„Der jüngste Fall von Campus-Cancel-Culture ist anders“, schreibt im Magazin Atlantic der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Yascha Mounk. Die kürzliche Ausladung des renommierten Klimaforschers Dorian Abbot durch die private Elitehochschule Massachusetts Institute of Technology (MIT) unterscheide sich „qualitativ von anderen Fällen, in denen in letzter Zeit Einladungen zurückgenommen wurden, und deutet darauf hin, dass sich der Umfang der Zensur weiter verändert und ausweitet.“
Was war vorgefallen? Dorian Abbot war im August Co-Autor eines Artikels in der Zeitschrift Newsweek. Die Autoren Abbot und Ivan Marinovic (ein Professor für Rechnungswesen) sprachen sich in diesem Beitrag gegen Diversity-Bemühungen an Universitäten aus. Die positive Diskriminierung bestimmter Rassen bei Bewerbungsprozessen verstoße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz. Stattdessen sollten „Hochschulbewerber als Individuen behandelt und in einem strengen und unvoreingenommenen Verfahren allein auf der Grundlage ihrer Verdienste und Qualifikationen bewertet werden“ (das ist gesamtgesellschaftlich betrachtet keine besonders kontroverse Meinung, laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center von 2019 sehen 74 Prozent der Amerikaner das auch so).
Zuvor hatte Abbot auf YouTube Videos veröffentlicht, in denen er Ausschreitungen in Chicago, die nach der Tötung des Afroamerikaners George Floyd durch weiße Polizisten ausgebrochen waren, verurteilte. Wegen dieser Videos versuchten woke Aktivisten, die Entlassung des Klimaforschers durch seinen Arbeitgeber, die University of Chicago, zu erwirken. Doch das missglückte. In einer Stellungnahme stellte sich der Hochschulpräsident klar auf die Seite der Meinungsfreiheit, damit war die Sache entschieden.
Schlimmer, gefährlicher Redner
Und so schossen sich die Aktivisten auf einen Vortrag ein, den Abbot diesen Monat am MIT in Boston halten sollte. Es handelt sich um die alljährlich stattfindende John-Carlson-Vorlesung, in der der Öffentlichkeit „aufregende neue Erkenntnisse in der Klimawissenschaft“ präsentiert werden. Dorian Abbot wollte über das Klima und das Potenzial für Leben auf anderen Planeten reden. Das ist ihm nun tatsächlich von der Elitehochschule verwehrt worden mit Verweis auf obigen Newsweek-Beitrag gegen positive Diskriminierung, auf den die antirassistischen Aktivisten das MIT via Social Media hingewiesen hatten. „Nach einem Aufschrei auf Twitter wurde ein Wissenschaftler aus Gründen, die nichts mit dem Vortrag selbst zu tun hatten, daran gehindert, einen Vortrag am MIT zu halten“, resümiert Yascha Mounk diesen bizarren Cancel-Culture-Fall.
Abbot wird den geplanten Klima- und Weltallvortrag nun am 21. Oktober an der ebenfalls privaten Princeton University in New Jersey halten, auf Einladung eines dortigen Professors. Am MIT soll dieser schlimme, gefährliche Redner diesen Monat nach wie vor sprechen, allerdings nicht im großen Auditorium vor tausenden Zuhörern, sondern nur vor einer kleineren Gruppe ausgewählter Professoren und Doktoranden des Fachbereichs Erd-, Atmosphären- und Planetenwissenschaften.
Die zweite Kulturrevolution
Doch nicht nur über diesen Fall von Cancel Culture wird in den englischsprachigen Medien zur Zeit ausgiebig berichtet. Es gibt in der angloamerikanischen Hochschulwelt noch zwei weitere ebenso extreme und schwer nachvollziehbare aktuelle Fälle. An der Universität Michigan darf Professor Bright Sheng seit kurzem nicht mehr Musikkomposition unterrichten. Die Musik des Komponisten, Dirigenten und Pianisten chinesischer Herkunft wurde unter anderem von den New Yorker Philharmonikern und dem Nationalen Symphonieorchester der Volksrepublik China aufgeführt. Für den Staatsbesuch des chinesischen Premierministers Zhu Rongji in den USA 1999 gab die amerikanische Regierung bei ihm Stücke in Auftrag. Doch das zählt nun alles nichts mehr, denn Sheng hat den offenbar unverzeihlichen Fauxpas begangen, seinen amerikanischen Studenten eine Verfilmung von William Shakespeares „Othello“ aus dem Jahr 1965 zu zeigen, in der der weiße Schauspieler Laurence Olivier schwarzes Make-Up trägt, um den namensgebenden Mohren von Venedig zu spielen.
