Der erste Ausgestoßene dieser Woche ist die amerikanische Rock- und Folklegende Bob Dylan. Jacob Siegel vom amerikanischen, jüdischen „Tablet Magazine“ macht darauf aufmerksam, dass das Lied „Neighborhood Bully“ von Dylans Album „Infidels“ (1983) offenbar systematisch von YouTube gelöscht wird.
Neighborhood Bully ist ziemlich offensichtlich ein Song darüber, wie Israel unter allen Nationen in besonderem Maße ausgegrenzt und verteufelt wird, eine beißende Verurteilung des Antisemitismus und eine Verteidigung des Existenzrechts des jüdischen Staates – obwohl Dylan selbst sich gegen diese Interpretation verwahrt, so wie er sich generell (auf nicht ganz überzeugende Weise) gegen allzu politische Interpretationen beziehungsweise Vereinnahmungen seiner Musik zu wehren versucht („Ich bin kein politischer Liedermacher“).
Nach eigenen Angaben googelte Siegel vor einigen Tagen aus einer Laune heraus „Neighborhood Bully“ und entdeckte, dass das Lied von YouTube verschwunden war. „Die Entdeckung, dass ein kulturelles Produkt von irgendeinem Rang nicht sofort auf einer der größten online Content-Plattformen verfügbar ist, reicht aus, um einen leichten Alarmzustand auszulösen“, schreibt der Journalist. Siegel recherchierte weiter und entdeckte, dass der Song weiterhin auf der kleineren Plattform Vimeo zu hören ist. Dort hat der Hochladende, Alexander Gendler, folgende Bemerkung eingeblendet: „Eine russische Version dieses Videos wurde von YouTube als ‚hate speech‘ gesperrt. Binnen einer Stunde nach dem Upload. 20.06.2019.“
Siegel wollte mehr wissen und kontaktierte Gendler (ein Jude aus der ehemaligen Sowjetunion, der heute in Chicago lebt). Letzterer habe nach eigenen Angaben versucht, eine Version von Neighborhood Bully bei YouTube hochzuladen, in der er eine russische Übersetzung des Songtextes über Dylans Musik spricht. Nach der prompten Sperrung dieses Videos als „Hate Speech“ sei Gendler zunächst von einem Missverständnis ausgegangen. Doch auch ein erneutes Upload seiner Videomontage – Bilder von Judenverfolgung, antisemitischer Propaganda und eines Modells des Herodianischen Tempels – diesmal untermalt mit Bob Dylans Originalinterpretation des Songs, ohne Russisch, sei binnen kürzester Zeit gelöscht worden, allerdings mit einer anderen Begründung („unangemessener Content“). Gendlers Einspruch gegen diese Entscheidung sei von YouTube ohne Erklärung abgewiesen worden.
Eine Plattform, auf der Hitler- und Goebbels-Reden stehen
Nun, vielleicht haben die Löschbeauftragten bei YouTube Gendlers Upload aufgrund des Bildmaterials (und weil sie Dylans Text falsch verstanden haben?) versehentlich für ein antisemitisches Video gehalten. Gegen diese These spricht allerdings nicht nur die Tatsache, dass sie auch nach erneuter Prüfung bei ihrer Entscheidung blieben. Misstrauisch stimmt vor allem, dass Neighborhood Bully das einzige Lied vom Album Infidels ist, von dem (Stand 22.12.2020) nur Coverversionen auf YouTube zu finden sind. Bei den anderen sieben Titeln kann man sich die Interpretationen von Dylan selbst anhören, entweder auf dem offiziellen Bob-Dylan-Kanal oder auf den Kanälen von anderen Nutzern.
YouTubes Zensoren scheint es also nicht um eine bestimmte Videomontage mit KZ-Bildern und dergleichen zu gehen, die von Alexander Gendler kreiert wurde, und auch nicht um das generelle Löschen von Titeln des Infidels-Albums, etwa aus Copyright-Gründen, sondern speziell um diesen einen pro-israelischen Song. Das ist erstaunlich für eine Plattform, auf der weiterhin Hitler- und Goebbels-Reden stehen, und die zum Konzern Google gehört, der den Anspruch hat, ein universelles Verzeichnis zu sein, wo man alles finden kann. Aber wirklich überraschend ist es nicht. Denn, wie bereits einige Kommentatoren bemerkt haben, sollen die Juden nicht in die neue „progressive“ Koalition integriert werden, die aktuell in den USA entsteht und unter anderem radikale identitätspolitische Gruppierungen wie Black Lives Matter, die Demokratische Partei und eben auch die mächtigen Tech-Konzerne der linksliberalen Bay Area zusammenbringt.
Die Juden gehören nicht nur nicht dazu. Vielmehr sind sie sogar in gewisser Weise zu Feinden erklärt worden. Denn gemäß dem „progressiven“ Weltbild, dessen Herzstück die sogenannte „Critical Race Theory“ ist, gelten Juden bestenfalls als Teil der vermeintlich „privilegierten“ Kategorie der „Weißen“, eher aber als die globalen Vertreter und Anfeuerer eines „rassistischen Kolonialregimes“. Die Googelei eines gelangweilten amerikanischen Journalisten hat nun unbeabsichtigt ein Licht auf die Mechaniken der aufstrebenden neuen Ordnung geworfen.
