Aus dem Heldenleben eines Schraubers (5): Moskau

Von Hubert Geißler. 

Ein Schrauber kann sich seinen Einsatzort nicht wirklich aussuchen. Zweimal wurde mein Bruder nach Moskau geschickt, das erste Mal im Winter 1997, noch zu Zeiten Boris Jelzins, wo man beileibe nicht sagen konnte, dass die russische Hauptstadt ein ruhiges, befriedetes Pflaster war. Man erinnere sich: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war das Land geprägt von Oligarchenkämpfen und dem Tschetschenienkrieg. Die Stadt erinnerte in gewisser Weise an das Chicago der 20er Jahre. Eine gewisse Beruhigung trat erst ab 1999 ein, nachdem Putin die Präsidentschaft übernommen hatte.

Ich selber erinnere mich noch gut an eine Fernsehdokumentation aus dieser Zeit über ein Mitglied russischer Spezialkräfte, dessen Tagesablauf gezeigt wurde. Beim Abschied von seiner kleinen Familie sagt die Frau, sie wisse jeden Tag nicht, ob ihr Mann lebendig zurück kommen würde. In der Kaserne wurden Panzerwesten angelegt und die Maschinenpistolen aus dem Schrank genommen. Dann ging's zum Einsatz. Lustig war das alles bestimmt nicht.

Wirtschaftliche Beziehungen und Lieferungen von Maschinen hatte es auch zu Sowjetzeiten gegeben. Mein Bruder war damals bei einer Schweizer Firma angestellt. Die bat nun die deutsche Filiale, einen Techniker nach Moskau zu schicken, und mein Bruder war dort der Einzige, der Revolverstanzmaschinen betreute. „Die faulen Säcke in der Schweiz hatten einfach keine Lust, da hinzugehen.“ Inwieweit da die Gefahrenlage in Moskau auch mitspielte, blieb offen. 

Die Reparatur sollte in einer Woche abgeschlossen sein. Mein Bruder wurde von einem Werksfahrer am Flughafen abgeholt und ins Hotel „Intourist“  in der Nähe des Roten Platzes gebracht. Vor dem Hotel patroullierten schwarzgekleidete bewaffnete Bodyguards. Die Lobby und die Flure waren voll mit Prostituierten. Am nächten Morgen ging’s zum Werk. Am Straßenrand sah man liegengebliebene Luxuslimousinen, ein offensichtlich gepanzerter Daimler hatte Einschusslöcher, die nur von einer Panzerfaust herrühren konnten. Die konkurrierenden Oligarchennetzwerke waren nicht zimperlich. Vor dem Werk gab es einen Fleischmarkt, der aus den geparkten Autos heraus betrieben wurde. Kühl genug war es ja. 

Die Russen hatten den Fehler nicht finden können

Bei der Anmeldung am Werkstor sollte mein Bruder seinen Pass abgeben. Eine alte Monteurweisheit besagt, dass es unter derartigen Umständen fatal sein kann, seinen Pass aus den Händen zu geben. Den Fluchtweg muss man sich unter allen Umständen offenhalten. Mein Bruder löste die Auseinandersetzung, indem er sich einfach umdrehte und zum Ausgang lief. Daraufhin konnte er den Pass behalten. Nach ausgiebiger Begrüßung ging’s dann an die Arbeit.

Die Maschine konnte nach mehrjährigem Stillstand nicht mehr eingeschaltet werden. Die Russen hatten den Fehler nicht finden können. Defekt war ein Akku, der neu eingebaut werden musste. Dann wurde die Software erneut aufgespielt. Der eigentliche Defekt war in fünf Minuten lokalisiert. Ein Kabel musste zusätzlich ausgetauscht werden.

Nach Feierabend ging’s zurück ins Hotel. Ein Spaziergang über den Roten Platz schloss sich an, die Wachablösung am Grab des unbekannten Soldaten fand zufällig statt. Im Hotel war im Erdgeschoss eine Pizzeria. Vor dem Fenster kampierten ein paar Stadtstreicher, die die Wodkaflasche kreisen ließen. Ein Polizeitransporter fuhr vor, die Beamten verprügelten die Männer und luden sie dann in ihren Wagen. Seltsamerweise ging das ohne Geschrei und Gejammer vor sich, so, als sei es die alleralltäglichste Normalität. Am nächsten Tag wurde die Reparatur fortgesetzt und das Personal eingewiesen.

Neue Probleme taten sich auf. Die dilettantischen Reparaturversuche der Werksmechaniker hatten Teile der Steuerung geschreddert. Nun wurde die Sache problematisch. Russisch sprach mein Bruder ja nicht. Er konnte aber mit Händen und Füßen den russischen Kollegen klar machen, welche Unterlagen der brauchte, um das System in Ordnung zu bringen. Die fanden sich auch und tatsächlich war die Maschine am Ende der Woche funktionsfähig.

Grundsolidarität unter Schraubern

Die Papiere waren fertig, die Kunden zufrieden, alles war klar für die Abreise, als sich ein Gemurmel erhob, aus dem das Wort „Wodka“ sich immer deutlicher abhob. Mein Bruder wollte eigentlich zum Flughafen, und man einigte sich halbwegs gütlich auf „Schampanskij“. Der Wodka kam aber dann doch. „Stockbesoffen“ wurde mein Bruder dann zum Flughafen gefahren. Ihm war speiübel, und er bat den Fahrer, auf einen Parkplatz zu fahren, um sich zu übergeben. Dort stand auf einem Sockel ein T34-Panzer. Der Fahrer bog sich vor Lachen und meinte, genauso weit wäre die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg gekommen.

Wenn mein Bruder von seinem ersten und zweiten Moskaueinsatz berichtet, spürt man eine klare Sympathie für die Russen und ihre Hauptstadt. Gefragt, ob es denn so etwas wie eine Grundsolidarität unter Schraubern gibt, meinte mein Bruder: “Ja, das sind halt normale Leute.“ Sogar die Verständigung klappte, weil die Technik, auf die man sich bezieht, im Kern dieselbe ist. Obwohl es anscheinend für Probleme russische und deutsche Lösungen gibt. Wie die sich damals unterschieden, kann man sich denken.

Mein Bruder hatte bei seinen Montageeinsätzen in Russland nie die geringsten Probleme mit „einfachen“ Russen, trotz des gegenseitigen Abschlachtens im Zweiten Weltkrieg. Dass offensichtlich Völker sich verzeihen können, scheint mir ein bemerkenswertes Phänomen. Auch mein Vater, der im Kaukasus und auf der Krim im Einsatz war und schwerste Verwundungen davontrug, die ihn den Rest seines Lebens beeinträchtigt haben, äußerte sich immer respektvoll über den sowjetischen Gegner. Positiv erinnere ich mich an Hilfsaktionen deutscher Städte und Dörfer, die in den 90ern einfach Lastwagen mit dem Nötigsten nach Osten schickten. Dabei spielten bestimmt Schrauber als Organisatoren eine hervorragende Rolle.

Die erste Folge dieser Beitragsserie finden Sie hier.

Die zweite Folge dieser Beitragsserie finden Sie hier.

Die dritte Folge dieses Beitrages finden Sie hier

 

Hubert Geißler stammt aus Bayern und war Lehrer für Kunst/Deutsch/Geschichte. Die beschriebenen Situationen sind realistisch und gehen auf Gespräche mit seinem Bruder, einem Machinenbautechniker, zurück. 

Foto: Ruslan Krivobok/RIA Novosti CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

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