Angeblich meiden Westdeutsche die vorpommersche Ostseeküste wegen des dort guten Abschneidens der AfD. Möglicherweise werden aber auch ein paar politisch willkommene Anekdoten zum Trend aufgeblasen. Die Ureinwohner stehen derweil zur blauen Welle.
„Seltsame“ Telefonanrufe seien bei Hotelbesitzer Bernd Herrgott in Ahlbeck auf Usedom eingegangen, und zwar ab vorletztem Sonntag. Grund: Das Wahlverhalten der Einheimischen. In Mecklenburg-Vorpommern war die AfD mit 35 Prozent als stärkste Kraft aus der Bundestagswahl hervorgegangen. An der ganzen Ostseeküste in diesem Bundesland soll es deshalb zu Absagen durch Urlauber kommen. Der Präsident des DEHOGA-Landesverbandes, Lars Schmidt – seines Zeichens CDU-Kommunalpolitiker – beklagte vergangene Woche, dass bei vielen Hoteliers mit dieser Begründung storniert worden sei.
Im genannten Ahlbeck habe das AfD-Wahlergebnis sogar 54 Prozent betragen, berichten Medien, darunter Bild. Die sind allerdings einer Verwechslung aufgesessen: Die Gemeinde Ahlbeck mit den 54 Prozent befindet sich jenseits des Stettiner Haffs bei Ueckermünde, während das Hotel des erwähnten Herrn Herrgott im Ortsteil Ahlbeck der Gemeinde Heringsdorf liegt – in dieser musste sich die blaue Partei mit gerade einmal 43 Prozent begnügen.
Der mediale Kronzeuge Herrgott schildert Anrufe wie den einer Niedersächsin, die lieber an „die Ostsee in Schleswig-Holstein ausweichen“ wolle, und passenderweise den eines von dort – nämlich aus Kiel – kommenden Ehepaares, das mittels einmaligen MeckPomm-Urlaubsboykotts „ein kleines Zeichen zu setzen“ beabsichtige. Eine weitere Touristin wolle wegen „ihres dunkelhäutigen Ehemanns“ nicht mehr kommen. Das erinnert an einen Artikel aus dem letzten Jahr, wo eine mit einem Schwarzen verheiratete Frau zitiert wurde: „Leider sind mein Mann und ich aufgefallen wie bunte Hunde“. Auch eine Alleinreisende fühle sich aufgrund der vielen AfD-Wähler dort „nicht mehr sicher“. Könnte ja einer hinterm nächsten Busch lauern. Der Beitrag setzt noch einen drauf: „Nicht nur Frauen oder People of Color meiden AfD-geprägte Gebiete, sondern auch Männer“. (Einziger) Beleg für letzteres: Ein Fan des – noch nicht als linksextremer Verdachtsfall eingestuften – Hamburger Fußballvereins St. Pauli habe sich „im Osten […] sehr unwohl gefühlt“.
Osten fällt hier als richtiges Stichwort, denn es beschränkt sich ja nicht nur auf die vorpommersche Ostseeküste, auch z.B. die mecklenburgische Seenplatte muss tabu sein für AfD-allergische Reisende. Der Ostharz, der Thüringer Wald, und natürlich die Sächsische Schweiz fallen ebenfalls flach, denn in den betreffenden Bundesländern konnte die blaue Partei noch höhere Ergebnisse erzielen als in Mecklenburg-Vorpommern. Aber Vorsicht, wer sich in westlicher Sicherheit wiegt: Auch im Wahlkreis Kaiserslautern errang die AfD den höchsten Zweitstimmenanteil, und in Gelsenkirchen – damit scheidet der Emscher-Strand als Badeort-Ersatz leider aus.
Der DEHOGA-Regionalvorsitzende in Ostvorpommern, Krister Hennige, rechnet übrigens gar nicht mit einem Urlauberschwund. Der Geschäftsführer mehrerer Hotels auf Usedom zeigt gegenüber dem NDR nicht einmal Wahlscham: „Die Küste ist bekannt für klare Kante – und dann gibt es eben mal eine klare Kante mit einer blauen Welle.“
Stinken gegen rechts
In Hamburg, wo die AfD bei der Bürgerschaftswahl zwar zulegen konnte, aber auf niedrigem Niveau, wurde ein Buttersäure-Anschlag auf einen Kandidaten der Partei verübt. Die übelriechende Substanz landete auf seinem Balkon. Die Brüstung desselben wurde zudem mit der Losung „AfD Nazi“ beschmiert. „Der linke Terror geht auch nach dem Wahlkampf weiter“, wettert Landeschef Dirk Nockemann (einst Senator für die Schill-Partei).
