Die geplante Digitalisierungsoffensive wird mit Sicherheit eines bewirken: Noch ein elaborierteres Medium wird in die Beziehung zwischen Schüler und Lehrer eingeschaltet. Wenn Sprache als Erzählung wohl die direkteste Art ist, in Kontakt zu treten, dann bewegen wir uns auf jeden Fall weg davon.
Dabei scheint mir das „Erzählen“ die allerzentralste Qualifikation für einen Lehrer zu sein, so zentral und scheinbar selbstverständlich, dass sie in der pädagogischen Literatur kaum erwähnt wird.
Als Grundschüler hatten wir Religionsunterricht beim Pfarrer des Nachbarortes. Der gute Mann konnte dermaßen gut erzählen, immer biblische Geschichte, dass man vor lauter Spannung kaum eine Nadel im Raum hätte fallen hören können. Sein Disziplinierungssystem war einfach. Fürs Bravsein gab es ein kleines Andachtsbildchen. Drei davon konnte man für ein großes tauschen. Ich bekam mal Rembrandts „Gang nach Emmaus“. Ich bin sicher, kaum ein Kunstwerk in meiner Kindheit hat mich mehr beeindruckt.
Ein guter Erzähler hatte kaum Disziplinprobleme
Überhaupt sind es hauptsächlich die Erzählungen, die im Gedächtnis blieben: Von der Mär unseres Erdkundelehrers am Gymnasium, wie er die Donaubrücke mit einer Schrotflinte vor den anrückenden amerikanischen Panzern zu verteidigen versuchte, bis ihn ein GI mit einer Packung Kaugummi nach Hause schickte, zu perfekt ausgemalten historischen Schilderungen meines Geschichtslehrers im Stil von Stefan Zweigs „Sternstunden der Menschheit“. Geschichten sind mir in Erinnerung geblieben, und ein guter Erzähler hatte kaum Disziplinprobleme.
Kann man erzählen lernen? Ich weiß nicht genau, man muss es einfach tun und vieles formt sich mit der Praxis aus. Ich musste mal wegen eines längeren Ausfalls eines Kollegen eine erste Klasse monatelang vertreten. Als ich, wie bei Waldorfs üblich, mit Grimms Märchen anfangen wollte, lief ich sozusagen auf: Hatten sie alle schon auf Kassette gehört, langweilig. Ich wich auf 1001 Nacht aus, sicher nicht ganz im Sinne des Lehrplans. Aber zu beobachten, wie bei jedem meiner eingeplanten Cliffhänger („Ali Baba fällt in den Abgrund, und bevor er aufschlägt kommt der Vogel Roch und trägt in nach oben“), den Kinderchen geradezu der „Sabber“ aus den Mundwinkeln lief vor Aufregung, das war schon was.
Die Klasse war unglaublich leistungsstark: Schreiben konnten sie schon, wir haben dann Geheimschriften entwickelt in der Art, fünfter Buchstabe vom Ausgangsbuchstaben doppelt gespiegelt mit Zitronentinte sauber aufs Blatt schreiben und der Nachbar muss dann dechiffrieren. Auch unorthodox, aber Schreiben und Zählen war nur noch eine Art von Hilfswissenschaft. Ob einer der Schüler beim BND gelandet ist, weiß ich nicht.
In einer historischen Ferne, die nicht ausdenkbar ist
Die Aussicht auf eine Geschichte hat immer noch was, was eine momentan überanstrengte Klasse bei der Stange halten kann: „Noch eine Viertelstunde aufpassen, dann erzähl ich eine Schnurre aus meinem Leben“ hat immer gewirkt. Ob es nun „damals zwischen La Paz und Cochabamba …“ oder „neulich, als ich bei Kaffee die Zeitung aufschlug …“ war, der Deal hat immer gewirkt, auch wenn die Erzählung dann ein paar Minuten in die Pause ging. Besonders beliebt waren immer heitere, scheinbar triviale Geschichten aus meiner Schul- und Studienzeit selbst.
Zum Beispiel die Story „Wie man in den 70er Jahren telefonierte“: Telefonzellen mit Münzapparaten, eine WG mit einem Telefon mit 15-Meter-Kabel, das in jedes Zimmer gezogen werden konnte und alle paar Tage, auf einem Stuhl auf dem Tisch stehend, entwirrt werden musste, weil das Kabel sich eingedreht hatte, das sind Geschichten von einer derartigen Exotik für heutige Jugendliche, die nur ungläubiges Erstaunen hervorrufen. Wenn dann noch die sozialistische Sockentonne, in die alle Strümpfe der WG wanderten, auftaucht, dann ist der Verwunderung kein Ende.
