Das Wort „Oberindianer“ in einem Lied von Udo Lindenberg wird für eine öffentliche Aufführung gestrichen, ein Kreuz im CDU/CSU-Fraktionssaal erregt Anstoß und manche wollen eine blasphemische Oper in Stuttgart vom Spielplan streichen.
Waren es letztes Jahr noch die „Indianer“ in einem Liedtext, die in der ARD wegzensiert wurden, sind wir jetzt schon beim „Oberindianer“ angelangt. Das Wort taucht in Udo Lindenbergs Sonderzug nach Pankow auf. In dem Song von 1983 wünscht sich der Barde einen Auftritt im Palast der Republik, es heißt u.a.: „Ich muss […] / Mal eben nach Ost-Berlin / Ich muss da was klär‘n mit eurem Oberindianer“. Gemeint war damit der Vorsitzende des Staatsrates der DDR und Generalsekretär des ZK der SED, Genosse Erich Honecker. Das Lied soll bei einer Veranstaltung des Berliner Humboldt-Forums dargeboten werden. Am übernächsten Wochenende singen dort acht Chöre unter dem Motto „Von Hanns Eisler bis Udo Lindenberg“.
Der Sonderzug nach Pankow soll dabei erklingen – immerhin, denn an gleicher Stelle stand einst der Palast der Republik, wo der bunte Panikrocker bei seinem Konzert genau dieses Lied nicht zum Besten geben durfte. Allerdings hat die Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss „nach einer offenen Diskussion mit den Chören und der künstlerischen Leitung […] entschieden, […] hierbei das Wort, das aus heutiger Sicht diskriminierend wahrgenommen werden kann, auszulassen.“ Die nicht de jure, aber de facto staatliche Stiftung erklärt gegenüber Bild weiter, „dass in dem Wort die Gewaltgeschichte der Kolonisierung indigener Bevölkerungsgruppen nachklingt“. Die Organisation hat sich im Postkolonialismus verheddert. Daher spricht sie das schmutzige Wort auch nicht aus, sonst müsste sie sich ja anschließend den Mund mit Seife auswaschen. Der „Oberindianer“ werde jedenfalls „von vielen indigenen Menschen, aber auch von vielen unserer nationalen und internationalen Besucher[…]n als diskriminierend und rassistisch wahrgenommen.“ Ob sich unter den ausländischen Besuchern auch chilenische Honecker-Fans befinden, die sich an dem Begriff stoßen?
Denn als „diskriminierend“ wurde das „Schmählied“ schon mal empfunden, und zwar bei Erscheinen. Die DDR werde nämlich diskriminiert, urteilte die Stasi damals. Den Staats- und Parteichef bezeichnete Lindenberg dort nicht nur als „Oberindianer“, sondern auch als „sturen Schrat“ und „Rocker“. Den Text zu verbreiten, sei daher eine Beleidigung nach § 139 StGB der DDR gewesen, so die Stasi. Diese später im DDR-Strafgesetzbuch ergänzte Norm schützte Bürger mit „staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit“ besonders.
Es ist ein Kreuz mit dem Kreuz
Maik Außendorf ist außer sich. Der Grünen-Bundestagsabgeordnete soll als Mitglied des Wirtschaftsausschusses nächsten Mittwoch in einem Raum tagen müssen, der ihm nicht behagt. Die Sitzung des Gremiums wurde in den CDU/CSU-Fraktionssaal verlegt. Dort musste bereits eine Sitzung des Digitalausschusses stattfinden, bei der Außendorf erschrocken feststellen musste, „dass dieser Raum nicht den Grundsätzen parlamentsneutraler [?] Arbeit entspricht“. Grund: Im Saal der Unionsfraktion hängt ein Kreuz, also ein christliches Symbol. Dort mit einem Ausschuss zu tagen, so der grüne Parlamentarier, „widerspricht dem Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche“. Er bittet Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD), für einen „weltanschaulich und religiös neutralen Sitzungssaal“ zu sorgen.
