Besonders seit Corona sieht sich das Individuum einem Schlag Politiker gegenübergestellt, der genauso hemmungslos spricht, wie er seine fürsorglichen Absichten kundtut.
In einem von der Regierung dokumentierten Interview für die ZEIT machte Olaf Scholz am 2. Dezember in denkwürdiger Unverfrorenheit klar, was die deutsche Pandemiepolitik von Anfang an bestimmte: die Inthronisierung abstrakter Gesundheit gegenüber allem anderen.
Heißt es in Artikel 1 des Grundgesetzes noch, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, sich das deutsche Volk darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten bekennt, so ersetzt Scholz dieses erste Verfassungsgebot durch das covidianische Dogma, demzufolge der „Schutz der Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger über allem“ stehe – also auch über der Würde des Menschen. Der mögliche Einwand, dass die Gesundheit gegebenenfalls ja gerade für die Würde zu schützen wäre, ändert nichts daran, dass sie eben nicht grundsätzlich über allen anderen Quellen menschlichen Glücks thront. Zumal Gesundheit wahrlich mehr beinhaltet als die Abwesenheit einer einzigen Krankheit.
Ein autoritärer Paternalist sieht dies freilich anders und droht auch schon mal im Namen des höheren Wohls:
„Wir werden alles tun, was erforderlich ist. Wir werden weitere Schritte gehen, die leider auch jene Bürgerinnen und Bürger betreffen, die bisher alles richtig gemacht haben und zweimal, viele sogar bereits dreimal geimpft sind. Aber ich betone das hier ausdrücklich nochmal: Für meine Regierung gibt es keine roten Linien mehr bei all dem, was zu tun ist. Es gibt nichts, was wir ausschließen. Das kann man während einer großen Naturkatastrophe, einer Gesundheitskatastrophe wie einer Pandemie nicht machen.“
Gleich zu Beginn seiner Amtszeit degradierte Scholz also mit Bezug auf eine halluzinierte Gesundheitskatastrophe das Grundgesetz zu einem unverbindlichen Stück Papier. Im Zweifel muss eben hart durchgegriffen werden, weil die Natur dazu zwingt – Propaganda plumpesten Niveaus.
„Sie verwirren die Bürger“
Etwas mehr als einem Monat später, am 12. Januar, stellte der frisch gewählte Bundeskanzler sich zum ersten Mal dem Parlament. Ein AfD-Politiker fragte ihn, ob der Kanzler von den Nebenwirkungen der Corona-Impfstoffe wisse. Wer nun meint, dies sei eine sachliche Frage, die sich im Rahmen angedachter Impfpflichten doch aufdränge, weil öffentlich-transparente Risiko-Nutzen-Abwägungen doch etwas Selbstverständliches sind, wird enttäuscht: „Vielen Dank für Ihre Frage, aber ausdrücklich nicht für die Intention dahinter“, so Scholz. „Sie verwirren die Bürgerinnen und Bürger unseres Land, aber das Gute ist, dass Sie damit keinen Erfolg haben.“
Und weiter: „Ich teile Ihre komische Diskussion nicht.“ Eine Debatte über die Impfpflicht, in der über die Nebenwirkungen gar nicht gesprochen wird, verdient diesen Namen nicht, sie einzufordern wäre für Journalisten das Mindeste. Geschehen ist dies nicht. Eine Journalistin vom RND wusste diese Frage im Wesentlichen nicht anders zu kontextualisieren als die BILD-Zeitung, auf deren YouTube-Kanal es heißt: Die AfD sei mit einer „Troll-Frage“ (!) aufgefallen, nämlich ob „Scholz über ‚schwere Nebenwirkungen‘ der Impfung wisse“.
Nun scheinen etliche Medienvertreter und Teile des Herrschaftspersonal sich bereits in jener frühkindlichen Mutter-Kind-Symbiose zu befinden, welche von autoritären Paternalisten als zeitgemäßes Verhältnis zwischen Bürger und Regierung gewünscht wird. Kleinen Kindern berichtet man nicht unbedingt die ganze Wahrheit; zu Recht stellt man ihre geistig und charakterlich unausgereiften Fähigkeiten in Rechnung: Um sie nicht zu überfordern und unnötig unglücklich zu machen, verschweigt man gewisse Realitäten einfach, die zu beurteilen und kontrollieren stattdessen den Erziehungsautoritäten überantwortet wird. Einem Bürger von den Risiken einer biotechnologisch neuartigen Spritze zu berichten, gilt dem Bundeskanzler nun deshalb als „komische Diskussion“, weil es den Bürger im aufklärerischen Sinne der Staatsräson gemäß gar nicht (mehr) geben soll. Komisch wirkt das Anachronistische.
