ein Buch empfehlen, von Tina Krone, 1999, “Eine Dokumentation; Sie haben so lange das Sagen, wie wir es dulden; Briefe an das Neue Forum September1989-März 1990”. Darin kann man den Zeitgeist der friedlichen Revolution in der DDR erkennen. Die Briefe waren an die Gründer des Neuen Forums gerichtet, zu denen auch Bärbel Bohley gehörte. Dieses Buch ist ein wichtiges, authentisches Zeitdokument. Im Titel steckt schon sehr viel Weissheit drinn: “SIE HABEN SO LANGE DAS SAGEN, WIE WIR ES DULDEN”! Das gilt auch für die heutige BRD/DDR. Wählt diese Freiheits- und Rechtsstaatfeindlichen-Politiker ab solange man das noch legal kann!

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