Von Ayaan Hirsi Ali.
Präsident Trump erkennt die Notwendigkeit eines ideologischen Kampfes gegen den „radikalen Islam“. Dies ist eine wohltuende Einstellung, die Mut macht und einem Paradigmenwechsel gleichkommt. Präsident Bush hat häufig über den „Krieg gegen den Terror“ gesprochen, aber Terror ist bloß eine Taktik, die in den Dienst völlig unterschiedlicher ideologischer Ziele gestellt werden kann (siehe hier). Präsident Obama erklärte sich als Gegner von „gewaltbereitem Extremismus“ und organisierte sogar ein internationales Gipfeltreffen zu diesem Thema (siehe hier). Trotzdem erweckte er manches Mal den Eindruck, dass ihm eher die Islamophobie als der radikale Islam Sorgen bereitet. In einer Rede vor der UN-Generalversammlung 2012 stellte er fest: „Die Zukunft darf nicht denen gehören, die den Propheten des Islam beleidigen.“
Mein Gegenstand hier ist jedenfalls der politische Islam, nicht der radikale Islam. Der politische Islam ist nicht einfach eine Religion in dem Sinn, wie die Bürger der westlichen Welt das Wort „Religion“ im Sinne einer Glaubensgemeinschaft interpretieren. Es ist auch eine politische Ideologie, eine Rechtsordnung und in vielfältiger Weise auch eine mit den Feldzügen des Propheten Mohammed assoziierte Militärdoktrin (siehe hier sowie (1)). Der politische Islam lehnt jeglichen Unterschied zwischen Religion und Politik sowie Moschee und Staat ab, er lehnt sogar den modernen Staat zugunsten des Kalifats ab. Meine zentrale Aussage ist: Die Staatsordnung des politischen Islams ist grundsätzlich unvereinbar mit der Verfassung der USA und mit der „Verfassung der Freiheit“, die die Grundlage des american way of life ist.
Es ist sinnlos zu leugnen, dass der politische Islam als Ideologie in der islamischen Doktrin wurzelt (siehe hier). Dennoch bilden die Bezeichnungen Islam, Islamismus und Muslime einen jeweils unterschiedlichen Begriff ab. Nicht alle Muslime sind Islamisten, geschweige denn gewaltbereit, aber alle Islamisten (inklusive derjenigen, die Gewalt anwenden) sind Muslime. Ich glaube, dass der religiöse Islam reformiert werden könnte, und sei es, damit er klarer von der politischen Ideologie des Islamismus unterschieden werden kann. Aber dies muss die Aufgabe von Muslimen sein.
Mohammed: Vom spirituellen zum politischen Führer
Seit 9/11 begingen Politiker in den USA eine große Anzahl strategischer Fehler, weil sie darauf bestanden, dass radikale Islamisten nichts mit dem Islam zu tun haben. Einer dieser Fehler ist es, die Trennlinie zwischen einer winzigen Gruppe von Extremisten und der überwiegenden Mehrheit moderater Muslime zu ziehen. Ich ziehe es hingegen vor, zunächst zwischen Medina-Muslimen und Mekka-Muslimen zu unterscheiden. Für erstere ist die von Mohammed in Medina entwickelte militante politische Ideologie zentral, während für die zweite Gruppe Mohammeds religiöse Verkündungen aus seiner Zeit in Mekka im Mittelpunkt stehen. Eine dritte Gruppe sind Reformer, die einer wie auch immer gearteten muslimischen Reformation offen gegenüberstehen.
Diese Unterscheidungen sind historischer Natur. Die Entstehung des Islams verlief in zwei Phasen. Auf die mit Mekka assoziierte spirituelle Phase folgte die politische Phase, nachdem Mohammed von Mekka nach Medina gegangen ist. Es gibt einen profunden Unterschied zwischen den vorwiegend spirituellen Koran-Versen aus der Zeit in Mekka und denen aus der Zeit in Medina, die politischer und nicht selten auch militärischer Natur sind. Auch ist das Verhalten Mohammeds anders in Mekka, wo er ein spiritueller Prediger war, während er sich in Medina zu einer politisch-militärischen Führergestalt wandelte (2).