Deswegen vorwärts: Der klassische Bürger wird zunehmend durch ein infantilisiertes Subjekt staatlicher Betreuung ersetzt, dessen politischer Horizont sich exakt an den Regierungslinien zu orientieren habe. Gegen feindliche Einflüsterungen und Elemente ist es abzuschirmen, was bei der RTL-Journalistin Pinar Atalay gegenüber der FDP-Politikerin Linda Teuteberg so klingt: „Die Impfpflicht sei ein Angriff auf die Freiheit, sagt Alice Weidel, Sie nutzen auch den Begriff der Freiheit, also da sind Sie sich in der Debatte einig?“ Der CSU-Generalsekretär Markus Blume erklärte die Freiheit (von der Impfpflicht) nun nicht zu vermintem Terrain einer weithin als rechtsradikal gehandelten Partei, sondern ist schon einen Schritt weiter: „Freiheit heißt Impfpflicht für alle anstatt Einschränkungen für alle“, verlautbarte er neulich in der WELT.
Reframing Freiheit
In dieselbe Richtung trompetete Helge Lindt in der Bundestagsdebatte zur Impfpflicht: „Es ist ein vulgäres Verständnis von Freiheit, immer nur zu denken, Freiheit ist nur rein individuelle Unversehrtheit“. Zur Begründung zitiert er aus dem Godesberger Programm der SPD: „Freiheit und Gerechtigkeit bedingen einander“. Er vergaß wohl, einen Satz weiterzulesen, wo es heißt: „Denn die Würde des Menschen liegt im Anspruch auf Selbstverantwortung ebenso wie in der Anerkennung des Rechtes seiner Mitmenschen, ihre Persönlichkeit zu entwickeln und an der Gestaltung der Gesellschaft gleichberechtigt mitzuwirken.“
Sinnerfassendes Lesen hätte Lindh nicht zu seinem „gebotenem Reframing“ von zentralen Begriffen wie Freiheit und Gerechtigkeit geführt, das für sich schon eine Ungeheuerlichkeit darstellt, sondern zur Kritik nicht nur der Impfpflicht, sondern des gesamten Gesundheitsregimes. Allein der G-Regel-Dschungel spottet jeder Idee von Gleichberechtigung, Selbstverantwortung und dem Recht anderer auf persönliche Entfaltung. Doch ging es Lindh eben nur darum, einer vollkommen verrannten Realpolitik den Nimbus philosophischer Weisheit zu verleihen. So ließ es sich auch Lauterbach nicht nehmen, sich an Hegel zu vergreifen, um mit dessen Bestimmung von Freiheit als einer „Einsicht in die Notwendigkeit“ eine angeblich fälschlich behauptete Entgegensetzung von Freiheit und Impfpflicht zu monieren.
Statt vor Bürgern so gut wie möglich zu rechtfertigen, warum die Beschneidung ihrer Freiheit momentan legitim sei, machen sich autoritäre Paternalisten am Begriff der Freiheit selbst zu schaffen, indem sie den Widerspruch zwischen ihr und ihrem Gegenteil, den Einschränkungen, einfach kassieren. Die von der Regierung zu verantwortenden Zwänge sollen damit als Ausdruck von Freiheit selbst erscheinen. Pudelwohl möge sich der denkbetreute Bürger in den schützenden Armen der Obrigkeit fühlen und sich in ihnen führen lassen; sobald er raus will, gelten keine roten Linien.
Die lebensschützerische Sorge ist untrennbar von antibürgerlicher Hemmungslosigkeit. Bekanntlich rechtfertigte Hendrik Wüst bei Anne Will die Impfpflicht als Signal an die Geimpften. Bezeichnend ist zudem seine Wortwahl, die eigentlich in den Bereich privater Beziehungen gehört und unter Fremden schlicht übergriffig ist. „Jetzt müssen wir uns bitte mal liebevoll (!) um die Nicht-Geimpften kümmern. Und nach Lage der Dinge geht das nur mit der Impfpflicht." Auch Lauterbach, der keine Gelegenheit verpasste, Ungeimpfte zum Sündenbock zu machen, rechtfertigt den Zwang gegenüber ihnen damit, dass er ja nur das Beste für sie will. Ärzte-Funktionär Frank Ulrich Montgomery forderte derweil die „Peitsche statt Zuckerbrot“ für Ungeimpfte, Boris Palmer lässt sie knallen: „Wenn die Leute wüssten, es kostet 5.000 Euro Strafe, wenn man ungeimpft ist, hätten wir in 4 Wochen eine Impfquote von 98 Prozent. Um die übrigen 2 Prozent könnten wir uns dann in Ruhe kümmern.“
Man mag es sich kaum vorstellen, was diese Leute machen würden, wenn man sie ließe. In der angeblichen Gesundheitskatastrophe kommen autoritäre Paternalisten zu sich, können sie in diesem Narrativ jeden Wunsch nach Bestrafung und das Spielen mit den niederen Instinkten unzufriedener Mitmach-Deutscher vor sich als solidarische Sorge rechtfertigen. Sie bilden sich ein, keine Faschisten sein zu können, weil sie solche nur entlang historischer Traditionslinien vermuten, meinen also, diesbezüglich schon qua Parteizugehörigkeit aus dem Schneider zu sein.
