Von Marei Bestek.
Gerade haben in NRW die Schulferien begonnen. Besonders Lehrer sind nun gut beraten, sich morgens noch mal auf die andere Seite zu drehen und die freien Tage zu genießen. Denn nach den Ferien werden „neue Herausforderungen“ auf sie zukommen, um es mal im Merkel-Sprech zu formulieren. Eine pensionierte Grundschullehrerin berichtet.
Seit dem Schuljahr 2013/14 wurden in NRW an vielen Schulen sogenannte Seiteneinsteigerklassen (auch Auffangklassen, Vorbereitungs- oder „Willkommensklassen“ genannt) eingeführt. Diese sollen den normalen Schulbetrieb entlasten und Schülern mit Migrationshintergrund vornehmlich das Erlernen der deutschen Sprache erleichtern, um ihnen so bei der Integration zu helfen. Lehrer sollten für diese Tätigkeit extra ausgebildet werden. Allerdings beschränkte sich diese „Ausbildung“ auf drei Fortbildungen am Nachmittag – und das nach dem regulären Unterricht. Viele traten der neuen Aufgabe skeptisch gegenüber.
Die pensionierte Grundschullehrerin meldete sich schließlich freiwillig. Aufgrund ihrer bevorstehenden Pension wollte sie kein 1. Schuljahr mehr übernehmen und hoffte zum Abschluss ihrer langjährigen Dienstzeit noch einmal intensiv lehren zu können, denn die Schulaufsicht begrenzte die Schüleranzahl der Seiteneinsteigerklasse zunächst auf fünfzehn Kinder, die langsam und durch individuelle Betreuung an den Unterricht in einer Regelklasse herangeführt und schließlich nach zwei Jahren vollständig von dieser übernommen werden sollten. Heute weiß sie, dass das sehr blauäugig war.
„Ich war verantwortlich für 15 Kinder aus acht verschiedenen Nationen (Syrien, Serbien, Bulgarien, Rumänien, Armenien, Polen, Zypern, Griechenland). Diese waren nicht nur in verschiedenen Altersstufen (von 6 bis 12 Jahren und damit zugehörig zu den Klassen 1-4), sondern hatten vor allen Dingen einen unterschiedlichen Leistungsstand, teilweise sogar sonderpädagogischen Förderbedarf. Während das eine Kind schon schreiben konnte, konnte das andere noch nicht mal Buchstaben lesen. Ich rannte quasi den ganzen Tag von einem Schüler zum nächsten und versuchte jedem so gut es geht zu helfen. Am Ende musste ich 20 Kindern gerecht werden und stieß an meine Leistungsgrenze. Wir schaffen das? Ich habe es nicht geschafft.“
Auch ihre 34 Dienstjahre als Lehrerin, davon die letzten 17 Jahre an einer Schule in einem sozialen Brennpunkt (Ausländeranteil über 60%), und ihre langjährigen Erfahrungen mit erziehungsschwierigen und lernbehinderten Schülern konnten die damalige Lehrerin nicht vor Überforderung schützen. Mit 64 Jahren ging sie schließlich in Pension und nahm damit eine Kürzung ihrer Rente in Kauf.
Das Ziel rückte in unerreichbare Ferne
Der Kampf im Klassenzimmer begann oft schon vor Unterrichtsbeginn, nahmen es doch viele Seiteneinsteiger (beziehungsweise ihre Eltern) mit ihren neuen Pflichten nicht allzu genau. „Um Pünktlichkeit und regelmäßigen Schulbesuch musste ich durchgängig kämpfen. Viele Kinder kamen ohne Schulsachen in die Klasse und mussten auch einen sorgsamen Umgang mit Materialien erst lernen.“ Schulbedarf, nicht selten gestiftet oder aus der eigenen Tasche bezahlt, verschwand oft spurlos.
Das Ziel einer Seiteneinsteigerklasse - jedes Kind „individuell zu fordern und zu fördern“ - rückte so schnell in unerreichbare Ferne. Neben die Gestaltung von persönlichen Arbeitsblättern und Stundenplänen trat das ständige Bemühen Defizite auszugleichen. Selbst in der Mathematik fehlten oft Grundkenntnisse. Den Schulalltag durchzogen Stress und Hektik, Entspannung fand sich höchstens beim gemeinsamen Frühstück.
Das Ergebnis einer Überprüfung auf sonderpädagogischen Förderbedarf offenbarte zudem: eine Schülerin mit geistiger Behinderung, zwei weitere mit Lernbehinderung und ein erziehungsschwieriges Kind. In der Seiteneinsteigerklasse befand sich zusätzlich ein sehr intelligenter Junge, der aufgrund von diagnostizierten „autistischen Zügen“ allerdings besondere Beachtung brauchte. Ein ihm zugeteilter Integrationshelfer konnte erst nach dem Wechsel zur weiterführenden Schule gestellt werden.
Das Versagen der Bildungspolitik im grün-linken Gesinnungsstaat
Die Arbeit blieb an den Lehrern hängen. Er hätte zeitweise Einzelunterricht benötigt, ebenso wie ein neunjähriges Mädchen, das zuvor noch nie in einer Schule war und alphabetisiert werden musste. All das war aber aufgrund der Gesamtzahl der Anforderungen schwerlich zu bewältigen. Neben dem Arbeitsdruck trat nun auch die Sorge, den Kindern mit ihren persönlichen Ansprüchen nicht gerecht werden zu können.