Inzwischen mag man im Bundestag zu größerer Kargheit neigen, traditionell strotzen Fraktionssitzungssäle in Parlamenten nicht unbedingt vor politischer Neutralität. Im Raum von Außendorfs eigener Fraktion hingen mal Wahlplakate der Partei (siehe hier und hier), bei der Linkspartei ein Banner mit einem Rousseau-Spruch, auch die FDP markiert ihr Revier und bei der CDU im NRW-Landtag befindet sich sogar eine Porträtgalerie aller ihrer Fraktionschefs an der Wand. „Die Forderung des Kollegen Außendorf zeigt einmal mehr, wie es um die viel beschworene Toleranz bei einigen Grünen bestellt ist“, reagiert Thorsten Frei, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag. Youtuberin Carolin Matthié diagnostiziert, dass die Grünen „es offensichtlich nicht ertragen können, wenn sie mal was nicht diktieren können.“
Nichts ist heilig
Umgekehrt lassen sich allerdings auch Christen von christlichen Symbolen auf die Palme bringen. Wenn es etwa um nackte Nonnen geht, die rollschuhfahren, blutend an Haken oder wie gekreuzigt hängen. Das bekommt bei der Performance SANCTA der Österreicherin Florentina Holzinger geboten. Holzinger bedient sich u.a. Paul Hindemiths Oper Sancta Susanna, deren Uraufführung in Stuttgart vor über 100 Jahren wegen Gotteslästerungs-Vorwürfen abgesagt wurde und schließlich in Frankfurt stattfand, wo sie einen Skandal auslöste. SANCTA wiederum wurde zwar nicht in Stuttgart uraufgeführt, aber dort zum Zankapfel.
Die Bild-Zeitung rief auf den Plan, dass bei den ersten beiden Aufführungen in der Schwabenmetropole vor wenigen Wochen 18 Zuschauer gegenüber dem Personal über Gesundheitsprobleme klagten, und in drei Fällen sogar der Notarzt hinzugezogen wurde. Dabei hatte die Staatsoper doch die Vorstellungen eigens mit der Altersgrenze 18 versehen und eine Trigger-Warnung vor „expliziten sexuellen Handlungen sowie Darstellungen und Beschreibungen von (sexueller) Gewalt“, vor „echtem Blut sowie Kunstblut, Piercingvorgängen und dem Zufügen einer Wunde“ sowie „Weihrauch“ ausgesprochen.
Möglicherweise habe dieser Weihrauch in der Luft zur Übelkeit im Publikum beigetragen. Jedenfalls bestreitet man bei der Kultureinrichtung, dass es an der Ekel-Inszenierung gelegen habe. Intendant Viktor Schoner zufolge seien die Unpässlichkeiten der in die Jahre gekommenen Lüftungsanlage geschuldet gewesen, die generell ärztliche Anwesenheit erfordere. Schauspielerin Annina Machaz, die in der Show einen teils nackten, teils einer Nonne den Hintern versohlenden Jesus verkörpert, schiebt die Vorfälle auf das hohe Alter der Zuschauer, die zu wenig tränken. Allerdings war bei einer Vorstellung in Wien die Konzertmeisterin genau während einer besonderen heiklen Szene (einer Darstellerin wird ein Stück Haut abgeschnitten) im Orchestergraben umgekippt und hatte sich dabei ihrerseits verletzt.
Angeblich hat das Publikum das Stück gefeiert. Gegner ereifern sich jedoch über „Blasphemie“, fordern in einer Online-Petition die Absetzung der Oper und haben am Samstag eine Protestdemo gegen eine SANCTA-Aufführung durchgeführt. Bei dieser Vorstellung bekamen wieder Zuschauer Kreislaufprobleme, anfangs störte ein Zwischenrufer. Die Gegner dürften – wie schon vor über 100 Jahren bei Hindemith – überwiegend im christlich-konservativen Spektrum beheimatet sein. Interessant ist die Reaktion des römisch-katholischen Stadtdekans in Stuttgart, Christian Hermes. Der Priester lobt an der Inszenierung zunächst sogar etwas, und zwar angesichts der „schlimmen Schuldgeschichte unserer Kirche“ ihren Umgang mit „patriarchaler und klerikal-religiöser Herrschaft“. Und in seiner Ablehnung verweist er auf „religiöse Gefühle“, die in diesem Fall fehlende „politische Korrektheit“, spricht halb-gendernd von „Mitarbeitenden und Besuchern“ und beklagt, dass „mit der mentalen Gesundheit der Menschen gespielt wird“. Klingt fast woke.
Kevin allein auswärts
Wer annimmt, dass es im Fall Kevin Behrens mit Kritik und Selbstkritik, Geldstrafe und Abmahnung sein Bewenden hat, der irrt. Der Wolfsburger Fußballspieler, dem nachgetragen wird, ein T-Shirt mit Regenbogenfarben als „schwule Scheiße“ abqualifiziert zu haben, hatte am Samstag in Hamburg einen schweren Stand. Beim Auswärtsspiel gegen den notorisch linken Verein FC St. Pauli zeigten dessen Fans Banner mit Sprüchen wie „Konsequenzen? Fehlanzeige! Fight homophobia“, „entBEHRENSwert“ und „Kevin, halt dein Kartoffelmaul“. Davon war in den Mainstream-Medien viel die Rede, anderes fand etwas weniger Erwähnung. Nämlich, dass Behrens beim Verlassen des Spielfelds mit Gegenständen beworfen wurde und von Ordnern mit Schirmen geschützt werden musste.