(Nachtrag vom 25.12.2020 10 Uhr: Leser weisen uns darauf hin, dass Neighborhood Bully in verschiedenen Cover-Versionen auf Youtube noch zu finden sei – wie auch oben beschrieben. Auch sei der Song in Originalversion abrufbar, allerdings nur für Abonnenten von Music Premium. Es ist allerdings der einzige Titel des Albums, der hinter einer Bezahlschranke steht, alle anderen sind frei verfügbar. Es wird möglicherweise also nicht systematisch sondern eher unsystematisch gelöscht.)
Kritiker der Corona-Politik
Ausgestoßen wurde diese Woche auch Stefan Mickisch. Der Pianist, Komponist und Musikwissenschaftler ist für seine sogenannten Gesprächskonzerte und Einführungsvorträge zu Wagner-Opern bekannt. Seit einigen Monaten tritt Mikisch nicht nur als Musiker und Wagner-Experte, sondern auch als Kritiker der Corona-Politik auf, und schlägt dabei radikale Töne an. Bereits im April schrieb er auf Facebook von „Coronafaschismus“, prophezeite ein „Chippen“ der Bevölkerung zur „Ganzheitsüberwachung“ und rief auf: „Keine GEZ zahlen, keine Polizei respektieren.”
Mit einem Facebook-Post, in dem er den 1943 hingerichteten antinazistischen Widerstandskämpfer Hans Scholl zitiert („Nichts ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer verantwortungslosen und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique‚ regieren‘ zu lassen.“) ist Mickisch nun aus Sicht vieler Kritiker zu weit gegangen. Auch ich finde solche NS-Vergleiche peinlich und geschmacklos. Und im Gegensatz zur berühmt-berüchtigten „Jana aus Kassel“ ist der Musiker nicht 22, sondern 58 Jahre alt, man kann seine Äußerungen also nicht unter „jugendlicher Übermut“ abheften.
Ich habe den Fall trotzdem in diese Kolumne aufgenommen, weil er ganz gut die Mechanismen der um sich greifenden Cancel Culture verdeutlicht, in der Äußerungen nicht mehr nur debattiert bzw. inhaltlich herausgefordert werden, sondern schnell Rufe nach Ächtung, Bestrafung und Absonderung des „Falschdenkers“ laut werden.
Würde Richard Wagner heute ins Wagner-Museum gelassen werden?
So hat sich laut einem Bericht des „Nordbayerischen Kuriers“ eine Wirkungsstätte Mickischs, die Dresdner Semperoper, „ausdrücklich massiv“ von dessen Äußerungen distanziert. Warum ist das nötig? Nimmt irgendjemand allen Ernstes an, der Pianist spreche auf seiner privaten Facebook-Seite für die Semperoper (oder Uwe Tellkamp bei einer Podiumsdiskussion für seinen Verlag Suhrkamp, um ein weiteres, nicht mehr ganz so aktuelles Beispiel für solche absurde Distanzeritis zu nennen)?
Dr. Sven Friedrich, Direktor des Richard-Wagner-Museums in der Bayreuther Villa Wahnfried (Wagners ehemaliges Wohnhaus), hat Mickisch dort sogar aufgrund seines NS-Vergleichs Hausverbot erteilt. Das ist keine Kritik oder Widerspruch mehr, sondern ein Exorzismus. Angesichts der Tatsache, dass Wagners antisemitische Äußerungen („Ich halte die jüdische Rasse für den geborenen Feind der reinen Menschheit und alles Edlen in ihr.“) aus moderner Sicht deutlich rabiater und menschenfeindlicher klingen als alles, was Stefan Mickisch je auf Facebook gepostet hat, fragt man sich: Würde Richard Wagner heute ins Wagner-Museum gelassen werden?
Und hier der Text von Bob Dylans Neighborhood Bully mit deutscher Übersetzung:
Nun, der Mobber aus der Nachbarschaft, er ist nur ein Mann
Well, the neighborhood bully, he's just one man
Seine Feinde sagen, er sei auf ihrem Land
His enemies say he's on their land
Sie haben ihn etwa eine Million zu eins unterlegen
They got him outnumbered about a million to one
Er bekam keinen Ort, an den er fliehen konnte, keinen Ort, an den er rennen konnte
He got no place to escape to, no place to run
Er ist der Mobber in der Nachbarschaft.
He's the neighborhood bully.
Der Nachbarschaftsmobber, den er nur lebt, um zu überleben
The neighborhood bully he just lives to survive
Er wird kritisiert und verurteilt, weil er lebt
He's criticized and condemned for being alive
Er soll sich nicht wehren, er soll dicke Haut haben
He's not supposed to fight back, he's supposed to have thick skin
Er soll sich hinlegen und sterben, wenn seine Tür eingetreten wird
He's supposed to lay down and die when his door is kicked in
Er ist der Mobber in der Nachbarschaft.
