Der zweite Longplayer der Average White Band klingt nach dem schwärzesten Soul und Funk. Black Music at its best! Oder etwa doch nicht? Finde den Fehler!
Als mir jemand vor vielen Jahren das erste Mal die Average White Band vorspielte, klang das für mich wie der schwärzeste Soul-Funk, den ich jemals gehört hatte. Der Groove, die Stimmen, die funky Gitarrenlicks, die Bläsersätze... Black Music at its best! Allerdings hätte ich schon beim Namen stutzig werden können, den man als „durchschnittliche“ oder „gewöhnliche weiße Gruppe“ übersetzen könnte. Tatsächlich sind die Mitglieder der AWB (wie der Bandname gemeinhin abgekürzt wird) allesamt waschechte Bleichgesichter – und kommen dazu auch noch aus Schottland! Es ist immer wieder verblüffend, was diese bemerkenswerte Insel so alles hervorbringt.
Gegründet wurde die Average White Band allerdings in London. Wir schreiben das Jahr 1972. Auf einem Konzert der Gruppe Traffic treffen sich einige Exil-Schotten wieder, die sich Jahre zuvor schon einmal bei Jazz-Sessions in Glasgow und in Perth begegnet waren. Man schwelgt in vergangenen Zeiten und verabredet sich zum gemeinsamen Musizieren in der englischen Diaspora. Nachdem musikalisch und persönlich alles passt, beschließt man eine Band zu gründen. Ein Freund, der bei einer der Proben zugehört hatte und von der Soul-Power der Truppe völlig geflasht war, meinte sichtlich ergriffen: „Das ist zu viel für den gewöhnlichen weißen Mann.“ – was die Musiker schließlich zu dem seltsamen Bandnamen inspirierte.
So richtig von sich reden machte die Average White Band erstmals im Vorprogamm von Eric Claptons Comeback-Konzert im Londoner Rainbow Theatre im September 1973, wo sie sowohl vom Publikum als auch von der Kritik gefeiert aufgenommen wurde. Die US-amerikanische Plattenfirma Music Corporation of America (MCA) nahm sie daraufhin unter Vertrag und brachte ihr in Eigenproduktion entstandenes Debütalbum noch im selben Jahr unter dem Titel „Show Your Hand“ heraus (später in leicht veränderter Form als „Put It Where You Want It“ wiederveröffentlicht). Zudem verpflichtete Bonnie Bramlett, die bessere Hälfte des amerikanischen Musiker-Ehepaars Delaney & Bonnie, die Schotten als Begleitband für ihr erstes Soloalbum.
Von London nach Los Angeles
Unterdessen hatte sich auch Claptons Tour-Manager Bruce McCaskill der Band angenommen und seine Beziehungen nach Übersee spielen lassen. Er nahm sogar einen Kredit auf, um den Musikern dabei zu helfen, ihren Lebensmittelpunkt von London nach Los Angeles zu verlegen, wo er sich bessere Ausgangsbedingungen für deren Karriere erhoffte. Schon bald sollte sich zeigen, wie recht er damit hatte. Zunächst aber waren Studioaufnahmen für das zweite Album bei MCA angesagt. Zur Enttäuschung aller Beteiligten wurden die fertigen Masterbänder jedoch von der Plattenfirma abgelehnt. Wie sollte es nun weitergehen? Eines schönen Tages erreichte sie die Nachricht, dass Jerry Wexler von den renommierten Atlantic Records in der Stadt sei. Ohne lang zu überlegen, ergriffen sie die Gelegenheit und besuchten ihn unangemeldet in seinem Haus, um ihm ihre neuen Aufnahmen vorzuspielen.
