Wenn die Diskussionen so weitergehen, geht es bald den Böllern an den Kragen. Ebenso wie dem traditionellen Pin-up-Kalender des Schraubenkonzerns Würth, über den sich eine prüde Journalistin beschwert hatte. Und in Sachsen bekam ein Priester Ärger wegen einer „homophoben“ Weihnachtspredigt.
Da fing das neue Jahr gleich gut an. Obwohl die meisten Baumärkte Feuerwerkskörper aus dem Sortiment genommen hatten – wegen „Tier- und Umweltschutz“, „Nachhaltigkeit“ sowie „Haltung“ – ließ sich zumindest ein Großteil der Nachfrage anderweitig befriedigen, etwa über Discounter. Nach zwei Silvestern unter der Knute der Coronapolitik lebte der alte Brauch wieder verstärkt auf. Zum letzten Mal? Denn wie seit Jahren wird wieder ein generelles Böller-Verbot gefordert, diesmal unter anderem von Bundesärztekammerpräsident Klaus Reinhardt, der zuletzt Medikamenten-Flohmärkte und Gendern auf Beipackzetteln vorgeschlagen hatte. Dem Mediziner geht es um „Umwelt und Klima“, Verletzungen des Innenohrs sowie um „Geflüchtete aus Kriegsgebieten“, die die Geräuschkulisse unangenehm berühre.
Weniger zimperlich agieren hingegen diejenigen, die den jüngeren Silvesterbrauch des Beschießen und Bewerfens mit Feuerwerkskörpern eingeführt haben. „Wie auf Bestellung fordert die Gewerkschaft der Polizei nun ein Böllerverbot“, bemerkt Ulrike Stockmann. Da kommt ein Sammelsurium an Gründen für weitere Eingriffe ins Feiergeschehen zusammen – wer weiß, wer Ende dieses Jahres noch Pyrotechnik verkaufen darf oder möchte. Vielleicht kommen ja Elektro-Surrogate auf den Markt, wie bei Zigaretten und Autos.
Nackte Haut
Neues Jahr, neuer Kalender. Oder gar keiner mehr, denn der Schraubenkonzern Würth aus Baden-Württemberg hat seinen Pin-up-Kalender nunmehr eingestellt. Der soll bisher traditionell an den Wänden diverser Werkstätten geprangt haben. Vermutlich hauptsächlich in der Frauen-Version, obwohl es seit 20 Jahren auch eine Ausgabe mit dem anderen Geschlecht gegeben hat. Solche Druckwerke sind in den vergangenen Jahren zunehmend in Verruf geraten.
Kettensägen-Weltmarktführer Stihl etwa beendete sein erotisches Periodikum schon vor zwei Jahren. Die Schwaben sprachen damals von „gesellschaftlichen Entwicklungen, deren Debatten und Kontroversen wir bei Stihl sehr genau verfolgt und diskutiert – und in deren Verlauf wir neue Denkanstöße und Einsichten gewonnen haben“. Ein wesentlicher Denkanstoß war die Drohung der schwedischen Forstagentur, keine Produkte des Unternehmens mehr zu erwerben, falls es sich nicht von der nackten Haut verabschiedet hätte. Dabei war der Kalender in Schweden selbst seit vielen Jahren nicht mehr auf dem Markt, aber man nimmt dort gerne die Stellung eines globalen Missionars ein.
Alles Würth gut
Im aktuellen Fall Würth hat, so heißt es, Natalie Amiri, Journalistin beim Bayerischen Rundfunk (BR), den Ausschlag gegeben. Amiri war als ARD-Studioleiterin „die Stimme Teherans im deutschen Fernsehen“ und auf iranischem Boden gesetzestreue Kopftuchträgerin. „What the f…... Gerade in einer Firma hängen gesehen. Dachte sind Relikte aus den 80’s“, klagte die Tochter eines persischen Teppichhändlers auf Twitter über den Kalender. „Das sowas noch von Firmen verschickt wird …“
Tja, jetzt ist Schluss. „Der respektvolle und wertschätzende Umgang miteinander“ bei der Würth-Gruppe verbietet ab jetzt solche Bilder. Bleibt noch der legendäre Pirelli-Kalender. Der hält sich nur, weil dort schon lange „die Anstandstanten gesiegt“ haben und man das „künstlerisch Wertvolle“ und politisch Korrekte in den Mittelpunkt stellt. Die 2023er-Ausgabe „feiert Diversity“, wie die Deutsche Welle schreibt. Abgebildet sind unter anderem schwarze Frauen, eine Chinesin, rundere „Body-Positivity“-Vertreterinnen, eine Dame mit Beinprothesen, eine selbsterklärte „Pansexuelle“ und eine angebliche Nachfahrin des „Scheichs von ganz Galiläa“. Da sollte für jeden Mitarbeiter der Autowerkstatt etwas dabei sein.
Who guards the guardians?