Sheng wollte damit eigentlich zeigen, wie der Komponist Giuseppe Verdi Shakespeares Drama als Oper neu interpretiert hat. In der Oper seien solche rassenübergreifenden Rollenbesetzungen normal, sagte der chinesischstämmige Komponist der Campuszeitung Michigan Daily. Er habe Laurence Oliviers Auftritt schlicht nicht mit der tatsächlich rassistischen Tradition des Blackfacing in den sogenannten Minstrel Shows des 18. und 19. Jahrhunderts in Verbindung gebracht.
Als unter Studenten und Hochschulmitarbeitern ein Riesen-Shitstorm ausbrach, entschuldigte sich Sheng zweimal schriftlich für die unbedachte Filmvorführung. Die Unileitung will ihm trotzdem nicht verzeihen. „Professor Shengs Handlungen stehen nicht im Einklang mit dem Engagement unserer Hochschule für antirassistische Maßnahmen, Vielfalt, Gleichberechtigung und Integration“, urteilt der Dekan des Fachbereichs Musik, Theater und Tanz, David Gier. In Absprache mit Gier will Sheng bis auf Weiteres seine reguläre Lehrtätigkeit ruhen lassen. Er bleibt Mitarbeiter der Uni, darf weiter an Forschungsvorhaben arbeiten und Studenten in seinem Studio unterrichten.
Die jetzige ist übrigens schon die zweite Kulturrevolution, die der 1955 in Schanghai geborene Komponist und Musiker durchmacht. Während der chinesischen Kulturrevolution 1966–1976 konfiszierten Rotgardisten das Klavier der Familie als „bürgerlichen“ Luxus und verfrachteten den jungen Mann für sieben Jahre in die traditionell von Tibetern bevölkerte Hochlandprovinz Qinghai. (Quellen: Spiked, Michigan Daily)
Auf dem Campus brannten Bengalos
Im Dezember 2020 war die Ausladung der britischen Philosophin (und Achgut.com-Gastautorin) Kathleen Stock von einer Tagung des Berliner Leibniz Zentrums Allgemeine Sprachwissenschaft (ZAS) ein Thema dieser Kolumne. Stock ist Lesbe, Feministin und Autorin des „Transgender“-kritischen Sachbuchs „Material Girls“. Sie vertritt unter anderem die Meinung, dass es gefährlich sei, biologische Männer in „weibliche“ Räume wie Umkleidekabinen zu lassen, nur weil sie sich selbst als Frauen bezeichnen, und meint, dass wir sehr vorsichtig vorgehen sollten, wenn Teenager einen Wunsch nach geschlechtsverändernden medizinischen Eingriffen äußern. Das finden manche Transgender-Bewegte ganz schlimm – im Januar unterzeichneten rund 600 Wissenschaftler einen offenen Brief, in dem sie gegen die Verleihung des Order of the British Empire (das britische Pendant zum Bundesverdienstkreuz) an Kathleen Stock protestierten.
An Stocks Heimatuni, der University of Sussex, ist eine Kampagne gegen die Professorin nun völlig eskaliert. Auf hunderten über Nacht angebrachten Plakaten wird Stocks Entlassung gefordert, auf dem Campus brannten Bengalos neben Bannern mit der Losung „Stock Out“, eine bizarre Szene, die eher an Regionalliga-Fußball erinnert als an eine Bildungseinrichtung. Auch in einem Brief an die Unileitung fordern anonyme „queer-, trans- und nicht-binäre Studierende“ die Entlassung der Professorin. Unter anderem weil Stock auch Todesdrohungen erhält, hat die Polizei ihr geraten, den Campus bis auf weiteres nicht zu betreten und Überwachungskameras an ihrem privaten Wohnsitz anzubringen.
Die Unileitung steht zu ihrer Mitarbeiterin und meint „wir können und werden keine Drohungen gegen die geschätzten akademischen Freiheiten tolerieren“. Eine offizielle Untersuchung der orchestrierten Kampagne gegen die Professorin ist eingeleitet worden. Der örtliche Ableger der Hochschulgewerkschaft University and College Union (UCU) hat sich hingegen auf die Seite der „trans- und nicht-binären Gemeinschaften“ in Sussex geschlagen. Die UCU spricht von „öffentlichen Diskursen“, welche Trans- und Nicht-Binäre-Personen abwerteten, und fordert ihrerseits eine offizielle Untersuchung der „institutionalisierten Transphobie“ an der University of Sussex. (Quellen: Daily Mail, Quillette, Spiked, Spiked, Unherd)
„China, irgendwie suspekt“
Einige weitere interessante Meldungen aus der amerikanischen Hochschulwelt: Das private Emerson College in Boston hat dem lokalen Ableger der konservativen Gruppierung Turning Point USA (TPUSA) für die Dauer einer laufenden offiziellen Untersuchung ein Betätigungsverbot erteilt. TPUSA hatte auf dem Campus Aufkleber mit einem Astronauten in Hammer-und-Sichel-Outfit und der Aufschrift „China Kinda Sus“ verteilt. Das ist Slang für „China, kind of suspicious“ (China, irgendwie suspekt). Der Astronaut ist den Figuren in dem beliebten Onlinespiel „Among Us“ nachempfunden, wo man als Spion in Raumschiffen, Weltraumkolonien und so weiter seine Mitspieler hinterhältig umlegen muss. Die hochschulinterne Untersuchung soll nun allen Ernstes klären, ob diese Aufkleber diskriminierend gegen Chinesen im Allgemeinen sind, oder eine zulässige Kritik an der chinesischen Regierung.
