Für den Berliner Fußballverein Hertha BSC ist der Ausdruck „fette Beute“ zu NS-belastet, eine englische Universität warnt vor dem Christentum und eine Lesung Martin Sellners war in Neu-Ulm unerwünscht.
„Ha Ho He“ lautet ein bekannter Schlachtruf der Fans von Hertha BSC – seit 1927. Zuletzt verbreitete sich bei Posts im Internet die Ergänzung „und fette Beute“. Davon zeigt sich der Berliner Fußballclub unangenehm berührt: „Der Ausdruck ‚fette Beute‘ hat eine Geschichte im Kriegszusammenhang verbunden mit Raubzügen in den vergangenen Jahrhunderten und ist darüber hinaus in Kombination mit anderen Parolen (z.B. ‚Heil, Sieg‘ oder ‚Heil und Sieg‘) als Teil der rechtsextremen Phraseologie festgestellt worden.“ Wer dies „festgestellt“ habe, verrät der Verein nicht. Und dass etwas in Verbindung mit „Sieg Heil“ – statt mit Hertha BSC – nazihaft klänge, selbst ein „Guten Tag“, liegt auf der Hand. „Bei dem Ausdruck ‚…und fette Beute‘ in Kombination mit diesen Parolen handelt sich um eine Kriegsparole aus der NS-Zeit“, behauptet Hertha.
Über die Verbreitung von Parolen wie „Sieg und Heil…“ bzw. „Heil und Sieg und fette Beute!" diskutierten Wikipedia-Nutzer schon 2011 anhand von Quellen – mit etwas diffusem Ergebnis. Ein Kampfruf von U-Boot-Soldaten im Ersten (!) und im Zweiten Weltkrieg? Ein scherzhafter Gruß? Ein der NS-Zeit vorausgehender, älterer Spruch, der sich vom „Waidmannsheil und fette Beute“ der Jäger ableitet? Gar eine „Verballhornung“? 2012 wurde gegen einen baden-württembergischen Polizisten wegen einer SMS mit dem Text „Sieg und Heil und fette Beute – ein dreifaches Sieg Heil" eine Disziplinarstrafe verhängt. Täter eines Brandanschlags auf ein niedersächsisches Asylantenheim im Jahre 2015 gehörten einer WhatsApp-Gruppe an, in der u.a. „Sieg Heil und fette Beute!“ gepostet worden war. Auf dergleichen bezieht sich Hertha allerdings nicht und spricht stattdessen von ominösen „Raubzügen in den vergangenen Jahrhunderten“. Das lässt eher an Piraterie denken. „Hoch die Fahrt und fette Beute!“, titelte etwa ein Kreisverband der Piratenpartei 2017.
Der „blau-weißen Haltung und Erinnerungskultur“ wegen spricht sich der Fußballverein jedenfalls gegen die Verwendung dieses Zusatzes aus und will in seinem Internetbereich „Kommentare, die diese Phrase enthalten, konsequent löschen“. Auf Twitter wird schon ein mutmaßlicher Fan angeprangert, der den Slogan oft verbreite; jemand fordert sogar für diesen ein Stadionverbot. Manche haben für Herthas Auslegung der „fetten Beute“ weniger Verständnis. „Schön und gut“, fragt ein User, „aber was macht ihr, wenn ihr herausfindet wer das Olympiastadion, euer Stadion, in Auftrag gegeben hat, mit welchem Zweck?“
Vorsicht, Christentum!
Jenseits des Kanals wimmelt es vor Trigger-Warnungen, und die Universität Notthingham war uns erst kürzlich aufgefallen. Eine Anfrage der Daily Mail nach dem dortigen Informationsfreiheitsgesetz förderte nun zutage, dass ebenjene englische Hochschule die Pflichtlektüre für einen Kurs mit einem einschlägigen Hinweis versehen hat. „Chaucer und seine Zeitgenossen“ heißt die Lehrveranstaltung. Diese behandelt Autoren, die um das Jahr 1400 publiziert haben; aus Geoffrey Chaucers Feder flossen die berühmten Canterbury Tales. Vor welchen Inhalten der Literatur wird denn nun gewarnt? Laut Daily Mail vor „Gewaltvorfällen, Geisteskrankheit und dem Ausdruck christlichen Glaubens". Hui, gleich alles auf einmal? Es wird vermutet, dass das Christentum neu auf die Liste der Caveat-würdigen Erscheinungen gelangt ist. Die Uni verteidigt sich: Selbst gläubige Christen fänden „Aspekte des mittelalterlichen Weltbilds […] abschreckend und seltsam.“ „Das Problem sind nicht potentielle studentische Chaucer-Leser“, kommentiert der in England emeritierte Professor und Achgut-Gastautor Frank Furedi, „sondern Virtue Signalling betreibende und ungebildete Wissenschaftler“.
Mann, oh Mann!