Ein Rückblick ins alte Jahr sei noch gestattet: Vor zwei Wochen war hier von NewsGuard die Rede, einem Medien-Bewertungs-Portal, das die Spreu vom Weizen der Websites unterscheiden will. In seinen Top 10 der deutschsprachigen Desinformationsseiten hat Achgut.com zwei Plätze gut gemacht und ist auf dem Treppchen gelandet, mit der Bronzemedaille. Silber geht an den russischen Staat mit Russia Today (seit März in der EU gesperrt) und Gold an die chinesische Opposition mit der Epoch Times (in China gesperrt). Um ein wenig Wasser in den Wein zu schütten: Die Auswahl der in den sozialen Medien reichweitenstärksten „bösen“ Websites (und damit die der Konkurrenz um die Tabellenplätze) erfolgt möglicherweise ähnlich kreativ wie die Unterscheidung von Information und Desinformation.
Aber es gibt auch Hoffnung in Form von „glaubwürdigen, häufig geteilten Nachrichtenseiten“, wie der BR stolz mitteilt. Er selbst ist im Ranking der laut NewsGuard vertrauenswürdigsten Medien auf Platz 6 abgestürzt, angeführt wird die Liste vom Hamburger Spiegel, der erst jüngst einräumen musste, eine offenbar erfundene Geschichte um den Tod eines nicht-existenten Flüchtlingsmädchens verbreitet zu haben. (Achgut.com berichtete.) Einst „Sturmgeschütz der Demokratie“, heute zischende vegetarische Gulaschkanone an der Einfahrt zum Bundeskanzleramt.
Das Klima ist an allem schuld
Der dermaßen glaubwürdige BR verdient übrigens seine dritte Erwähnung in der heutigen Kolumne, weil er einen eigenen Tweet wieder gelöscht hat. Den tragischen Tod zweier deutscher Jugendlicher in Tirol, die beim Skifahren von der Piste abgekommen und abgestürzt waren, versah der Sender mit dem Hashtag „Klimawandel“. Dies hätte zu „Missverständnissen“ geführt, begründete er die Löschung.
Dissonante Weihnachten in der Oberlausitz
Im Landkreis Bautzen, wo kürzlich der Landrat Ärger wegen seiner Weihnachtsansprache zur Flüchtlingspolitik bekam, hat inzwischen eine Wittichenauer Weihnachtspredigt Wellen geschlagen. Pater Joachim Wernersbach hielt in einer Kirche der sächsischen Kleinstadt eine „homophobe“, „queerfeindliche“ und „frauenfeindliche“ Predigt voller „Menschenverachtung“, wie es heißt. Der wenig woke Wernesbach wörtlich:
„Man hört von Gender und Transgender, von Transhumanismus und reproduktiver Gesundheit, von Wokeness und LGBTIQ, von Diversität und Identität, von multiplen Geschlechtern und Geschlechtsumwandlungen […]. Schon die Begriffe, meine Lieben, sind absolut befremdlich. […] Es fehlt ihnen an Schönheit, es fehlt ihnen an Stimmigkeit und es fehlt ihnen an Natürlichkeit. […] Sie sind nicht im Einklang, nicht in Harmonie mit der unvorstellbar schönen göttlichen Ordnung. Eine große Dissonanz ist über unser Land hereingebrochen.“
Außerdem kritisierte der Ordenspriester den Reformprozess des Synodalen Weges und hob jene positiv hervor, „die an die traditionelle Familie glauben“ statt „schädlichen modernen Strömungen [zu] folgen“. Mit derlei Vorstellungen befindet er sich freilich nicht im Einklang, nicht in Harmonie mit dem Zeitgeist. Da Wernersbach die Predigt ausgerechnet an Weihnachten gehalten hatte, wo Publikum die Kirchenbänke füllt, ließ öffentlich artikulierter Unmut ob der Äußerungen nach den Feiertagen nicht lange auf sich warten. Die Kirchengemeinde nahm das Video von dem Gottesdienst bei YouTube wieder herunter, es gab eine Online-Petition. Das saarländische Benediktinerkloster, dem Wernersbach angehört, distanzierte sich von den Aussagen, der Abt hat ihm „vorläufig jede Art der pastoralen Tätigkeit im Umland der Abtei Tholey untersagt“. Außerdem soll eine „kirchliche Untersuchung mit Analyse des Predigttextes und der Fürbitten“ erfolgen.
Kein Sex in der Christmesse
Wittichenau, wo sich Joachim Wernersbach seit vorletztem Jahr als Aushilfspriester betätigt, liegt in der Zuständigkeit des Görlitzer Bischofs Wolfgang Ipolt. Der Pater habe sich „unüberlegt und unverantwortlich geäußert“, so Ipolt diese Woche, und „Gläubige vor den Kopf gestoßen“. Sexualmoral gehöre nicht in einen Weihnachtsgottesdienst. Der Oberhirte hat Wernersbach zu sich bestellt und erwartet eine Entschuldigung. Außerdem wolle er mit dessen Abt über „weitere Schritte“ sprechen.