Auf Kritik an diesem Vorgehen reagierte das College ebenfalls zensorisch. Bei Twitter nutzte das Social-Media-Team der Bildungseinrichtung eine Funktion, mit der man unerwünschte Antworten auf Tweets verbergen kann. Unter den so verbannten Postings waren auch Bilder von Pooh, dem Bären. Die englische Kinderbuchfigur ist in der Volksrepublik China ein verbreitetes Motiv in Dissidentenkreisen (viele meinen, dass sie dem Staatspräsidenten Xi Jinping optisch ähnelt).
Am ebenfalls privaten Elizabethtown College im US-Bundesstaat Pennsylvania sollten indessen Studenten mit weißer Hautfarbe einer Veranstaltung fernbleiben, die vom dortigen Center for Global Unterstanding & Peacemaking organisiert wurde. Die Abendveranstaltung war Teil einer Reihe über „weiße Vorherrschaft und globale Kolonisierung“. Die Aussonderung nach Rasse durch das College war eindeutig rechtswidrig, urteilt die liberale Bürgerrechtsorganisation Foundation for Individual Rights in Education (FIRE).
„Medizinische Fehlinformationen“
Rechtswidrig war auch die kürzliche Löschung von zwei Videos der coronakritischen Künstler-Aktion #AllesAufdenTisch durch die zu Google gehörende Plattform YouTube. Das Landgericht Köln beschloss diese Woche, dass die Löschung von Interviews der Künstlergruppe mit dem Mathematik-Professor Stephan Luckhaus und dem Neurobiologen Gerald Hüther „nicht berechtigt“ war.
Das Gericht begründete die Entscheidung auch mit den schwammigen Begründungen von YouTube. Die Video-Plattform habe den Kanal-Betreibern von #allesaufdentisch lediglich erklärt, dass die Videos gegen die Richtlinien zu „medizinischen Fehlinformationen“ verstießen. Problematisch seien angeblich „Behauptungen über Schutzimpfungen gegen Covid-19, die der übereinstimmenden Expertenmeinung lokaler Gesundheitsbehörden oder der Weltgesundheitsorganisation (WHO) widersprechen“.
Das Gericht bemängelte, dass den Künstlern nicht mitgeteilt wurde, „welche Passage des Videos gegen die Richtlinien verstoßen“ haben soll, „sodass auch der Kammer eine entsprechende Überprüfung nicht möglich war“. YouTube dürfe nur bei „einer offensichtlichen, auf den ersten Blick erkennbaren medizinischen Fehlinformation“ Videos löschen, ohne konkrete problematische Passagen zu benennen. Bei den gelöschten Videos von #allesaufdentisch handele es sich aber um „längere Videos“, die „auch eine Vielzahl von eindeutig zulässigen Äußerungen enthalten“. (Quelle: BILD)
#Allesaufdentisch hatte ursprünglich 55 Beiträge auf YouTube veröffentlicht, in denen Schauspieler und andere Künstler mit Wissenschaftlern über Corona sprechen und Kritik an der Coronapolitik üben. Bei vier dieser Beiträge meinte die Plattform, „medizinische Fehlinformationen“ zu erkennen und veranlasste Anfang dieser Woche die Löschung. Doch die Entscheidung des Landgerichts Köln, die zwei dieser Videos rehabilitierte, ist offenbar nicht das Ende dieser Odyssee. Am Mittwoch meldete der Deutschlandfunk, dass erneut zwei Videos der Aktion #allesaufdentisch bei YouTube wegen „Desinformation“ gelöscht worden sind. Damit sind derzeit insgesamt vier Videos der Aktion nicht aufrufbar.
