In Mannheim wird Islamkritik mit dem Messer gecancelt, in München will man einen kritischen Professor rausschmeißen, und AfD-Politiker durften nicht beim Katholikentag in Erfurt sprechen.
Michael Stürzenberger und seine Leute von der Bürgerbewegung Pax Europa (BPE) „geraten mitunter in aggressive Konfrontationen“, wie ich Ihnen vorletzten Winter schrieb. Der damalige Angriff auf die Islamkritiker in Bonn – Faust statt Messer – endete für einen 20-jährigen Schläger namens Tarek Al-G. mit einer Verfahrenseinstellung unter der Auflage, ein Sozialtraining abzuleisten. Stürzenberger – als einer von mehreren Verletzten – mutmaßte, dass eine drohende Netzhautablösung in seinem Auge durch den Schlag dieses jungen Mannes mit Palästinenserflagge ausgelöst worden sein könnte. Gefährliche Situationen hatte es bei BPE-Kundgebungen in den letzten Jahren immer wieder gegeben, so dass das Attentat in Mannheim am letzten Freitag (Achgut berichtete u.a. hier, hier und hier) keine Überraschung, sondern nur eine Frage der Zeit war. Wenigstens begab sich eine Notfallseelsorgerin mit Kopftuch (!) an den Tatort.
Stürzenberger – wiederum als einer von mehreren Verletzten – liegt mit Messerstichen im Krankenhaus, Polizist Rouven L. hat seinen Einsatz mit dem Leben bezahlen müssen. Immerhin meldeten sich mit Bundespräsident und Bundeskanzler auch diejenigen zu Wort, die sich sonst lieber über Sylter Sangesfreuden empören. Im Gegensatz zu den jungen Leuten auf der Nordseeinsel hat Sulaiman Ataee (offiziell 25) wohl keinen Rausschmiss oder eine Exmatrikulation zu befürchten, da er mutmaßlich Bürgergeld bezieht. Über die Motivation des langbärtigen Afghanen wollte man zu Anfang ohnehin nicht groß spekulieren. Der Mann hätte ja vielleicht Buddhist sein können – oder bei der AfD. Letzteres würde zumindest erklären, warum am Tag nach dem Attentat ausgerechnet gegen diese Partei lautstark demonstriert wurde. Eine Kundgebung von deren Jugendorganisation, der Jungen Alternative (JA), die unter dem Motto „Remigration hätte diese Tat verhindert!“ in EinMannheim stattfand, wurde sogar von Antifanten angegriffen, nach JA-Darstellung erlitt eines ihrer Mitglieder dabei eine Kopfverletzung.
Ebenfalls am Samstag mahnte die – räumlich unzuständige – Berliner Landespolizei auf Twitter: „Bitte verbreiten Sie zu dem Ereignis in #Mannheim keine Videos und beteiligen Sie sich nicht an Spekulationen. Das hilft niemandem.“ Hier jibt et nüscht zu seh‘n, weiterjeh‘n. Selbstverständlich haben gerade Videos zum Verständnis des Tathergangs beigetragen. So hat sich gezeigt, dass sich der inzwischen verstorbene Polizist aus gutem Grund auf einen Herrn in blauer Jacke gestürzt hat – der hatte nämlich auf jemanden eingeschlagen, der den Täter festhielt. Stürzenberger hätte übrigens keine stichsichere Weste tragen dürfen, da diese üblicherweise als Passivwaffe nach dem Versammlungsgesetz gilt und daher nicht bei einer Demo mitgeführt werden darf. Er schilderte vom Krankenbett aus, ein Münchner Polizeibeamter habe ihm gegenüber mal seine Befürchtung geäußert, mit Weste würde sich der Islamkritiker wohl „noch radikaler“ zu äußern trauen…
Missliebige Wahlkämpfer
Eine andere Messerattacke in Mannheim, sie fand am späten Dienstagabend statt, zeigt, dass in Wahlkämpfen zunehmend nicht nur Gewalt gegen Sachen wie Wahlplakate ausgeübt wird. Ein AfD-Gemeinderatskandidat erwischte offenbar einen 25-Jährigen dabei, wie er Wahlplakate dieser Partei mitnahm, die er zuvor entfernt hatte. Dabei stieß der junge Mann mit einem Teppichmesser zu, der Kandidat erlitt Verletzungen. Die Polizei verhaftete den 25-Jährigen und gelangte zur Blitzdiagnose einer psychischen Krankheit. Wahlkämpfer der Partei wurden jüngst ebenfalls in München und Halle/Saale gewaltsam attackiert. Aber auch andere politische Kräfte sind betroffen, so etwa die Initiative für Demokratie und Aufklärung (IDA) in Heidelberg. Die IDA tritt am Sonntag mit einer Liste für die Gemeinderatswahl an, auf Listenplatz zwei steht Achgut-Autor Gunter Frank, der seine Wahlkampferfahrungen hier wiedergab. Neben der Zerstörung von Plakaten ist es in der romantischen Universitätsstadt auch zu einer physischen Attacke auf eine plakatierende Kandidatin gekommen, wie diese schildert.