He's the neighborhood bully.
Der Nachbarschaftsmobber wurde aus jedem Land vertrieben
The neighborhood bully been driven out of every land
Er ist als verbannter Mann um die Erde gewandert
He's wandered the earth an exiled man
Als seine Familie zerstreut war, wurden seine Leute verfolgt und zerrissen
Seen his family scattered, his people hounded and torn
Er steht immer vor Gericht, weil er gerade geboren wurde
He's always on trial for just being born
Er ist der Mobber in der Nachbarschaft.
He's the neighborhood bully.
Nun, er hat einen Lynchmob ausgeschaltet, er wurde kritisiert
Well, he knocked out a lynch mob, he was criticized
Alte Frauen verurteilten ihn und sagten, er solle sich entschuldigen
Old women condemned him, said he should apologize
Dann zerstörte er eine Bombenfabrik, niemand war froh
Then he destroyed a bomb factory, nobody was glad
Die Bomben waren für ihn bestimmt.
The bombs were meant for him.
Er sollte sich schlecht fühlen
He was supposed to feel bad
Er ist der Mobber in der Nachbarschaft.
He's the neighborhood bully.
Nun, die Chancen stehen dagegen und die Chancen sind gering
Well, the chances are against it, and the odds are slim
Dass er nach den Regeln lebt, die die Welt für ihn macht
That he'll live by the rules that the world makes for him
Weil er eine Schlinge im Nacken und eine Waffe im Rücken hat
'Cause there's a noose at his neck and a gun at his back
Und jedem Verrückten wird eine Lizenz erteilt, ihn zu töten
And a license to kill him is given out to every maniac
Er ist der Mobber in der Nachbarschaft.
He's the neighborhood bully.
Nun, er hat keine Verbündeten, von denen er wirklich sprechen könnte
Well, he got no allies to really speak of
Was er bekommt, muss er bezahlen, er bekommt es nicht aus Liebe
What he gets he must pay for, he don't get it out of love
Er kauft veraltete Waffen und wird nicht bestritten
He buys obsolete weapons and he won't be denied
Aber niemand schickt Fleisch und Blut, um an seiner Seite zu kämpfen
But no one sends flesh and blood to fight by his side
Er ist der Mobber in der Nachbarschaft.
He's the neighborhood bully.
Nun, er ist umgeben von Pazifisten, die alle Frieden wollen
Well, he's surrounded by pacifists who all want peace
Sie beten jeden Abend dafür, dass das Blutvergießen aufhören muss
They pray for it nightly that the bloodshed must cease
Jetzt würden sie keine Fliege verletzen.
Now, they wouldn't hurt a fly.
Um einen zu verletzen, würden sie weinen
To hurt one they would weep
Sie liegen und warten darauf, dass dieser Tyrann einschläft
They lay and they wait for this bully to fall asleep
Er ist der Mobber in der Nachbarschaft.
He's the neighborhood bully.
Jedes Reich, das ihn versklavt hat, ist verschwunden
Every empire that's enslaved him is gone
Ägypten und Rom, sogar das große Babylon
Egypt and Rome, even the great Babylon
Er hat einen Paradiesgarten im Wüstensand angelegt
He's made a garden of paradise in the desert sand
Mit niemandem im Bett, unter dem Kommando von niemandem
In bed with nobody, under no one's command
Er ist der Mobber in der Nachbarschaft.
He's the neighborhood bully.
Jetzt wurden seine heiligsten Bücher mit Füßen getreten
Now his holiest books have been trampled upon
Kein Vertrag, den er unterschrieb, war das wert, worauf er geschrieben stand
No contract that he signed was worth that what it was written on
Er nahm die Krümel der Welt und verwandelte sie in Reichtum
He took the crumbs of the world and he turned it into wealth
Hat Krankheit und Krankheit genommen und daraus Gesundheit gemacht
Took sickness and disease and he turned it into health
Er ist der Mobber in der Nachbarschaft.
He's the neighborhood bully.
Wofür ist ihm jemand verpflichtet?
What's anybody indebted to him for?
Nichts, sagen sie.
Nothing, they say.
Er mag es einfach, Krieg zu führen
He just likes to cause war
Stolz und Vorurteile und Aberglaube in der Tat
Pride and prejudice and superstition indeed
Sie warten auf diesen Tyrann wie ein Hund auf Futter
They wait for this bully like a dog waits for feed
Er ist der Mobber in der Nachbarschaft.
He's the neighborhood bully.
Was hat er getan, um so viele Narben zu tragen?
What has he done to wear so many scars?
Ändert er den Lauf der Flüsse?
Does he change the course of rivers?
Verschmutzt er den Mond und die Sterne?
Does he pollute the moon and stars?
Nachbarschaftsmobber, der auf dem Hügel steht
Neighborhood bully, standing on the hill
Die Uhr läuft aus, die Zeit steht still
Running out the clock, time standing still
Mobbing in der Nachbarschaft.
Neighborhood bully.
Quelle: LyricFind