Hubert Geißler, Gastautor / 26.10.2019 / 12:00 / Foto: Pixabay / 11 / Seite ausdrucken

Aus dem Heldenleben eines Schraubers (2): Die stille Revolte

Es gibt in unserem Land eine Schicht, über die, oder besser über deren zunehmendes Fehlen, viel geschrieben wird: Die sogenannten Fachkräfte, Techniker, der gut ausgebildete Teil der produktiven Arbeiterschaft, hier kurz „Schrauber“ genannt. Im Grunde ist aber der „Schrauber“, so wie früher die Frau, ein „unbekanntes Wesen“. Schrauber schreiben selbst selten bis nicht, sie treten nur als Objekte in den Medien auf.

Unser Autor, Hubert Geißler, hat aufgrund vieler Gespräche mit seinem Bruder, einem Maschinenbautechniker, nun versucht, ein authentisches Bild der Lebens- und Arbeitsrealität dieses Standes zu zeichnen. Politische Ansichten, Erfahrungen und Meinungen sollen in der Kolumne „Aus dem Heldenleben eines deutschen Schraubers“ dargestellt werden. Heute:

Schraubers Revolte

Zweifellos konstatiert man, wenn man sich mit den Leuten intensiver unterhält, in Schrauberkreisen ein quasi anhaltend zugrundeliegendes Missvergnügen, eine – wie wir gesehen haben – durchaus berechtigte Unzufriedenheit mit den Gegebenheiten, ob Entlohnung, Arbeitsbedingungen oder mit der Betriebsleitung. Was Arbeitsorganisation, konkrete Problembewältigung und den Umgang mit technischen Problemen anbelangt: Der Schrauber weiß es meist besser oder gar am besten. Und das nicht nur scheinbar, sondern, so steht zu vermuten, auch wirklich.

Die Geschichten meines Bruders zu Managementversagen, idiotischen Arbeitsabläufen, Konstruktionsfehlern oder Einsparungen am falschen Ende könnten Bände füllen. Dazu kommt das Gefühl, im Produktionsprozess, sowohl was den Lohn als auch was die Wertschätzung anbelangt, eher an den Rand gedrängt worden zu sein.

Warum führt dies aber nicht zu einer Revolte, die gesellschaftlich sichtbar und erfolgreich ist? Es ist ja nicht so, dass bestimmte Berufsgruppen nicht erfolgreich um Verbesserungen gekämpft hätten: die Streiks der Lokführer, der Piloten oder der Fluglotsen sind bestimmt noch den meisten in Erinnerung. Warum hört man nichts von den Schraubern?

Vermutlich hat das mehrere Gründe: Die Zugehörigkeit zum Schrauberstand ist weniger stark definiert als die Zugehörigkeit zu einer ehemals uniformierten Truppe wie den Lokführern. Deren Aufbegehren wird zudem von einer schlagkräftigen Kleingewerkschaft angeführt. Ihr Arbeitskampf ist sofort sichtbar, seine Ergebnisse spürbar: Die Züge stehen, nichts geht mehr.

Kein Widerstand gegen Ausbeutung?

Gruppen wie Piloten oder Fluglotsen sind kaum auf die Schnelle ersetzbar, zu speziell ist ihre Ausbildung, zu gefährlich ein Herumpfuschen in ihrem Arbeitsbereich – ein Risiko, das kein Politiker oder Unternehmensführer tragen will. Gewerkschaftlich würden die Schrauber zur IG Metall gehören, einem gezähmten Elefanten der Arbeitswelt, der es allzu Vielen recht zu machen hat und bei sinkendem Organisationsgrad sowieso nur die Mitglieder von Großbertrieben effektiv vertritt, die für gewöhnlich lohnmäßig ohnehin privilegiert sind.

So zahlreich Schrauber an sich sind, so wenig sind sie organisierbar. Heißt das aber, dass sie überhaupt keinen Widerstand gegen – benutzen wir mal den marxistischen Begriff – Ausbeutung leisten? Das kann man nicht sagen, aber wie wir sehen werden, wird dieser Widerstand eher individuell sein und sich weniger in einem offenen Arbeitskampf zeigen als eher in Verweigerung und Resignation. Das aber kann in einem Betrieb und auch gesellschaftlich zu einem Massenphänomen werden.

Man kann hier durchaus Stufen individuellen Rückzugs unterscheiden. Anfangen wird dieser Prozess meist mit der Tendenz, auf absurde bürokratische oder technische Vorschriften und Anweisungen mit einer Denkverweigerung zu reagieren, sich nicht mehr aktiv mit den gegebenen technischen und organisatorischen Problemen zu beschäftigen und auf Lösungen hinzuarbeiten: „Wenn die da oben das so anordnen, dann machen wir das halt, obwohl es Schwachsinn ist. Für’s Mitdenken werden wir nicht bezahlt“.

Den Satz habe ich von meinem Bruder sehr häufig gehört. „Ich sag doch nichts mehr, hört ja eh keiner zu, ich reiß meine Stunden ab und fertig“. Oder: „Wenn ich die Maschine so zusammenschraube, dann weiß ich, dass sie morgen verreckt und ich sie wieder auseinanderschrauben muss. Die sollen mich am A... lecken, mein Geld krieg ich so oder so!“ Was diese Haltung für einen Betrieb bedeutet, braucht wohl nicht erörtert zu werden.