Bleiben wir auf der Insel. Einer 17-jährigen Fußballerin drohen ganze sechs bis zwölf Spiele Sperre, weil sie sich einem biologisch männlichen Gegenspieler gegenüber „transphob“ geäußert haben soll. Bei einem Vorbereitungsspiel im Juli habe sie einer bärtigen Person der gegnerischen Mannschaft Fragen und Aussagen wie „Bist du ein Mann?“ „Das ist ein Mann“, „Komm hier nicht noch mal hin!“ an den Kopf geworfen. Die 17-Jährige wird derzeit auf Autismus untersucht. Autisten, so der Telegraph, der über die Angelegenheit berichtet, hätten oftmals Schwierigkeiten beim Erkennen von Geschlechtern. Und Kinder beim Erkennen von des Kaisers neuen Kleidern? Der Fußballverband prüft den Vorgang derzeit, nachdem die andere Mannschaft sich an eine Meldestelle gewandt hat. Die Spielerin habe nach eigener Aussage Angst vor höherer Verletzungsgefahr durch einen männlichen Gegenspieler gehabt. Ihre Mutter hält überhaupt nichts davon, Männer in Frauenteams spielen zu lassen.
Russland in Neu-Ulm
Vergangene Woche wollten wir mal abwarten, ob Martin Sellners in Ulm geplante Lesung kurzfristig verlegt würde. Tatsächlich fand sie in der bayerischen Nachbarstadt Neu-Ulm statt, in einer ehemaligen Rockerkneipe. Nachdem die Polizei, der zwar die Tür, nicht aber das Metallgitter dahinter geöffnet worden war, letzteres aufgeschweißt hatte, trafen die Beamten in Kampfmontur den österreichischen Identitären gar nicht an, setzten aber die Anwesenden gut 20 Minuten fest. Nach Augenzeugenberichten durften diese nicht einmal die Toilette aufsuchen oder ein neues Getränk besorgen. Man sang derweil: „Die Gedanken sind frei.“ Eine Rechtsgrundlage konnten die Polizisten zunächst nicht nennen, einer äußerte nur: „Wir haben eine Rechtsgrundlage. […] Kollege kommt gleich.“ Später schob man nach, dass es an einer „Schankgenehmigung“ sowie einem „Fluchtweg“ gemangelt habe. Letzteres lässt sich bezweifeln, da es Sellner und anderen offenbar gelungen war, sich dem polizeilichen Zugriff rechtzeitig zu entziehen; sie kehrten nach dem Einsatz in den Raum zurück. Sellner zufolge sei eine Kasse von seinem Buchverkauf beschlagnahmt worden.
„Früher hat es mich in Russland erschreckt, wie die Polizisten gegen Andersdenkende vorgingen, vermummt und mit Helmen, und ich hielt Ähnliches für völlig undenkbar in Deutschland“, kommentiert der kritische Journalist Boris Reitschuster. „Was war ich doch naiv!“ Freitagabend aus Neu-Ulm berichtete auch der Youtuber Sebastian Weber alias Weichreite. Als ein Redner der Antifa-geprägten Gegendemo in der betreffenden Straße per Megafon die Polizei aufforderte: „Könnt ihr mal den Kameramann da wegmachen bitte“, ließ sich das deren Einsatzleiter nicht zweimal sagen und behinderte die Pressearbeit Webers, der sich nicht einmal in unmittelbarer Nähe befunden hatte. Ein ähnliches Zusammenwirken von Uniformierten und ‚Zivilgesellschaft‘ durfte dieser kürzlich erst erleben – nebenan in Ulm, wie berichtet.
Sellner wiederum hielt am Samstag eine Pressekonferenz an der Grenze zur Schweiz, die ihm derzeit die Einreise verweigert. Dabei kassierten ihn die Eidgenossen nach minimalem Grenzübertritt ein und schoben ihn später nach Deutschland ab. Erstaunlich, wie gut die Abweisung unerwünschter Ausländer manchmal funktionieren kann. Sellner soll es übrigens gelungen sein, vor dem (Neu-)Ulmer Termin eine Lesung im Raum Mannheim durchzuführen, weil im Vorfeld keine Informationen darüber an die Öffentlichkeit gelangt waren.
Namen sind Schall und Rauch
Das Otfried-Preußler-Gymnasium in Pullach bei München war Anfang des Jahres schon Thema bei uns. Die Diskussion, ob der Kinderbuchautor (Die kleine Hexe) als Namensgeber taugt, insbesondere weil er bis zum Alter von 20 Jahren ins NS-Regime verstrickt war, läuft seither. Das Kultusministerium hat über einen Antrag auf Namensänderung noch nicht entschieden. Jetzt zieht Susanne Preußler-Bitsch, Tochter und Erbin des Schriftstellers, einen Schlussstrich. Es sei nicht in ihres Vaters Sinne, „dass eine Schule seinen Namen tragen muss, obwohl sie diesen massiv ablehnt“. Deshalb entzieht sie dem bayerischen Gymnasium die Erlaubnis, den Namen Otfried Preußler weiter als Bezeichnung nutzen zu dürfen. Dies diene auch dazu, von allen Beteiligten und dem verstorbenen Betroffenen „künftig weiteren Schaden […] abzuwenden“. Es gibt übrigens Jute-Beutel mit Preußlers Romanfigur Räuber Hotzenplotz und der Aufschrift „Fette Beute“.