Keine Hebräisch-Übersetzung
Ausgestoßen wurden diese Woche auch sämtliche Hebräisch-Sprecher, und zwar von der irischen Bestsellerautorin Sally Rooney. Die selbsterklärte Marxistin (Jahrgang 1991) ist bekannt für ihre Millennial-Romane „Gespräche mit Freunden“ und „Normale Menschen“, die in 46 Sprachen, darunter auch ins Hebräische, übersetzt wurden. Ihr jüngstes Werk „Schöne Welt, wo bist du“ (September 2021) soll allerdings nach Willen der Autorin Menschen vorenthalten bleiben, die es in der historischen Sprache des jüdischen Volkes lesen möchten, heute in modernisierter Form vor allem im Staat Israel in Gebrauch und Amtssprache. Über ihre Literaturagentin ließ Rooney den israelischen Verlag Modan abblitzen, der bereits ihre früheren Werke übersetzte und jetzt für die Veröffentlichung des dritten anfragte. Als Begründung führt die Autorin ihre Unterstützung des kulturellen Boykotts Israels an. Lesenswerte Meinungsbeiträge zu dieser Causa finden Sie hier auf Deutsch in der Welt und hier auf Englisch bei Spiked.
Peak betreutes Denken: Bei Instagram werden nun sogar humoristische Memes gefaktencheckt. Die australische Journalistin Sydney Watson teilte auf der audiovisuellen Plattform ein Bild von der Simpsons-Figur Lisa Simpson, die vor einer Leinwand eine Präsentation gibt. Auf der Leinwand steht: „Sie werden Billionen für Gesetzesentwürfe ausgeben, die sie nicht gelesen haben, aber wollen ganz genau wissen, wie Sie 600 Dollar ausgegeben haben.“ Instagram versieht dieses Posting tatsächlich mit dem Warnhinweis: „Fehlender Kontext. Die gleichen Informationen wurden bereits in einem anderen Beitrag von Faktenprüfern geprüft.“
Wenn man diesen Hinweis anklickt, wird weiter ausgeführt: „Laut unabhängigen Faktenprüfern könnte dieser Beitrag aufgrund fehlenden Kontexts irreführend sein.“ Darunter ein Link zum Faktencheck „Republicans Mischaracterize Proposed Financial Reporting Requirement” vom 8. Oktober 2021 von einer amerikanischen Organisation namens Faktcheck.org. Mit „proposed financial reporting requirement“, das geht aus dem Faktencheck hervor, ist ein von der Biden-Administration vorangetriebenes Gesetzesvorhaben gemeint, das Banken und anderen Finanzdienstleistern strengere Meldepflichten auferlegen will, bei Privat- und Geschäftskonten im Wert von mindestens 600 Dollar. Und das ist nun wirklich kein Grund zum Lachen.
„Ehrenamtliche sind aus der Mode gekommen“
Last but not least: Am altehrwürdigen Kunstmuseum Art Institute of Chicago sind alle 150 ehrenamtlichen Dozenten abrupt per E-Mail entlassen worden. Viele hatten seit Jahren ohne Bezahlung als fachkundige Museumsführer gearbeitet, doch die Museumsleitung war zu dem Schluss gekommen, dass das Corps der Ehrenamtlichen demographisch nicht vielfältig genug war. Ihre Rolle sollen nun bezahlte Mitarbeiter übernehmen, für ein Hybridmodell aus ehrenamtlichen und festangestellten Museumsführern ist man nicht offen.
„In progressiven Kreisen sind Ehrenamtliche aus der Mode gekommen und werden als reiche Weiße mit viel Zeit, überholten Denkweisen und als wandelnde Hindernisse für Gleichberechtigung und Integration abgetan“, so ein aktuelles Editorial im konservativen Chicago Tribune. „Wirklicher Wandel, so heißt es oft, erfordere nun, dass sie durch bezahlte Mitarbeiter ersetzt werden.“ Ursprünglich habe die Museumsleitung den scheidenden Ehrenamtlichen als Dank für ihr langjähriges Engagement nur zeitlich befristete Freikarten anbieten wollen. Nachdem die Ausgestoßenen protestierten, wurde ihnen zumindest lebenslang freier Zutritt zum Museum eingeräumt.
Und damit endet der wöchentliche Überblick des Cancelns, Empörens, Strafens, Umerziehens, Ausstoßens, Zensierens, Entlassens, Verklagens, Einschüchterns, Politisierens, Umwälzens und Kulturkämpfens. Bis nächste Woche!
Mehr vom Autor dieser wöchentlichen Kolumne Kolja Zydatiss zum Thema Meinungsfreiheit und Debattenkultur lesen Sie im Buch „Cancel Culture: Demokratie in Gefahr“ (Solibro Verlag, März 2021). Bestellbar hier.