Wo man singt, da lass’ dich ruhig nieder
Wo wir eben schon bei Sylt waren: Das Lied L’amour toujours wird nun auch von der UEFA in den Giftschrank gesperrt. Der europäische Fußballverband verbietet dem Österreichischen Fußball-Bund (ÖFB) das Abspielen des von ihm angemeldeten Songs bei der EM in Deutschland. Oft hatte der ÖFB das Stück von Gigi d’Agostino nach dem Abpfiff verwendet. Das Problem liegt freilich nicht im Lied selbst, sondern in der Angst vor ergänzendem Mitsingen begründet. Ob bei alpenländischen Fans großdeutsche Aufwallungen befürchtet werden? Vielleicht sollte die UEFA sie vorsorglich auch davor warnen, wie österreichische Studenten im Jahre 1848 die Parole „Einer für alle, alle für einen, alles für Deutschland“ zu verwenden.
Einen Professor loswerden
Erinnern Sie sich noch an Prof. Günter Roth? Ihn hatte die Hochschule München (HM) 2022 unrechtmäßig abgemahnt, weil er sich hochschulintern kritisch zur Coronapolitik geäußert, und dabei u.a. auf eine bei Achgut erschienene, von ihm mitunterzeichnete Erklärung gegen den Impfzwang verwiesen hatte. Ohne hellseherische Gabe zog ich damals in Zweifel, dass „Roth die von ihm gewünschte Entschuldigung und Aufarbeitung seitens der Hochschule München erhält“. In der Tat ist es ganz anders gekommen. Zum einen wurde der angestellte Hochschullehrer im Bereich Soziale Arbeit letztes Jahr zu einer amtsärztlichen Untersuchung vorgeladen, was er als „schikanös“ empfand. 2022, so seine Darstellung, sei er mal mehrere Wochen krankgeschrieben gewesen, 2023 aber keinen einzigen Tag. Die Untersuchung, zu der er unter dem Druck einer Abmahnung dieses Jahr dann doch erschien, habe keine Einschränkung seiner Arbeitsfähigkeit ergeben.
Zugleich seien ihm bei einem Antrag auf ein Forschungsfreisemester in diesem Semester Steine in den Weg gelegt worden. Eine solche bei Professoren übliche gelegentliche Freistellung von der Lehre in einem Semester habe der Hochschulpräsident in seinem Fall – sachfremd – mit der Erwartung verknüpft, dass Roth einen Aufhebungsvertrag unterzeichne und diesen Herbst in den Vorruhestand trete. Der Professor, der sich als „links orientiert“ einordnet, würde nach drei weiteren Semestern ohnehin die Regelaltersgrenze erreichen. Am Ende sei sein Antrag abschlägig beschieden worden und zwar ganz kurz vor dem geplanten Forschungssemester. „In meiner über ca. 15 Jahre dauernden Tätigkeit an der Hochschule München habe ich noch nie eine Ablehnung eines Antrags […] auf Freistellung für Forschung (oder Praxis) von […] Kollegen erlebt“, so der Betroffene. Durch die zeitliche Enge sei es nicht mehr möglich gewesen, Lehrveranstaltungen für das jetzt laufende Semester zu organisieren. Möglicherweise deshalb hatte Roth Anfang letzten Monats die fristlose Kündigung im Briefkasten. Die Hochschule will sich dazu gegenüber Achgut nicht näher äußern – mit Verweis auf Datenschutz und Prozesstaktik. Denn der Fall liegt beim Arbeitsgericht.
Gott ist trans, aber nicht bei der AfD
Am Sonntag endete der Katholikentag in Erfurt. Hatte der evangelische Kirchentag letztes Jahr bereits vorgelegt („Gott ist queer“, „Wir sind alle die Letzte Generation“), wollte das Großevent in Trägerschaft des ZK der deutschen Katholiken dem in nichts nachstehen. „Der Leib Christi ist queer“ hießen zwei Veranstaltungen, ein „Gütesiegel“ für „queersensible Gemeinden“ wurde diskutiert – jeweils in den Räumen von Martin Luthers früherem Kloster –, und selbstverständlich stand auch ein Workshop mit dem Titel „G*tt ist trans*“ auf dem Programm. Verschiedene „Klimaaktivisten“ saßen auf Podien, politische Größen wie Kevin Kühnert (SPD) oder Robert Habeck (Grüne) durften nicht fehlen.
Bei der Eröffnungsveranstaltung sah man auch zwei Frauen mit Kopftüchern, davon eine mit Pali-Schal, auf der Bühne. Aber Vielfalt hat bekanntlich ihre Grenzen, und so waren AfD-Vertreter zu Diskussionsveranstaltungen nicht eingeladen – wenngleich diese Partei „im Freistaat momentan die größte Zustimmung erfährt“, woran Alexander Kissler in der NZZ erinnert. Übrigens weist das Programm dort auch keine CDU/CSU-Vertreter aus. Kissler bilanziert den Katholikentag als „Hochfest linker Gesinnungstüchtigkeit“. Zwischenzeitlich intervenierte selbst Petrus, bei der Teilnehmerzahl stellte man einen „Negativrekord“ auf.