Aus der Distanz
Ein weiterer Fortgang lässt sich bezüglich der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer und ihres Mitglieds Ulrich Vosgerau vermelden. Der Antrag, sich von dem Juristen zu distanzieren, fand auf der Mitgliederversammlung eine Mehrheit. Vorangegangene Pläne einzelner Mitglieder, ihn aus dem Verein zu werfen oder sein Tun zu missbilligen, waren im Vorfeld schon aus rechtlichen Gründen verworfen worden. Insbesondere die Teilnahme des Rechtsanwalts an einer gewissen Veranstaltung in der brandenburgischen Landeshauptstadt war einigen im Verein ein Dorn im Auge. Der Distanzierungsantrag, der davon spricht, dass „Ulrich Vosgerau in den letzten Jahren zunehmend als Begleiter rechtsextremer Kräfte in Verfassungsfragen“ gewirkt habe, erhielt Medienberichten zufolge ungefähr 58 Prozent der abgegebenen Stimmen.
Der Betroffene erwägt offenbar rechtliche Schritte gegen diesen Beschluss. Sein Anwalt wettert, dass „hier eine juristische Fachgesellschaft auf dem Niveau eines Taubenzüchtervereins herumdilettiert“. Ein anderer Advokat, der vielfach im Rahmen der Corona-Proteste in Erscheinung getretene Dirk Sattelmann, beklagt, „wie tief bereits die Ideologisierung selbst bei den vermeintlich besten Staatsrechtlern des Landes fortgeschritten ist“.
Petition gegen Kommunalpolitiker
Während Vosgerau der CDU angehört, sitzt Ronny Poppner der AfD-Stadtratsfraktion im nordthüringischen Mühlhausen vor. Auch vom ihm soll sich jemand distanzieren, und zwar die Stadt selbst – wenn es nach Willen des Queeren Jugendzentrums Mühlhausen geht. Die letztes Jahr gegründete Organisation kritisiert in einer Online-Petition angeblich „diskriminierende Äußerungen“ Poppners. Der AfD-Politiker – der sich übrigens vor Jahren mal Ärger mit seinem Landeschef Björn Höcke einhandelte und einen „Führerkult“ um diesen herum anprangerte – habe „die LGBTQ-Community als ‚krankhaft‘ bezeichnet“, behaupten die Petenten. Damit nicht genug: Sie werfen „Popper [sic!]“ außerdem vor, „nachweislich unter unseren Social-Media Beträgen, nicht nur einmal, Hassrede verbreitet“ zu haben.
So etwas Ungehöriges dürfe natürlich nicht ohne Konsequenzen bleiben. Die Stadt, in der vor 500 Jahren Bauernkriegsführer Thomas Müntzer die Regenbogenfahne schwang, solle z.B. die Äußerungen des AfD-Mannes öffentlich verurteilen oder ihn zu „Schulungen zur Sensibilisierung für LGBTQ-Themen“ schicken – ob diese wohl anschlügen? Nötigenfalls möge sie gar einen „Amtsverlust“ Poppners herbeiführen. Einem Stadtratsmitglied sein Mandat wegen missliebiger Aussagen zu entziehen, ist rechtlich allerdings noch nicht vorgesehen.
Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer
Alle Jahre wieder fühlt das Allensbach-Institut in seinem Freiheitsindex den Deutschen auf den Zahn. 2023 gab erstmals nur eine Minderheit an, dass man sich hierzulande frei äußern kann; mehr hielten Vorsicht für geboten. Nun glaubt wieder eine relative Mehrheit (47 zu 41 Prozent), dass man offen seine Meinung sagen könne. Für den liberalen Publizisten Rainer Zitelmann „deutet [dies] darauf hin, dass die Mechanismen der ‚Cancel Culture‘ und der politischen Korrektheit nicht mehr so einwandfrei funktionieren.“ Gerade deshalb, so Zitelmann im Focus, würde nun vermehrt auf Meldestellen, Trusted Flaggers & Co. gesetzt, „um die Diskurshoheit zu behalten“. Angesichts gewisser Auf- und Ab-Bewegungen bei der Umfrage in den letzten Jahren sollte man das Resultat jedoch nicht überbewerten. Sich das Recht herausnehmen, seine Meinung kundzutun, sollte man allerdings schon.
Und so endet der allwöchentliche Überblick des Cancelns, Framens, Empörens, Strafens, Umerziehens, Ausstoßens, Zensierens, Denunzierens, Entlassens, Einschüchterns, Moralisierens, Politisierens, Umwälzens und Kulturkämpfens. Bis nächste Woche!
Ein Archiv der Cancel Culture in Deutschland mit Personenregister finden Sie unter www.cancelculture.de. Um auch weniger prominente Betroffene aufnehmen zu können, sind die Betreiber der Website auf Hinweise angewiesen. Schreiben Sie ihnen gerne unter cancelculture@freiblickinstitut.de.
Christoph Lövenich ist Novo-Redakteur und wohnt in Bonn. Er hat zum Sammelband „Sag, was Du denkst! Meinungsfreiheit in Zeiten der Cancel Culture“ beigetragen.
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