Bei Anruf Entschwörung
Haben „Sie in Ihrem Umfeld Probleme mit Verschwörungsdenken“? Benötigen „Sie auf Ihrer Arbeitsstelle Unterstützung“ gegen Verschwörungsdenker? Wollen Sie „sich selbst von Verschwörungsdenken lösen“? Dann sind Sie beim Beratungskompass Verschwörungsdenken genau an der richtigen Stelle. Diese recht neue Einrichtung wird mit 1,2 Millionen Euro prächtig angelegtem Steuergeld von der Bundesregierung finanziert, die Bundesministerinnen Lisa Paus (Grüne) und Nancy Faeser (SPD) sind voll des Lobes. „Verschwörungserzählungen“ sollen nämlich, so Faeser, „das Vertrauen in die unabhängige Wissenschaft, in freie Medien oder demokratische Institutionen […] zerstören“.
Dreimal pro Woche, jeweils für zwei Stunden, ist die Telefon-Hotline besetzt, der Internetchat ein- oder dreimal – da widerspricht sich die Website bereits auf ihrer Startseite. Bei Bedarf wird man an eine spezialisierte bzw. lokale Beratungsstelle verwiesen, z.B. an die Fachstelle für politische Bildung und Entschwörung der Amadeu Antonio Stiftung (AAS), die Angehörigenberatung bei demokratiefeindlichen Einstellungen des Landes Rheinland-Pfalz oder – dachten Sie, Karneval sei bereits vorbei? – das gemeinnützige Unternehmen Der goldene Aluhut. Dazu Kai Rebmann von reitschuster.de: „Bürger werden mehr oder weniger offen dazu aufgefordert, Kollegen, Nachbarn oder gar Familienangehörige mit einer nicht dem Mainstream entsprechenden Meinung anzuschwärzen – und sich selbst als Opfer, sprich ‚Betroffene‘ einer vermeintlichen Radikalisierung im engeren Umfeld zu fühlen.“
Schluss mit Kabarett
Der österreichische Kabarettist Alf Poier will kein neues Programm mehr auf die Bühne bringen. Einer der Gründe dafür: Er habe sich beim Schreiben „immer wieder gefragt: Kann man das noch sagen? Dann ist mir die Lust vergangen". Poier wurde schon früher als manch anderer, nämlich 2005, gecancelt, als er noch mal zum Eurovision Song Contest antreten wollte, bei dem er 2003 für Österreich einen guten Platz geholt hatte. Damals wurde das Telefon-Wahlverfahren in der nationalen Vorausscheidung kurzfristig so geändert, dass er nur als zweiter Sieger endete. Sein Song Good Old Europe Is Dying enthielt ursprünglich sogar die Zeile „und weil sich Mohammed so gut vermehrte, singt schon bald in Rom der Muezzin.“
Vor gut einem Jahrzehnt trennte sich Poiers langjähriger damaliger Manager von ihm. Dem Kabarettisten wurden seinerzeit wegen kritischer Äußerungen über Sänger Tom Neuwirth alias Conchita Wurst, der 2014 den erwähnten Eurovision Song Contest für Österreich gewonnen hatte, Homophobie und Transphobie vorgeworfen. Jener Manager betreute auch Neuwirth – bei dem es sich im Übrigen nicht um einen Transsexuellen, sondern um einen Travestiekünstler handelt. Poier bestreitet, ein Problem mit Homosexuellen zu haben: „Ich mag nur nicht, wenn das Thema so in den Vordergrund gespielt wird.“ Ein „Regenbogen-Konformismus" in Künstlerkreisen verhindere, dass sich andere mit einer ähnlichen Meinung wie er trauen würden, das offen auszusprechen.
Seines Rufes wegen habe der auch als Maler tätige Poier weniger Auftrittsmöglichkeiten erhalten, eines seiner Lieder sei kaum im Radio gespielt worden. 2021 beklagte er „die Auswüchse der Cancel Culture“, durch die im Kabarett „endgültig Schluss mit lustig“ sein könnte. Inzwischen hält sich der 58-Jährige oft in Thailand auf und seltener in Good Old Europe. Denn er könne sich „mit vielem in Österreich nicht mehr identifizieren“. Und: „Das Österreich, das ich in meiner Kindheit geliebt habe, gibt es nicht mehr", wie er der Zeitung Heute erzählt. „Ich lebe lieber in einer homogenen Gesellschaft“.
Kaum eröffnet, schon gecancelt
Bleiben wir bei der Kunst. Der Berliner Verein IAFF, der Ausstellungen veranstaltet, begegnet uns heute nicht zu ersten Mal. 2023 sagten der aus den Coronaprotesten entstandenen Organisation sehr kurzfristig zwei Örtlichkeiten ab, in denen eine Schau hätte stattfinden sollen – eine Galerie in Kreuzberg und ein Café in Neukölln. Am vergangenen Samstag hatte die Vernissage einer neuen Ausstellung bereits stattgefunden, bei der es – in Kooperation mit der feministischen Bundesinitiative Gewaltschutz – um das Thema Kinderschutz geht. Im Kulturcafé Fincan in Downtown-Neukölln hätte sie samt Rahmenprogramm noch bis zum 11. April gezeigt werden sollen.