In seiner Autobiografie erinnert sich Wexler, dass die Band ihn regelrecht überfallen habe, er ihr Mastertape aber so toll fand, dass er sie am liebsten an Ort und Stelle unter Vertrag genommen hätte. Zuvor waren aber noch einige Dinge mit ihrer aktuellen Plattenfirma MCA zu klären. Und außerdem verlangte ihr Produzent in spe, bei dem es sich um keinen Geringeren als den legendären Arif Mardin handelte, nach zwei weiteren Stücken, um das Album noch etwas aufzupeppen. Angespornt durch den in Aussicht stehenden Atlantic-Deal setzten sich Bassist Alan Gorrie, Gitarrist Hamish Stuart und Saxophonist Roger Ball zusammen und schrieben zwei neue Songs, die so gut waren, dass sie als Opener für die beiden Plattenseiten verwendet wurden.
Für die Aufnahme der beiden neuen Stücke holte Mardin die Band an die Ostküste in seine präferierten Criteria Studios in Miami, Florida. Rasch hatte man die zwei Songs im Kasten und war mehr als zufrieden. Allerdings passten sie soundmäßig nicht mehr zu den anderen. Mardin nahm dies zum Anlass, die Band auch das ursprüngliche Material noch einmal neu aufnehmen zu lassen. Hierzu begab man sich in die geschichtsträchtigen Atlantic Studios im Big Apple. Dort entstand dann das, was schließlich im August 1974 als „AWB“ – wegen der weißen Plattenhülle auch „The White Album“ genannt – veröffentlicht wurde.
Platz 1 in Amerika
Zunächst erfuhr die Scheibe weder diesseits noch jenseits des Atlantiks besondere Aufmerksamkeit. Dies sollte sich jedoch ändern, als die Instrumental-Nummer „Pick Up the Pieces“ mit der zweistimmigen Saxophonmelodie von Roger Ball und Malcolm „Molly“ Duncan, die bereits im Juli 1974 als Single ausgekoppelt wurde, allmählich die Radiostationen Amerikas eroberte und schließlich im Februar 1975 die Spitze der US-Charts erreichte. Nicht lange danach belegte auch die LP Platz 1 der amerikanischen Albumcharts und wurde mit Gold ausgezeichnet.
Der durchschlagende Erfolg von „Pick Up the Pieces“ dürfte eines der wenigen Male gewesen sein, wo sich Produzenten-Legende Arif Mardin gründlich geirrt hatte. Er hatte sich nämlich gegen die Veröffentlichung des Stücks als Single ausgesprochen, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass ein Funk-Instrumental einer schottischen Gruppe, bei dem an einer Stelle irgendetwas Unverständliches gegrölt wurde, eine Chance auf Erfolg hätte.
Tatsächlich aber ist der Average White Band aus Schottland nicht nur einer der größten Hits der damaligen Zeit gelungen, sondern darüber hinaus eine der besten Funk-Soul-Scheiben überhaupt. Jedenfalls konnten 1974 weder George Clinton mit seinen Parliament noch Rufus mit ihrer Ausnahmesängerin Chaka Khan gegen sie anstinken. Nicht einmal die großartigen Meters, die mit ihrem groovigen New-Orleans-Funk wahrscheinlich wie niemand anderer Pate für den Sound der gewöhnlichen weißen Schotten gestanden haben.
Tod durch Überdosis
Oder waren es doch eher die Isley Brothers, deren „Work to Do“ sie zumindest als einzige Coverversion des Albums nachspielen – ach, was sage ich: auf ein ganz neues Level heben! Während das Original vom Feeling her eher an die Entspanntheit von Marvin Gayes „What's Going On“ erinnert, haben die Schotten einige Beats per Minute draufgelegt und eine treibende R&B-Nummer daraus gemacht, der sie noch dazu ein grandioses Gitarrensolo von Rhythmusgitarrist Onnie McIntyre spendiert haben.
Für mich neben dem Opener „You Got It“ und dem super-funkigen „Person to Person“ ein Highlight unter lauter Highlights auf der ersten Plattenseite, die man getrost als die Funk-Seite des Albums bezeichnen darf. Auf der B-Seite geht es dann insgesamt gemächlicher zu. Den Anfang macht die wunderbare Soul-Ballade „Nothing You Can Do“, die in ihrem Refrain vielleicht mit dem schönsten Ohrwurm der ganzen Scheibe aufwartet:“ „'Cause there's nothing you can do could make me stop, lovin' you baby“... Mmh, das geht runter wie Öl!
