Von Klaus Schroeder und Monika Deutz-Schroeder.
Linke Gewalttäter und die von ihnen verübte Gewalt sind statistisch schwer zu erfassen. Zwar lässt sich das Gewalthandeln von Akteuren bei konkreten Anlässen rekonstruieren, eine Gesamtschau ist aber auf die staatliche Erfassung von politisch motivierter Gewalt angewiesen. Erst der Rückgriff auf Daten von Polizei und Verfassungsschutz erlaubt eine Annäherung an Ausmaß und Intensität linker Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland.
Schon frühzeitig beobachtet der Verfassungsschutz kommunistische Aktivitäten und erstellt interne Berichte, vor allem über die 1956 verbotene KPD und ihre Vorfeldorganisationen. Er erfasst ihre Steuerung und Finanzierung durch die DDR und beobachtet diverse Aktivitäten. Gewalt spielt dabei so gut wie keine Rolle.
In einer Akte des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) mit Lageberichten aus der ersten Jahreshälfte 1967 rückt die Neue Linke erstmals stärker in den Fokus der Verfassungsschützer. Radikale SDS-Gruppen hätten in verschiedenen Städten Vietcong-Fahnen anlässlich des Ostermarsches geschwenkt und „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh“ gerufen. In weiteren Lageberichten aus dem Jahr 1967 beschreibt der Verfassungsschutz die Gründung des Republikanischen Clubs in West-Berlin im April 1967 und die Radikalisierung des SDS. Linke Akteure hätten nicht nur Protestdemonstrationen organisiert, sondern auch Flugblätter strafbaren Inhalts verteilt. Die „radikalen Anführer“ bildeten zwar unter Studenten nur eine kleine Minderheit, „verstanden es (aber), die Demonstrationen und Krawalle durch Methoden zu organisieren, die kommunistischer Taktik entsprechen“.
Maoisten erreichen 1977 höchste Mitgliederzahl
Im Verfassungsschutzbericht 1968 heißt es, die Neue Linke habe „die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland, die Verfassungs- und Staatsorgane, die Parteien sowie andere Träger der demokratischen Gesellschaft unmittelbarer und gewalttätiger angegriffen als andere radikale Kräfte je zuvor“. Anders als die verbotene und 1968 in Gestalt der DKP wieder zugelassene KPD begreife sich die Neue Linke explizit als revolutionär: „Durch Anwendung von Gewalt und militanter Kampfformen überschreitet der SDS bewusst die Schwelle, die von der KPD – wenn auch aus taktischen Gründen – in den letzten Jahren beobachtet worden war.“
Konkrete Zahlen über das linksextreme Personenpotenzial und Gewalttaten veröffentlicht dieser Bericht nicht. Unter dem Stichwort „Gewaltanwendung“ führt er die Osterunruhen sowie Brandstiftung und Sachbeschädigungen in verschiedenen Städten auf. Besonders erwähnt als Gewaltprediger wird Bernd Rabehl, einer der Wortführer des SDS.
Ab dem Verfassungsschutzbericht 1969/70 werden jährlich die Mitgliederzahlen in kommunistischen/linksextremen Gruppen veröffentlicht, differenziert nach orthodoxen Parteien und Gruppen wie der DKP und Gruppen der Neuen Linken sowie den neu entstehenden maoistischen Parteien, Trotzkisten und Anarchisten. Die Gesamtzahl der Mitglieder in linksextremen Organisationen steigt von 65.000 im Jahr 1970 auf den Höchststand von 117.000 im Jahr 1983. Bis zur Wiedervereinigung im Jahr 1990 (49.500) gehen die Mitgliederzahlen stetig zurück.
Die Zahl der Mitglieder in maoistischen Parteien/Gruppen erreicht mit gut 20.000 Mitgliedern im Jahr 1977 ihren Höhepunkt. Für das Jahr 1989 registrieren die Verfassungsschützer nur noch gut 11.000 Personen in diesem Umfeld. Die Zahl der Anarchisten und sonstigen Sozialrevolutionäre (gemeint sind wohl die Autonomen) steigt dagegen von 3.700 (1982) auf 4.600 im Jahr 1990, wobei die Verfassungsschutzberichte nur Gruppen mit festen Strukturen aufnehmen, die über einen längeren Zeitraum aktiv sind. Das Mobilisierungspotenzial dieser Szene beträgt nach Meinung der Verfassungsschützer zusätzlich mehrere tausend Personen.
Seit 2000: Zahl gewaltbereiter Linksextremisten steigt
Nach dem Zusammenbruch der DDR und dem damit einhergehenden Auslaufen der Finanzierung orthodox-kommunistischer Parteien wie der DKP und ihr nahestehender Gruppen/Organisationen sinkt die Zahl von Mitgliedern und Sympathisanten linksextremer Parteien und Gruppen und stagniert nach einem zwischenzeitlichen Anstieg seit der Jahrtausendwende. Seit 2016 steigt die Zahl der vermuteten Linksextremisten wieder an. Sie liegt 2017 bei 29.500.