Es kann nicht oft genug betont werden, dass die USA sich nicht in einem Krieg gegen den Islam oder gegen Muslime befinden. Sie sind jedoch verpflichtet, gegen jene politischen Ansprüche von Medina-Muslimen Widerstand zu leisten, die eine unmittelbare Bedrohung für unsere bürgerlichen und politischen Freiheiten darstellen. Es besteht ebenfalls eine Verpflichtung, Mekka-Muslimen und Reform-Muslimen den gleichen Schutz zu gewähren wie Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften, die die Grundprinzipien eines freiheitlichen Staates akzeptieren. Dieser Schutz umfasst Maßnahmen gegen Einschüchterungstaktiken, die in der Ideologie und Praxis des politischen Islams eine zentrale Rolle spielen.
Der Westen zunehmend unter Bedrohung
Der Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten und dem politischen Islam geht auf spätestens 1979 zurück, als Angehörige der Islamischen Revolution die US-Botschaft in Teheran besetzten und 52 Amerikaner 444 Tage lang als Geisel hielten. In den darauf folgenden Jahrzehnten wurden Amerikaner durch die Bombenanschläge auf das World Trade Center (1993) sowie auf die Botschaften in Kenya und Tanzania (1998) erneut an die Bedrohung durch den politischen Islam erinnert. Aber erst die 9/11-Anschläge bewirkten eine anhaltende Aufmerksamkeit gegenüber dem Phänomen des politischen Islams als Ideologie. Die Inspiration für die Anschläge am 11. September 2001 war eine politische Ideologie, deren Wurzeln im Islam zu finden sind, genauer: in denjenigen Teilen des Islams, die in Medina entstanden sind.
Seit 9/11 belaufen sich die Kosten für Kampfeinsätze und Wiederaufbau in Irak, Syrien, Afghanistan und Pakistan auf mindestens 1.7 Billionen US-Dollar (siehe hier). Das Gesamtbudget für Kriege und die Innere Sicherheit zwischen 2001 und 2016 betrug mehr als 3.6 Billionen US-Dollar (siehe hier). Obwohl seit 9/11 mehr als 5.000 bewaffnete Militärangehörige (3) ihr Leben verloren und zehntausende von Soldaten verletzt wurden, wächst heute der politische Islam weltweit weiter. Für diesen Trend spricht nicht nur, aber vor allem, die wachsende Gewalt. Die Zahl jihadistischer Gruppen wächst, vor allem dort, wo der Staat schwach ist und Bürgerkriege wüten (Irak, Libyen, Somalia, Syrien und, nicht zu vergessen: in Nordnigeria). Der vom Islam inspirierte Terrorismus hat einen weltweiten Einfluss. Frankreich befindet sich in permanentem Ausnahmezustand, während die USA durch mehrere Terroranschläge erschüttert wurden (die Anschläge auf den Bostoner Marathon sowie in Fort Hood/Texas, San Bernardino/Kalifornien, Orlando/Florida und an der Ohio State University, um nur einige zu nennen).
Das schlimmste Terror-Jahr innerhalb der letzten 16 Jahre war 2014, mit 93 Ländern, in denen Anschläge verübt wurden und 32.765 Menschen, die ihr Leben verloren hatten. 2015 war das zweitschlimmste Jahr mit 29.376 Todesopfern. Im vergangenen Jahr (2016) gingen 74 Prozent aller Terror-Todesopfer auf das Konto von vier radikalislamischen Gruppen (der Islamische Staat, auch bekannt als ISIS, Boko Haram, die Taliban und al-Qaida) (4). Die schwerste Last jihadistischer Gewalt trägt die muslimische Welt selbst, aber auch der Westen ist unter zunehmender Bedrohung.
Die Ideologie hinter den Gewaltakten wird nicht beachtet
Wie verbreitet ist die jihadistische Bewegung weltweit? Allein in Pakistan, einem beinahe ausschließlich muslimischen Land, halten 13 Prozent der Befragten (das sind mehr als 20 Millionen Personen) Bombenanschläge oder andere Formen der Gewalt gegen zivile Ziele für gerechtfertigt, um den Islam gegen seine Feinde zu schützen.
Sehr verstörend ist die Tatsache, dass die Zahl der im Westen geborenen muslimischen Jihadisten stark zunimmt. Nach Schätzung der Vereinten Nationen waren im Jahr 2014 etwa 15.000 fremde Kämpfer aus mindestens 80 Ländern nach Syrien gereist, um sich den radikalen Jihadisten anzuschließen (5). Etwa ein Viertel von ihnen kam aus Westeuropa (siehe hier).