Doch bereits am Sonntag, so das IAFF, hätten „Mitverantwortliche“ des Fincan ihr Veto eingelegt. Diese hatten offenbar bei mehreren der sechs ausstellenden Künstler „eine Nähe zur AfD oder zu Personenkreisen, die vom Verfassungsschutz beobachtet werden“, ausgemacht. Mit letzterem sind wohl „Staatsdelegitimierer“ gemeint. Zu den Künstlern, deren Werke präsentiert werden, gehört IAFF-Chefin Jill Sandjaja selbst; auf deren Haltung zur Coronatransformation hätte man auch vor der Vernissage leicht stoßen können. Der Verein sucht jetzt nach einer Ersatz-Location.
Sommer im Schatten
YouTuberin Cassandra Sommer sieht sich als Opfer von sogenanntem Shadowbanning. In den letzten Wochen brachen die durchschnittlichen Aufrufzahlen ihrer Videos dramatisch ein. Für sie kein Zufall, auch Abonnenten ihres Kanals berichten, dass ihnen die neuen Videos nicht angezeigt wurden. Sommer spricht darin meist mit Passanten und Interviewpartnern über Themen wie Migration, Integration, Islam und das politische Personal. Nach einem Video mit dem reißerischen Titel „Deutsche Städte sind toll – keiner spricht deutsch“ im vergangenen Monat ging es bergab. Durch diese mutmaßliche Reichweitenbeschränkung verliert Sommer Einnahmen. Jetzt will sie mit finanzieller Unterstützung ihrer Fans und rechtlicher von Anwälten gegen YouTube vorgehen.
Zwickau pazifistisch, die Zwote
Wie vor einem Monat berichtet, möchte der Stadtrat des sächsischen Zwickau mehrheitlich keine Werbung für die Bundeswehr mehr auf städtischen Flächen. Oberbürgermeisterin Constance Arndt (von einer Wählervereinigung) hatte gegen den Beschluss Widerspruch eingelegt, weil sie ihn für rechtswidrig und dem Ansehen der Stadt unzuträglich hält. Daraufhin musste die Befassung in der kommunalen Volksvertretung erneut erfolgen. Ergebnis: Der BSW-Antrag fand erneut eine Mehrheit, diesmal knapper. Und zwar wieder mit den Stimmen der „Rechten“: der AfD als größter Fraktion, dem Einzelratsmitglied der Freien Sachsen und zwei CDU-Abweichlern.
Weder echter Pazifismus noch Moskau-Nähe (die sich heutzutage in „Putin-Pazifismus“ niederschlägt) galten früher als rechts, aber die Zeiten ändern sich, und in Sachsen ticken die Uhren sowieso anders. Passenderweise hat die Rechtsaußen-Partei Freie Sachsen die NVA als „Armee des Friedens“ bezeichnet – in einem inzwischen gelöschten Telegram-Post. OB Arndt kann jetzt die Rechtmäßigkeit der Entscheidung von der Kommunalaufsicht prüfen lassen.
Spielen und vorsitzen, aber nicht präsidieren
Zuletzt noch ein weiterer Fortgang. Der FC Bundestag mit Spielern aus unterschiedlichen Fraktionen hat im letzten Jahr – wie berichtet – beschlossen, keine AfD-Leute mehr aufzunehmen. Künftig dürfen sie vielleicht wieder mitspielen. Wie unter Berufung auf Unionskreise spekuliert wird, könnte die CDU/CSU-Fraktion sich dem öffnen. Außerdem wolle sie wieder Ausschussvorsitzende von der blauen Partei zulassen. 2017 konnte die AfD die ihr proportional zustehenden Ausschussvorsitze besetzen, in der jetzt zur Neige gehenden Wahlperiode blockierte das die Konkurrenz. Allerdings wolle man sich unionsseitig die Kandidaten genau anschauen und eventuell welche durchfallen lassen. Siehe – wie hier vermeldet – den Brandenburger Landtag, der mehrere AfD-Abgeordnete als Ausschussvorsitzende durchgewinkt hat, wo einer aber keine Mehrheit fand. Anders als dort und in Sachsen soll der AfD auf Bundesebene aber weiterhin der Posten eines Parlamentsvizepräsidenten verwehrt werden. Das hat Friedrich Merz bekundet.
Und so endet der allwöchentliche Überblick des Cancelns, Framens, Empörens, Strafens, Umerziehens, Ausstoßens, Zensierens, Denunzierens, Entlassens, Einschüchterns, Moralisierens, Politisierens, Umwälzens und Kulturkämpfens. Bis nächste Woche!
Ein Archiv der Cancel Culture in Deutschland mit Personenregister finden Sie unter www.cancelculture.de. Um auch weniger prominente Betroffene aufnehmen zu können, sind die Betreiber der Website auf Hinweise angewiesen. Schreiben Sie ihnen gerne unter cancelculture@freiblickinstitut.de.
Christoph Lövenich ist Novo-Redakteur und wohnt in Bonn. Er hat zum Sammelband „Sag, was Du denkst! Meinungsfreiheit in Zeiten der Cancel Culture“ beigetragen.
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