Die Zahl der gewaltbereiten beziehungsweise gewaltorientierten Linksextremisten erhöht sich ebenfalls stetig seit der Jahrtausendwende und liegt im Jahr 2017 bei 9.000 Personen (2016: 8.500). Knapp ein Drittel der Linksextremisten stuft der Verfassungsschutz also als gewaltorientiert ein. Die gewaltorientierten Linken gehören zumeist (post-)autonomen und anarchistischen Gruppen an.
Seit etwa Mitte der 1960er Jahre werden politisch links motivierte Gewalttaten mit unterschiedlichen Mitteln durchgeführt: „Es werden Steine, Brandsätze oder andere Gegenstände geworfen, Stahlkugeln und Schraubenmuttern mit Zwillen, Schleudern oder Katapulten verschossen. Auch Leuchtmunition, Nebelgranaten und Tränengas werden eingesetzt. Gezielt werden Polizeibeamte angegriffen“, wie die von der Bundesregierung eingesetzte sogenannte Gewaltkommission in ihrem Abschlussbericht feststellt.
Die vornehmlich von Mitgliedern und Sympathisanten der Neuen Linken verübten Gewalttaten werden nur sehr unvollständig erfasst. (…) Die Verfassungsschutzberichte weisen ausdrücklich darauf hin, dass jede Terror- und Gewaltaktion nur einmal gezählt wird, unabhängig davon, wie viele Fälle von Körperverletzungen und anderen Gewalttaten es bei einem „Anlass“ gab.
Viele Opfer, ein Gewaltakt
Den zahlenmäßigen Höhepunkt sehen wir mit 2.241 Gewalttaten und 129 Terroraktionen im Jahr 1981. Die meisten Gewalttaten sind Sachbeschädigungen (1.828). Daneben werden ein Sprengstoffanschlag, 51 Brandanschläge, 247 Fälle von Landfriedensbruch und Widerstandshandlungen, fünf gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Schiffs- oder Luftverkehr bzw. Straßenverkehr und 109 Körperverletzungen aufgelistet. Wie in den Jahren zuvor und danach ist dies nur die Spitze des Eisberges. So gehen z.B. im Jahr 1981 die gewalttätigen Auseinandersetzungen in Brokdorf mit 128 verletzten Beamten, die gewalttätigen Demonstrationen gegen den US-Außenminister Haig mit etwa 150 verletzten Beamten und auch gewalttätige Proteste gegen den Bau der Startbahn West mit 109 verletzten Beamten mit nur jeweils einem Gewaltakt in die Statistik ein.
Die Anzahl der von verschiedenen linksterroristischen Gruppen verübten Terrorakte (Mordanschläge, Sprengstoffanschläge und Brandstiftungen) wächst von 48 (1969) auf 117 (1970) und liegt in den Jahren danach zwischen etwa 30 und 100. Ab 1981 (129) steigt die Zahl linksterroristischer Anschläge deutlich an und erreicht mit 329 im Jahr 1987 einen Höhepunkt. Das Anwachsen in den 1980er Jahren geht auf Aktionen der Revolutionären Zellen (RZ) und sonstiger Gruppen und Einzeltäter zurück. Linke Terroristen begehen Banküberfälle, ermorden „unliebsame Personen“ und verüben ebenso wie andere Linksextremisten insbesondere Brand- und Sprengstoffanschläge, die mit über 300 im Jahr 1986 einen (traurigen) Höhepunkt erreichen.
Die Sicherheitsbehörden ordnen Straf- und Gewalttaten als politisch motivierte Kriminalität ein, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Taten den demokratischen Willensbildungsprozess beeinflussen sollen, sich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung richten, auswärtige Belange der Bundesrepublik gefährden oder sich gegen eine Person wegen ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Rasse etc. richten. Politisch links motivierte Kriminalität liegt für Polizei und Verfassungsschutz vor, wenn der Täter „nach verständiger Betrachtung einer linken Orientierung zuzurechnen ist, ohne dass die Tat bereits die Außerkraftsetzung oder Abschaffung eines Elementes der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zum Ziel haben muss“. Dieser Bezug sei erst gegeben, wenn er oder sie sich zum Anarchismus oder Kommunismus (einschließlich Marxismus) bekenne.
Links oder linksextrem?
Die Zahl der von den Sicherheitsbehörden als politisch links und linksextrem eingeordneten Gewalttaten erhöht sich unter Schwankungen seit der Jahrtausendwende bis zum Jahr 2015 erheblich, geht im Jahr 2016 aber zurück. Im Jahr 2017 steigen linke und linksextreme Gewalttaten mit 1967 bzw. 1648 wieder deutlich an, und zwar um 15,6 Prozent bzw. 22,2 Prozent.