Das Versagen der momentanen Bildungspolitik spiegelt hier den grün-linken Gesinnungsstaat wider. Dieser soll uns - erzieherisch, immer das Ganze im Blick habend (letztlich: totalitär) und an Idealen orientiert - den Wunsch nach einer besseren Welt erfüllen. Das Pech: Die Realität spielt nicht mit. Und während tausende erfahrene Lehrer versichern: „Es klappt nicht.“ entgegnen die Politiker (und Sozialromantiker) unermüdlich: „Doch. Das klappt.“ (oder wahlweise „Wir schaffen das!“).
Einerseits wird die Gleichheit der Kinder betont, andererseits soll aber jeder Einzelne nach individuellen Maßstäben gefördert werden. Aber, wer kann dies leisten? Bislang erreichte die Politik das Gegenteil ihrer selbstgesetzten Maßstäbe. Konkurrenz- und Leistungsprinzip, Quelle unseres Wohlstandes, werden ad absurdum geführt. Das Leistungsniveau sinkt, vor allem, weil man Kindern echte Anstrengungen und Enttäuschungen ersparen will.
An deren Stelle treten immer neue, alternative Unterrichtsmethoden. In einer Klasse treffen Kinder mit Migrationshintergrund, Kinder mit Behinderung, sowohl „normal begabte“, als auch hochbegabte aufeinander, um damit das geforderte ‚Multikulti‘ auch in das Klassenzimmer zu verlagern. Schwächere Schüler werden so unter persönlichen Erwartungsdruck gestellt, stärkere hingegen in ihrer Entfaltung eingeschränkt, zurückgestuft und beschnitten. Am Ende leiden alle. Kinder und Lehrer.
Das System grenzt an Missbrauch der Kinderseele
Drei Monate vor Beendigung dieses Schuljahres wurden drei Schüler mit Migrationshintergrund in eine bereits bestehende 1. Klasse eingeschult. Lehrer sowie Eltern waren der Meinung, dass man ihnen die Möglichkeit geben sollte, die 1. Klasse zu wiederholen, damit sie, genau wie die Kinder vor ihnen, in Ruhe die Buchstaben und Ziffern, das Lesen und Schreiben und natürlich die deutsche Sprache erlernen können. Das Schulamt verbot dies jedoch: Laut Erlass soll in der dreijährigen Schuleingangsphase kein Kind die 1. Klasse wiederholen.
Die Kinder sollen also den allgemeinen Ansprüchen an einen Grundschüler gerecht werden, gleichzeitig aber individuelle Leistungsversäumnisse aufarbeiten, was wiederum von den Lehrern geleistet und aufgefangen werden muss. Spätestens hier wird deutlich, dass das Konzept der Seiteneinsteigerklasse wenig durchdacht ist. Gut gemeint und vielleicht ein interessanter Theoriebaustein, aber wohl kaum umsetzbar.
Genau hier läge das eigentliche Verbrechen, sagt die pensionierte Grundschullehrerin. Nicht nur aufgrund des sorglosen Umgangs mit den Lehrkräften, die tagtäglich an ihre Belastungsgrenze getrieben werden, sondern auch und vor allem darin, dass dieser Erlass so konzipiert wurde, dass er letztlich das Kindeswohl übergeht. „Das grenzt an Missbrauch der Kinderseele. Man verschließt die Augen vor der Realität, vor der Überforderung von Kindern und Lehrern. So kann Integration nicht gelingen.“
Viele Kollegen, junge wie alte, werfen das Handtuch
Von einer ehemaligen Kollegin habe sie nun erfahren, dass die Zahl der Seiteneinsteiger von fünfzehn auf dreißig Kinder korrigiert werden soll. Viele Kollegen, junge wie alte, werfen das Handtuch. „Ich habe immer gerne gearbeitet, war eine richtige Vollblutlehrerin und gut organisiert. Wenn es nun bei fünfzehn Kindern schon nicht klappt, die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu schließen, wie soll man es dann erst mit doppelt so vielen Schülern schaffen? NRW wird bunter? Mir wurde es zu bunt.“ Angesprochen auf die Missstände in vielen Grundschulen, wurde ihr von der Schulaufsicht inoffiziell sogar geraten, das alles nicht so „ernst zu nehmen“ und sich gegebenenfalls einfach „krank schreiben“ zu lassen.
Die Effektivität von Seiteneinsteigerklassen steht zumindest gerade wieder zur Diskussion. Grund ist auch, dass es viel zu wenige Lehrer gibt und die Schulen durch Inklusion und Flüchtlingswelle an ihre Belastungsgrenzen stoßen. Es gäbe viele Kinder, die noch nie eine Schule von innen gesehen haben, so Dorothea Schäfer, Vorsitzende der Bildungsgewerkschaft GEW in NRW. Gerade muss ich daran denken, dass der große Familiennachzug ja noch bevorsteht. Als Kind hatte ich mal den Wunsch, Grundschullehrerin zu werden. Bin ich froh, dass nicht alle Träume in Erfüllung gehen!
Marei Bestek (25) wohnt in Köln und hat Medienkommunikation & Journalismus studiert.