Richter abgesetzt
Bleiben wir bei der römisch-katholischen Kirche. Wie jetzt bekannt wurde, ist ein Kirchenrichter des Erzbistums Köln Ende November seiner Aufgabe enthoben worden. Priester Gero P. Weishaupt war bereits seit Februar letzten Jahres wegen auf Facebook getätigter Aussagen als Diözesanrichter beurlaubt. Es ging um einen Artikel der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA), den verschiedene Medien publiziert hatten und der sich mit der Finanzierung eines Projektes des Erzbischofs Kardinal Woelki kritisch auseinandersetzte. Weishaupt nahm Kardinal Woelki daraufhin in Schutz. Aus Sicht Weishaupts handelte es sich bei der Kritik um „propagana (!), wie wir sie seit Göbbels (!) kennen“. Dem Kölner Domradio im Besonderen warf er vor, sich durch Kritik an Woelki zum „Propaganaorgan (!) des antikirchlichen Linkskatholizismus“ zu machen. Wegen dieser Wortwahl war es Anfang 2022 gleich zu Kritik und Zweifeln an der Eignung des Kanonisten gekommen.
Je suis encore Charlie
Nun zu einer anderen monotheistischen Religion. Das französische Satiremagazin Charlie Hebdo hat im vergangenen Monat einen internationalen Karikaturenwettbewerb ausgerufen, der sich unter dem Motto „#MullahsGetOut“ gegen den iranischen Staatschef Ali Chamenei wendet. Chamenei, für die französische Zeitschrift das „Symbol rückwärtsgewandter, engstirniger und intoleranter religiöser Macht“, und sein Regime sollen auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt werden. Nach der Veröffentlichung einiger Zeichnungen reagiert die Teheraner Führung beleidigt. Der französische Botschafter wurde vor wenigen Tagen einbestellt, Charlie Hebdo landete auf einer Sanktionsliste der Mullahs – wo sich das Magazin nun in illustrer Gesellschaft von Claudia Roth befindet.
Schnitzeljägerin wird zur Gejagten
Die Universität Syracuse im US-Bundesstaat New York war hier unter meinem Kolumnen-Vorgänger schon mal Thema, als sie eine Studentin bestrafte, weil diese einen Kommilitonen gefragt hatte, ob er registrierter Sexualstraftäter sei. Der Bürgerrechtsorganisation FIRE zufolge steht die Hochschule im „dystopischen Ruf“, ihre Studenten für alles Mögliche bestrafen, von Facebook-Kommentaren bis hin zu parodistischen Aufführungen bei Verbindungspartys.
Jetzt hat es die im Campusleben aktive Studentin Erien Uppal erwischt, da sie eine Schnitzeljagd für andere engagierte Kommilitonen organisiert hatte. Zu den (freiwilligen) Aufgaben gehörte, die Lincoln-Statue abzulecken, eine Treppe herunterzurollen oder auf einer romantischen „Kussbank“ einen anderen Teilnehmer zu küssen. Laut Unileitung kann es aber psychische Schäden verursachen, unter möglichem Gruppendruck jemanden auf den Mund zu küssen; Herunterrollen könnte zu Wehwehchen führen, und die Statue ist nicht desinfiziert. Zwar hat einer Befragung zufolge kein einziger Teilnehmer körperliche oder psychische Schäden davongetragen, aber die Uni zeigt sich unerbittlich: Uppal wird für Monate suspendiert, muss 45 Arbeitsstunden leisten und verschiedene Aufgaben erledigen.
Den Mund aufmachen
Dem „Freiheitsindex 2022“ des Allensbach-Instituts zufolge findet eine große Minderheit von stattlichen 48 Prozent der Befragten, dass man in Deutschland frei reden könne. Demgegenüber sind 37 Prozent der Auffassung, man solle beim Äußern seiner Meinung besser „vorsichtig“ sein. (Achgut.com berichtete.) So wird man nicht zum redseligsten Deutschland aller Zeiten. Im Vergleich zum Vorjahr zeichnet sich dabei eine leichte Entspannung ab: Da sahen nur 45 Prozent die Meinungsfreiheit in Deutschland als gegeben an und ganze 44 Prozent gehörten zum „Team Vorsicht“ beim Mundaufmachen. Besteht etwa Anlass zum Optimismus? Nun, je mehr sich etwas traut, umso ungefährlicher wird es für den Einzelnen. Weniger Zurückhaltung sollte also das Gebot des neuen Jahres sein.
Und so endet der allwöchentliche Überblick des Cancelns, Framens, Empörens, Strafens, Umerziehens, Ausstoßens, Zensierens, Entlassens, Einschüchterns, Moralisierens, Politisierens, Umwälzens und Kulturkämpfens. Bis nächste Woche!
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