Wagenknecht muss sich einklagen
Nicht eingeladen wurde auch das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), und zwar zur ARD-Wahlarena gestern Abend. Nur Vertreter von CDU, CSU, SPD, Grünen, FDP, AfD und Linkspartei sollten in der Fernsehsendung vor der Europawahl diskutieren dürfen. Der WDR als zuständiger behördlicher Rundfunk argumentierte u.a., mehr als sieben Teilnehmer seien zu viele. Dem BSW gelang es aber, per Eilantrag beim Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster zu erwirken, dass es auch dabei sein darf. Das OVG verwies dabei auf die Werte der jungen Partei in den Umfragen. Das BSW dürfte am Sonntag stärker abschneiden als mehrere der Etablierten.
Die Pflichten eines OB
Um eine Einladung geht es auch im nächsten Fall. Tim Lochner amtiert als neuer Oberbürgermeister im sächsischen Pirna; in dieser Funktion ist er zum Schulfest des örtlichen Friedrich-Schiller-Gymnasiums eingeladen worden. Dagegen regt sich Protest, weil der Parteilose für die AfD angetreten war. In einem Brief fordern Gymnasiasten, ehemalige Schüler und Eltern den Schulleiter auf, das Stadtoberhaupt auszuladen, berichtet Bild. Schulleiter Kristian Raum lässt sich davon nicht beirren. „Der Besuch der Schulen der Stadt Pirna gehört zu seinen Dienstpflichten.“ Man müsse „miteinander reden [i.o. fett], einen Diskurs anbieten“. Der OB lässt ähnliches verlauten: „Im Gespräch zu bleiben, auch zu kontroversen Themen, liegt im Interesse der gesamten Stadtgesellschaft.“
Den Tatort meiden
Rammstein genießt seit Jahrzehnten Weltruf, davon blieb die Berliner Musikerin Christiane Rösinger, die in Bands wie den Lassie Singers und Britta gesungen hat, bisher verschont. Immerhin wurde ein „wohnungspolitisches Musical“ aus ihrer Feder in Kreuzberg aufgeführt. Beinahe gekreuzt hätte sich ihr Weg mit Rammstein-Keyboarder „Flake“ Lorenz, und zwar in einem Tatort. In einer neuen Folge des Wiesbadener Tatort (mit Ulrich Tukur, Regie: Dietrich Brüggemann) war Rösinger nämlich neben Lorenz für eine Gastrolle vorgesehen. Als sie jedoch erfuhr, dass auch ein Rammstein-Bandmitglied mit von der Partie sein würde, sagte sie ab, da sie „auf keine Weise mit dem System Rammstein in Verbindung gebracht werden will.“ System Rammstein – das klingt wie System Putin. Gemeint sind wohl die Vorwürfe rund um das Sexualleben von Rammstein-Sänger Till Lindemann. Der HR als produzierender Sender entgegnet: „Die in den Medien erhobenen Vorwürfe gegen ihn wurden nicht vor Gericht gebracht. Für uns gilt die Unschuldsvermutung.“ Ins Rollen gebracht worden war die Kampagne letztes Jahr von einer als Zeugin etwas zweifelhaften Nordirin.
Bücherbereinigung
Zuletzt sei noch auf „Zensur in Bibliotheken“ hingewiesen – so ist ein Interview überschrieben, das Journalistin Milena Preradovic mit Achgut-Gastautor Uwe Jochum geführt hat. Der wissenschaftliche Bibliothekar, der zu diesem Thema kürzlich in einem Sammelband publiziert hat, spricht darin über „Bestandsbereinigungsmaßnahmen“ in Büchereien, die aus seiner Sicht 2015 mit dem Aussortieren von Katzenkrimis aus der Feder Akif Pirinçcis begonnen haben. Heute schaffe man kritische Bücher vielfach gar nicht erst an, am allerwenigsten solche, die bei Verlagen wie Kopp oder Antaios erschienen sind. Bei einer Recherche Jochums ergab sich, dass in ganz Berlin nur eine einzige öffentliche Bibliothek das Buch Verteidigung des deutschen Kolonialismus aus dem Manuscriptum-Verlag bereithielt. Oft würden ‚umstrittene‘ Bücher nicht mehr zur Ausleihe, sondern nur noch zum Lesen vor Ort angeboten.
Und so endet der allwöchentliche Überblick des Cancelns, Framens, Empörens, Strafens, Umerziehens, Ausstoßens, Zensierens, Denunzierens, Entlassens, Einschüchterns, Moralisierens, Politisierens, Umwälzens und Kulturkämpfens. Bis nächste Woche!
Ein Archiv der Cancel Culture in Deutschland mit Personenregister finden Sie unter www.cancelculture.de. Um auch weniger prominente Betroffene aufnehmen zu können, sind die Betreiber der Website auf Hinweise angewiesen. Schreiben Sie ihnen gerne unter cancelculture@freiblickinstitut.de.
Christoph Lövenich ist Novo-Redakteur und wohnt in Bonn. Er hat zum Sammelband „Sag, was Du denkst! Meinungsfreiheit in Zeiten der Cancel Culture“ beigetragen.
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