Vom Staatsvolk zur Bevölkerung
Nicht nur löst sich der Begriff des modernen Bürgers auf, sondern auch des Staatsvolks, das zumindest in Deutschland als potenzielle Störmasse regierungsamtlicher Zielvorstellungen gilt. Schon Gauck sagte 2016: „Die Eliten sind gar nicht das Problem, die Bevölkerungen sind im Moment das Problem.“ Am gewandelten Sprachgebrauch zeigen sich die Veränderungen im Herrschaftsverhältnis: Seit geraumer Zeit wird nicht mehr vom Volk, sondern nur noch von der Bevölkerung gesprochen; auch ich hatte mir das in meinen Texten zu eigen gemacht. Und klingt „Volk“ nicht auch irgendwie völkisch, rechts, nationalistisch?
Nüchtern betrachtet sind das neurotische Assoziationen, die mit etwas Entscheidendem abzuräumen sind. „Bevölkerung“ ist eine soziologische Kategorie, während das „Volk“ die demokratietheoretische ist. Wird das Volk im Sinne bürgerlicher Gesellschaft dem Anspruch nach als Souverän gesetzt, vor dem sich die Regierung zu rechtfertigen und dessen heterogene Interessen es zu vertreten hat, ist die Bevölkerung von vornherein als passives Gebilde bestimmt, dem ein beurteilender Beobachter gegenübersteht. Sicher kann es kontextbedingt sinnvoller sein, von ihr und nicht von ihm zu sprechen; dass der Begriff „Volk“ von den meisten kategorisch vermieden wird, ist allerdings bezeichnend.
Ein Staatsvolk konstituiert sich bestenfalls als Differenz in der Einheit: Bei aller Unterschiedlichkeit der Individuen bezieht es sich auf einen gemeinsamen Verfassungsrahmen. Eine Bevölkerung hingegen kann ein multikulturelles Patchwork unvermittelt nebeneinander existierender Minoritäten genauso sein wie eine Herde, die durchzuimpfen im biopolitischen Blick gerade oberste Priorität genießt. Wer vom Volk, das als Staatsvolk mit Blut und Boden nichts zu tun hat, nicht mehr spricht, weil er nicht klingen möchte „wie ein Rechter“, der begünstigt damit autoritäre Paternalisten, weil es die Bevölkerung ist, die ihren Zwecken gemäß reguliert, bevormundet und aufgenordet gehört. Mit der Corona-Politik Merkels erreicht dieser Politikstil eine neue Qualität, an welche die neue Bundesregierung anknüpft. Doch gibt es wichtige Brüche.
Wie Scholz propagierte auch Merkel eine im Großen und Ganzen geschlossene statt gespaltene Gesellschaft, einen mehrheitlich vorbildlichen Bevölkerungsanteil, der einem vernachlässigbar kleinen rücksichtslosen gegenüberstehe, doch anders als der Kanzler wurde sie von den Deutschen als eine „Mutter“ wahrgenommen, die es doch unterm Strich gut mit einem meine; auch wenn sie Strenge walten ließ. Scholz hingegen ist einerseits zu männlich für die Mutterfigur – logisch –, andererseits aber auch zu weich und jung für den nationalen Übervater. Die psychodynamische Konstellation von Volk und Regierung hat sich damit gewandelt.
Peter Altmaier verkündete zur Verabschiedung Merkels, sie habe es geschafft, dass Deutschland wieder „geliebt“ (!) wird. In diesem Sinne durften sich die Deutschen unter der ehemaligen Bundeskanzlerin als Moralweltmeister vorkommen, wofür sie ihr dankten; Olaf Scholz kann diese libidinöse Bindung an die Regierung jedoch nicht einfach übernehmen. Der über die Mutterfigur irrational vermittelte „Zusammenhalt“ dieses Landes destabilisiert sich, etwas ist ins Rutschen geraten. Noch „nie in der Geschichte der Bundesrepublik gab es weitflächigere Demonstrationen als in diesen Wochen“, schreibt welt.de. Der autoritäre Paternalismus stößt auf beachtlichen Widerstand.