Das Erstarken des politischen Islams manifestiert sich nicht nur durch zunehmende Gewalt. Auch wenn Millionen für militärische Interventionen und Drohnenanschläge ausgegeben werden, wächst die ideologische Infrastruktur des politischen Islams in den USA weiter, einfach weil sich die Verantwortlichen nur auf Gewalt ausübende kriminelle Vereinigungen konzentrieren, ohne die Ideologie zu beachten, die diese Gewaltakte inspiriert.
Einer Schätzung zufolge sind 10-15 Prozent aller Muslime weltweit Islamisten (siehe hier). Bezogen auf über 1.6 Milliarden Muslime, oder anders ausgedrückt, auf 23 Prozent der Weltbevölkerung, bedeutet dies etwa 160 Millionen Einzelpersonen. Befragungen über die Einstellung zu Sharia in muslimischen Ländern legen nahe, dass die weltweite Unterstützung für islamistische Aktivitäten wahrscheinlich bedeutend höher sein dürfte als in der gerade erwähnten Schätzung (siehe hier).
Falscher Zugang zum Problem
In der Forschung gibt es zwei typische Zugänge bei der Frage, wie Politiker mit der Bedrohung durch den radikalen Islam umgehen sollten. In der einen Variante akademischer Literatur spielt Religion höchstens eine marginale Rolle. Autoren wie John Esposito, Marc Sageman, Hatem Bazian und Karen Armstrong sind überzeugt, dass die Kombination von Armut und korrupter politischer Führung der Verursacher islamischer Gewalt ist (siehe hier). Sie plädieren dafür, dass die USA und ihre Verbündeten diese Ursachen bekämpfen sollten. Für sie wäre die Beachtung religiöser Motivation im besten Fall irrelevant und im schlimmsten eine schädliche Ablenkung. Sie interessieren sich nicht für die Ideologie des politischen Islams und beschränken sich auf individuelle Gewaltakte, die in ihrem Namen verübt werden.
Die Ansichten einer zweiten Gruppe von Forschern gewinnen zunehmend an Bedeutung. Sie leiten die radikale Ideologie aus Theologie, Prinzipien und Konzepten des Islams ab und sehen diese als treibende Kraft hinter der misslichen Lage. Forscher wie Daniel Pipes, Jeffrey Bale und David Cook sowie Autoren wie Paul Berman und Graeme Wood erkennen an, dass Armut und schlechte Führung relevant sind, betonen aber, dass die Politik der USA die der islamistischen Gewalt zugrundeliegende religiöse Ideologie ernst nehmen sollte (6).
Die im Kampf gegen den radikalen Islam erfolglosen Strategien seit 9/11 (und bereits davor) beruhen auf falschen Prämissen, bereitgestellt durch den oben erwähnten ersten Zugang zum Problem, der den Islam von jeglicher Beeinflussung der (durch ihn inspirierten) Gewalt freispricht. Als das Scheitern der Strategie der USA seit 2001 zunehmend klar wurde, wuchs die Einsicht, dass, wenn wir erfolgreich sein wollen, die Ideologie, die zur Gewalt führt, bekämpft werden muss (siehe hier).
Diese Betrachtungsweise ist keineswegs bloß unter westlichen Forschern verbreitet. Heute gibt es überall auf der Welt Muslime, die sich für die längst fällige Überprüfung des Gedankenguts, des Schrifttums sowie der Gesetzgebung des Islams engagieren, mit dem Ziel, ihn zu reformieren. Reform-Muslime findet man in führender politischer Funktion in Regierungen, an Universitäten, in den Medien und anderswo (7). Sie sind unsere natürlichen Verbündeten. Ein wichtiger Teil zukünftiger Strategien für den Kampf gegen den islamischen Extremismus sollte es sein, diese Menschen zu ermutigen und zu stärken.
Auszug aus dem 2017 erschienenen Buch „The Challenge of Dawa. Political Islam as Ideology and Movement and How to Counter It” von Ayaan Hirsi Ali. Übersetzung: Anna Fuhrmann.
First published as “The Challenge of Dawa: Political Islam as Ideology and Movement and How to Counter It” by the Hoover Institution Press, Stanford University, Stanford, California, U.S.A.“ © 2017 Copyright by the Board of Trustees of the Leland Stanford Junior University.