Die vorgenommene Differenzierung nach links und linksextrem ist intransparent, da nicht erkennbar wird, wann die jeweiligen Landeskriminalämter eine Gewalttat als links oder linksextrem einstufen. So verüben im Jahr 2017 z.B. nichtextremistische Linke 162 Körperverletzungen, 24 Brandstiftungen und 47 Landfriedensbrüche. Um welchen Personenkreis es sich hierbei handelt, wird öffentlich nicht bekanntgegeben. Der Anteil extremistischer Gewalttaten an den gesamten linken Gewalttaten liegt seit der Jahrtausendwende zwischen etwa 48 Prozent (2002) und knapp 84 Prozent (2017). Besonders stark fällt die Differenz zwischen linken und linksextremistischen Gewalttaten in Berlin aus. Aus 250 in Berlin registrierten linken Gewalttaten werden 65 linksextremistische im Verfassungsschutzbericht 2017 angegeben, das heißt die nichtextremistischen Gewaltdelikte übertreffen die extremistischen um fast das Vierfache.
Linke Gewalttaten werden unterzeichnet
Entgegen der Annahme einiger Wissenschaftler, Journalisten und Politiker, linksextreme Straf- und Gewalttaten würden überzeichnet, weil hierunter viele Sachbeschädigungen und vor allem Verstöße gegen das Versammlungsgesetz gefasst würden, zeigen die Delikte bei den Gewalttaten im Jahr 2017, insbesondere die hohe Zahl der Körperverletzungen (661) und des Landfriedensbruchs (831), dass linke Gewalt offensiv ausgerichtet ist und sich keineswegs nur gegen Sachen richtet.
Linke Gewalttaten werden hingegen generell unterzeichnet, da sie, anders als viele rechtsextreme und islamistische Gewalttaten, oft aus situativen Konfrontationen bei Demonstrationen resultieren. Die Sicherheitsbehörden zählen immer nur eine Gewalttat – die mit der höheren Strafandrohung –, auch wenn ein linker Straftäter mehrere Gewalttaten (z.B. Körperverletzung, Landfriedensbruch, Widerstandshandlung, Sachbeschädigung etc.) begeht. Da schwerer Landfriedensbruch (§ 125a StGB) rechtlich schwerer wiegt als einfache Körperverletzung (§ 223 StGB), sind insbesondere die von linken Akteuren begangenen Angriffe auf Personen, vornehmlich Polizisten, in den Statistiken unterrepräsentiert. Bei gleicher Deliktqualität – z.B. bei Gewaltdelikten – sind schwerer Landfriedensbruch und gefährliche Körperverletzung gleichrangig, sodass der zuständige Sachbearbeiter im LKA entscheidet, welches Delikt in die Statistik eingeht. Wie viele Gewaltdelikte jenseits des Deliktes mit der höchsten Strafandrohung Linke pro Jahr verüben, wird statistisch nicht ausgewiesen und ist dem Bundeskriminalamt (offiziell) auch nicht bekannt.
Linke und rechte Akteure und Extremisten bekämpfen, wie schon zu Zeiten der Weimarer Republik, zwar beide aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Zielen das politische System, stehen sich aber gleichzeitig unversöhnlich und hasserfüllt gegenüber. Es zeigt sich in der Konfrontationsgewalt zwischen Extremisten unter Schwankungen bis 2015 ein Anstieg, insbesondere bei den von Linksextremisten ausgehenden Gewalttaten. Die rechte Konfrontationsgewalt erreicht ihren Höhepunkt 2008, die linke 2015. In den Jahren 2016 und 2017 geht sie auf beiden Seiten deutlich zurück.
Politisch motivierte Konfrontationsgewalt zwischen politischen Akteuren sehen wir vor allem auf zwei Feldern: Linke oder rechte Gewalttäter lauern ihren Feinden auf und verprügeln sie. Verbreiteter sind Gewaltvorfälle anlässlich linker Gegendemonstrationen gegen rechte Aufzüge, wobei die Konfrontationsgewalt zumeist von linker Seite ausgeht. Würde die Polizei bei diesen Anlässen die potenziell gewaltbereiten Kontrahenten nicht trennen, wäre mit einer weitaus größeren Zahl von Fällen zu rechnen.
Auszug aus dem Buch „Der Kampf ist nicht zu Ende. Geschichte und Aktualität linker Gewalt“ von Klaus Schroeder und Monika Deutz-Schroeder, 2019, Verlag Herder: Freiburg im Breisgau/ München, hier bestellbar
Klaus Schroeder, geb. 1949, Professor am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, wissenschaftlicher Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat; zahlreiche Veröffentlichungen u.a. zu den Themen deutsche Teilungsgeschichte, Geschichte der DDR, Extremismus; ein Schwerpunkt seiner Forschung ist der Linksextremismus in Deutschland.
Monika Deutz-Schroeder, geb. 1953, Diplompolitologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsverbund SED-Staat. Arbeitsschwerpunkte u.a.: Alternativbewegung, DDR, Linksextremismus.