Davon war dann z.B. im Sport-1-Interview mit St.-Pauli-Präsident Oke Göttlich nicht die Rede, der Moderator sprach nur von „Protest“. Göttlich wünschte sich mehr Einsatz des DFB gegen Nationalspieler Behrens. Dieser wiederum hatte eine Woche zuvor auch von den eigenen Wolfsburger Vereinsanhängern Gegenwind erfahren. „Egal ob Daniela oder Kevin, Behrens halt’s Maul!“ stand auf einem Banner in den Rängen. Bei Daniela Behrens (SPD) – mutmaßlich nicht verwandt – handelt es sich um die niedersächsische Innenministerin. Sie hat den Zorn der Fans auf sich gezogen, weil sie kürzlich – unter Verweis auf Sicherheitsprobleme – mit dem Ausschluss von Wolfsburger Fans im Braunschweiger Stadion gedroht hatte.
Bevorstehender Rausschmiss
Auch heute darf die blaue Partei nicht fehlen. Die AfD-Bundestagsabgeordnete Gerrit Huy soll offenbar aus der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft (DPG) ausgeschlossen werden. Bei der DPG handelt es sich um eine Vereinigung von insbesondere aktiven und ehemaligen Mitgliedern des Bundestages, der Landtage und des EU-Parlaments, die hinter verschlossenen Türen Kontakte miteinander pflegen. Sie sitzt im ihr vom Bund überlassenen Reichstagspräsidentenpalais im Berliner Regierungsviertel. Nach Informationen der Berliner Zeitung will der DPG-Vorstand Huy auf der Mitgliederversammlung Ende des Monats ausschließen lassen, weil sie letztes Jahr an einem inzwischen hinlänglich bekannten Geheimtreffen in Potsdam teilgenommen hat.
Belgische Brandmauer
Huys Partei hatte in der vergangenen Wahlperiode des EU-Parlaments mit dem belgischen Vlaams Belang (ehemals: Vlaams Blok) in einer Fraktion gesessen. Um die flämische Rechtspartei legt man seit Jahrzehnten einen Cordon sanitaire, das Vorbild der deutschen Brandmauer. Eben jener wurde jetzt nach den Kommunalwahlen durchbrochen, und zwar in der 20.000-Stadt Ranst in der Provinz Antwerpen. Zwei lokale Wählervereinigungen schlossen jüngst eine Koalition mit dem Vlaams Belang. Verschiedene Politiker dieser Wählergruppen gehörten zugleich den in der nationalen Politik aktiven Parteien CD&V und OpenVLD an, den flämischen Äquivalenten von CDU und FDP. Diese schmissen die betreffenden Kommunalpolitiker gleich raus, weil sie gegen die Abgrenzung zum Vlaams Belang verstoßen hatten. Sehr zur Freude des Grünen-Veteranen Jos Geysels, eines der Architekten des cordon sanitaire, der ihn damit – trotz der Koalition in Ranst – grundsätzlich noch intakt sieht.
In der westflämischen Stadt Izegem – 30.000 Einwohner – wäre es beinahe ebenfalls zu einer Zusammenarbeit mit dem Vlaams Belang gekommen. Eine Wählervereinigung namens STiP+ hätte mit der Partei eine knappe Mehrheit im Stadtrat. Der Koalitionsvertrag war bereits unterschriftsreif, da musste STiP+ zurückziehen. Denn mehrere ihrer Mitglieder seien eingeschüchtert worden. Arbeitgeber hätten den ehrenamtlichen Kommunalpolitikern mit Entlassung gedroht, wenn sie die Koalition eingegangen wären; auch habe es Drohungen mit physischer Gewalt gegeben. Dagegen protestierten am Mittwoch 800 Menschen bei einer vom Vlaams Belang organisierten Demo, darunter auch STiP-Vertreter; Gegner einer Koalition hatten vergangenen Samstag nur 200 Teilnehmer mobilisiert.
Und so endet der allwöchentliche Überblick des Cancelns, Framens, Empörens, Strafens, Umerziehens, Ausstoßens, Zensierens, Denunzierens, Entlassens, Einschüchterns, Moralisierens, Politisierens, Umwälzens und Kulturkämpfens. Bis nächste Woche!
Ein Archiv der Cancel Culture in Deutschland mit Personenregister finden Sie unter www.cancelculture.de. Um auch weniger prominente Betroffene aufnehmen zu können, sind die Betreiber der Website auf Hinweise angewiesen. Schreiben Sie ihnen gerne unter cancelculture@freiblickinstitut.de.
Christoph Lövenich ist Novo-Redakteur und wohnt in Bonn. Er hat zum Sammelband „Sag, was Du denkst! Meinungsfreiheit in Zeiten der Cancel Culture“ beigetragen.
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