Eine Schraube ist immer locker

Die nächste Stufe scheint mir das Warten auf die Rente zu sein. Die massenhafte Frühverrentung, die die Unternehmen beklagen und die nicht zuletzt die Angehörigen des Schrauberstandes betrifft, spricht da eine deutliche Sprache. Ein Schrauber muss nicht in einem Betrieb arbeiten, tendenziell hat er immer was zu tun. Eine Schraube ist immer locker, sei’s in der Nachbarschaft, am eigenen Haus oder Auto oder sonstwo. Ein Schrauber ist häufig auch nicht durch vorübergehende Arbeitslosigkeit zu schrecken: „Hauptsache, ich bin krankenversichert, Arbeit gibt’s immer!“

Die letzte Stufe der Verweigerung eines Schraubers dürfte die Flucht in die Krankheit sein. Das sich auszumalen, überlasse ich dem Leser, weil dieser Prozess nicht schrauberspezifisch ist, sondern eine Reaktion verschiedener Berufsgruppen auf zunehmend unzumutbare Arbeitsbedingungen und ein immer schwierigeres gesellschaftliches Umfeld darstellt.

Widerstand in der Schrauberzunft zeigt sich also nicht spektakulär in Arbeitskämpfen. Auch wird er von den Medien nicht oder kaum wahrgenommen: Wie gesagt, die Schrauber schreiben und dichten nicht. Ihr Widerstand versteckt sich in den Zahlen der zunehmenden Frühverrentung oder in einer Art inneren Emigration. Das ist wenig spektakulär, aber nicht weniger dramatisch für das Funktionieren von Wirtschaft und Gesellschaft.

In der Beurteilung der zu erwartenden gesellschaftlichen Entwicklung gibt es einen Hauptunterschied zwischen mir und meinem Bruder, der, denke ich wenigstens, auch auf die unterschiedliche Sozialisation durch die jeweiligen Berufe, Schrauber und Lehrer zurückzuführen ist.

Das Material ermüdet

Mein Bruder ist grundsätzlich rational-pessimistisch. Er sieht die politische und wirtschaftliche Entwicklung wie eine zunehmend defekte Maschine auf einen Zusammenbruch zusteuern: Das Material, nicht zuletzt der Schrauberstand selbst, ermüdet, Überregulierung und Überbürokratisierung verhindern effektives Arbeiten. Die falschen Leute sind am Ruder und bedienen inkompetent die soziale Maschine: Alles läuft allmählich aber sicher auf den Punkt zu, wo nichts mehr geht und das System zusammenkracht. „D´Maschee is hee, die loast wia d´Sau“ (Diese technische Diagnose eines Kunden aus der schwäbischen Alb dürfte auch für Staat und Wirtschaft gelten: „Die Maschine ist kaputt, sie verliert überall Flüssigkeit“, so könnte die Übersetzung ins Hochdeutsche lauten.). Dieser gesellschaftliche Abnutzungsfaktor scheint unaufhaltsam und lässt sich sogar zeitlich berechnen. Und, ohne ins Detail zu gehen: Das Ende scheint nah! Daher dieser rationale Pessimismus vieler Schrauber.

Ich weise da in unseren Diskussionen immer auf das „Disruptive“ der Geschichte hin. Der Niedergang erfolgt nicht logisch und linear, es kommt einem als Beteiligtem vor allem im Rückblick nur so vor. Gerade die letzen zweihundert Jahre sind voller schwerster Brüche. Hätte man dem französischen König 1788 gesagt, dass er 1793 unter der Guillotine liegen wird, er hätt’s mit Sicherheit nicht geglaubt. Wer 1913 den Weltkrieg erwartete, würde überwiegend für verrückt gehalten. Und mehr auf die Gegenwart bezogen: Dass Deutschland heute als der kranke Mann an der Spree gesehen wird, hätte vor einigen Jahren niemand für möglich gehalten. Es waren damals die PIGS, die ihre „Hausaufgaben“ nach Ansicht der deutschen Oberlehrerin nicht gemacht haben, aber doch nicht wir selber.

Geht man in sich, so spürt man, dass die Vorahnung eines Bruchs doch bei vielen im Innern rumort. Manches ist klar: Die ausufernden Staatsschulden werden nicht bezahlt werden. Ein überstrapaziertes Sozialsystem wird unter Druck kommen. Die Energiewende funktioniert nicht. Kurz: Eine neue gesellschaftliche Maschinerie müsste her.

Wie die genau aussehen soll, ist aber die Frage. Schrauberqualitäten sind da wohl in allen Bereichen gefragt. Aber werden die Schrauber die einbringen? Momentan sieht es nicht so aus. Ich selber würde trotzdem eher mit dem Unberechenbaren rechnen, und das lässt ein bisschen Raum für Optimismus.

 

Am nächten Samstag lesen Sie: Die Partei, die Partei hat nicht immer recht.

Die erste Folge dieser Beitragsserie finden Sie hier.

Hubert Geißler stammt aus Bayern war Lehrer für Kunst/Deutsch/Geschichte. Die beschriebenen Situationen sind realistisch und gehen auf Gespräche mit seinem Bruder, einem Machinenbautechniker, zurück. 

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Rudolf George / 26.10.2019

Man fragt sich: was würden all die schwadronierenden Großtheoretiker von Annalena bis Kevin, die im ganzen Leben noch keinen Euro Mehrwert generiert haben, machen, wenn all die Schrauber dieses Landes einfach in den Streik treten würden?

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