Ayaan Hirsi Ali ist Politikwissenschaftlerin, derzeit als Research Fellow an der Hoover Institution der Stanford University. Von 2003 bis 2006 war sie Mitglied des niederländischen Parlaments. Im Parlament konzentrierte sie sich auf die Förderung der Integration nichtwestlicher Einwanderer in die niederländische Gesellschaft und die Verteidigung der Rechte muslimischer Frauen. Für ihr Wirken wurde sie mit zahlreichen Auszeichnungen und Preisen geehrt. Sie hat mehrere Bücher geschrieben, darunter Infidel (2007), Nomad: from Islam to America, a Personal Journey through the Clash of Civilizations (2010) and Heretic: Why Islam Needs a Reformation Now (2015).
Anmerkungen
(1) Ahmad ibn Naqib al-Misri Reliance of the Traveller: A Classic Manual of Islamic Sacred Law, trans. Nuh Ha Mim Keller (Beltsville, MD: Amana Publishers, 1997); Crone, “Traditional Political Thought”; David Cook, Understanding Jihad.
(2) In den frühen Tagen des Islam, als Muhammad von Tür zu Tür ging, um die Vielgottgläubigen zu überzeugen, ihre Götzen nicht mehr anzubeten, lud er sie ein zu glauben, dass es keine anderen Götter neben Allah gäbe und dass er selbst Allahs Bote sei, ähnlich wie Christus, der die Juden überzeugen wollte, dass er Gottes Sohn ist. Nach zehn Jahren religiöser Überzeugungsarbeit gingen Muhammad und seine Jünger nach Medina und von da an nahm Muhammads Mission eine politische Dimension an. Ungläubige wurden weiterhin eingeladen, sich Allah zu unterwerfen, aber in Medina wurden sie angegriffen, wenn sie es ablehnten. Juden und Christen konnten ihren Glauben behalten, wenn sie bereit waren, als Zeichen ihrer Erniedrigung eine spezielle Abgabe (jizya) zu zahlen. Jene, die hierzu nicht bereit waren, mussten mit der Todesstrafe rechnen.
(3) Department of Defense, Tabellen mit Daten zu den Todesopfern in den militärischen Operationen Iraqi Freedom, New Dawn, Enduring Freedom, Inherent Resolve und Freedom’s Sentinel, 2016, http://www.defense.gov/casualty.pdf.
(4) Institute for Economics and Peace, 2016 Global Terrorism Index, 4
(5) UN Security Council, “In Presidential Statement, Security Council Calls for Redoubling Efforts to Target Root Causes of Terrorism as Threat Expands, Intensifies,” news release., November 19, 2014, http://www.un.org/press/en/2014/sc11656.doc.htm. See also Spencer Ackerman, “Foreign Jihadists Flocking to Syria on ‘Unprecedented Scale’—UN,” The Guardian, October 30, 2014, http://www.theguardian.com/world/2014/oct/30 /foreign-jihadist-iraq-syria-unprecedented-un-isis.
(6) Cook, Understanding Jihad; Michael Cook, “How and Why Muhammad Made a Difference,” Pew Forum’s Biannual Faith Conference on Religion, Politics, and Public Life, May 22, 2006, http://www.pewforum.org/2006/05/22/how-and-why-muhammad-made-a -difference; Michael Cook, Ancient Religions, Modern Politics: The Islamic Case in Comparative Perspective (Princeton, NJ: Princeton University Press, 2014); Bale, “Islamism and Totalitarianism”; Paul Berman, Terror and Liberalism (New York: W.W. Norton, 2004); Daniel Pipes, “The Danger Within: Militant Islam in America,” November 1, 2001, http://www.commentarymagazine.com/articles/the-danger-within-militant -islam-in-america; Graeme Wood, “What ISIS really wants,” Atlantic, March, 2015, http://www.theatlantic.com/magazine/archive/2015/03/what-isis -really-wants/384980.
(7) Beispiele: Zuhdi Jasser, Saleem Ahmed, Nonie Darwish, Wafa Sultan, Saleem Ahmed, Ibn Warraq, Asra Nomani, and Irshad Manji, all in the United States; plus Maajid Nawaz (United Kingdom), Samia Labidi (France), Afshin Ellian (Netherlands), Yassin Elforkani (Netherlands), Naser Khader (Denmark), Seyran Ates (Germany), Yunis Qandil (Germany), Bassam Tibi (Germany), Raheel Raza (Canada), and ‘Abd Al-Hamid al-Ansari (Qatar). S. Zum Beispiel: Abdullahi An-Na’im, “Shari’a and Basic Human Rights Concerns,” in Toward an Islamic Reformation (Syracuse, NY: Syracuse University Press, 1996), 161−181.