Einer der Musiker durfte den großen Durchbruch seiner Band leider nicht mehr miterleben. Auf einer Party in Los Angeles im September 1974 hatte sich Schlagzeuger Robbie McIntosh (nicht zu verwechseln mit dem englischen Gitarristen und Sänger gleichen Namens) etwas reingepfiffen, von dem er glaubte, es sei Kokain. In Wirklichkeit handelte es sich aber um reinstes Heroin. Der Vierundzwanzigjährige starb noch vor Ort an einer Überdosis. Auch Bassist Gorrie hatte zu viel von dem Zeug erwischt, konnte aber von der Sängerin Cher, die sich unter den Partygästen befand, solange bei Bewusstsein gehalten werden, bis ärztliche Hilfe eintraf und ihn rettete.
Auflösung und Wiedervereinigung in den 80ern
Als Nachfolger für McIntosh konnten die gewöhnlichen weißen Schotten den farbigen Drummer Steve Ferrone aus dem englischen Brighton gewinnen, der zuvor bei der amerikanischen Soul-Formation Bloodstone gespielt hatte. Zuletzt trommelte er bei Tom Pettys Heartbreakers bis zu dessen Tod im Jahre 2017. Im Laufe der 70er Jahre brachte die Average White Band noch einige erfolgreiche Alben heraus und konnte den einen oder anderen Disco-Hit landen. Besonders hervorzuheben sind meines Erachtens ihr längst zum Funk-Klassiker avanciertes „Cut the Cake“ von 1975 sowie ihr fulminanter Auftritt beim XI. Montreux Jazz Festival 1977, wo sie mit der Atlantic Family (alles namhafte Jazz-Größen des Atlantic-Labels) eine über zwanzigminütige Version von „Pick Up the Pieces“ zelebrierten – für mich die beste-Funk-Jazz-Session ever, mit genialen Soloeinlagen von Leuten wie Don Ellis, Sonny Fortune, Herbie Mann oder Randy und Michael Brecker. Unbedingt anhören!
Mit Beginn der 80er Jahre und dem Abebben der Disco-Welle wurde es dann auch stiller um die Average White Band, die 1983 schließlich ihre Auflösung bekanntgab. 1988 kam es anlässlich der 40-Jahr-Feier von Atlantic Records zu einer Wiedervereinigung. Danach wurde die Band von Gorrie, McIntyre und Ball mit wechselnden Besetzungen weitergeführt.
Hamish Stuart wirkte derweil bei Paul McCartneys Comeback-Album „Flowers in the Dirt“ mit und begleitete den Ex-Beatle auf dessen beiden Welttourneen von 1989 und 1993 (wo er im Übrigen auf Robbie McIntoshs Namensvetter stieß). Später tourte er auch mit Ringo Starr & His All-Starr Band, mit der er regelmäßig ein paar AWB-Kracher zum Besten gab. 2015 gründete Stuart mit Ferrone und Duncan die 360 Band. Letzterer verstarb 2019 nach kurzer, schwerer Krankheit. Seit 2023 befindet sich die Average White Band unter dem Motto „Let's Go Round Again One Last Time“ auf einer ausgedehnten Abschiedstournee durch Großbritannien und die Vereinigten Staaten.
So, und jetzt ist es definitiv wieder an der Zeit, in die Dancing Shoes zu schlüpfen: YouTube-Link zum bekanntesten Stück der AWB „Pick Up the Pieces“ bei einem TV-Auftritt aus dem Jahr 1976
YouTube-Link zum Funk-Klassiker „Person to Person“
YouTube-Link zum Albumopener „You Got It“
Hans Scheuerlein verarbeitet auf der Achse des Guten seit 2021 sein Erschrecken über die Tatsache, dass viele der Schallplatten, die den Soundtrack seines Lebens prägten, inzwischen ein halbes Jahrhundert alt geworden sind.