Oder Zeitgeschichte real: „Die Einreise in die DDR vor '89“ („Gänsefleisch, Woffen und Funggeräde …“). Oder: Der österreichische Schilling und der Strohrum („Blau auf der Piste im Nebel ...“). Dergleichen scheint in einer historischen Ferne zu liegen, die nicht ausdenkbar ist.
Der Komplexität menschlicher Beziehungen gerecht werden
Erzählen schafft Verbindung zwischen Lehrer und Schülern, wenn der Lehrer erzählt, tun die Schüler es auch. Bei Jüngeren „bringen“ es Witze, man sollte da schon eine Auswahl auf Lager haben. Auf jeden Fall werden über das Persönliche hinaus Erleben und Denken einer anderen Generation zugänglich und das ist, wie später zu zeigen sein wird, nicht unerheblich. Schule ist eben die Vermittlung der „symbolischen Ordnung“ von einer Generation auf die andere.
Ich glaube nicht, dass Medien das ersetzen können. Zu viel Imponderables, nicht Messbares fällt weg, das nur im direkten Kontakt spürbar, wenn auch nicht rational fassbar wird.
Ein Lehrer, der nicht erzählen kann und nichts zu erzählen hat, ist schon halb verloren. Wobei jeder was zu erzählen hat. Eine spezifische Erinnerungsarbeit gehört einfach zu den Präliminarien dieses Berufs. Wenn ich eine bestimmte Altersgruppe vor mir habe, ist es auf jeden Fall hilfreich, wenn ich mich daran erinnere, wie ich selbst in dem Alter war.
Überhaupt: Die platte Auffassung des Lehrer-Schülerverhältnisses, als Folge von Input, Output, Kontrolle und Bewertung ist schlicht und einfach naiv und basiert auf einer Art von Behaviorismus, der der Komplexität menschlicher Beziehungen nicht gerecht wird.
Die größten „Granaten“ werden zu den treuesten Fans
Wer ist also als Lehrer geeignet? Erzählen können, ist das mindeste. Und noch etwas: Man sollte die Erfahrung gemacht haben, dass die Kinder auf einen zukommen, dass man sich in ihrer Gegenwart wohlfühlt. Jeder kennt das Phänomen, dass bestimmte Leute, wenn sie in eine Gesellschaft mit Kindern kommen, binnen kürzester Zeit von diesen „gesucht“ werden. Oder man kennt Personen, mit denen Jugendliche gerne in Kontakt treten, ohne dass da irgendeine Form von Anbiederung vorliegt, oft das Gegenteil. Manche Lehrer sind bei der Pausenaufsicht immer von einer Traube von Schülern umgeben, manche nicht. Woran liegt das?
Dazu eine kleine Geschichte: Ich musste im Schulkindergarten einen Routinebesuch wegen der Praktikumsevaluation einer Schülerin machen. Das Ganze war schnell erledigt, aber eine der Erzieherinnen, eine Exschülerin, die mir übrigens seinerzeit, sagen wir, gepflegt auf den Kittel gegangen war, aber nach der Schule nur noch von meinem Unterricht schwärmte (nicht selten werden die größten „Granaten‘“ zu den treuesten Fans), wollte unbedingt mit mir noch einen Kaffee trinken. Ich musste in einem Nebenzimmerchen eine Viertelstunde warten. Dort spielte ein kleines Mädchen mit Puppengeschirr Kaffeekochen. Ich sah ihr kurz zu und meinte dann: „Kochste mir auch einen?“ Ernsthaft schob sie Tellerchen und Tässchen hin und her und gab sie mir dann. Eine Situation von Frieden und Einvernehmen, die schwer zu schildern ist. Als ich weg musste, stellte sie sich mir vor, mit Namen und Adresse, irgendwie als wollte sie, dass ich mit ihr in Kontakt bleibe.
Der propagierte Lernbegleiter ist keine Autorität
Ich habe das Kind nie mehr wiedergesehen, aber das Erlebnis hat mich so berührt, dass ich später eine Fortbildung in Primarpädagogik gemacht habe. Irgendwas in mir war verändert, ich dachte daran, ob ich vielleicht nicht doch langsam in das Patriarchenalter käme, wo man großväterlich für die Kleinen da sein könnte.
Auf jeden Fall meine ich, dass man den Lehrerberuf nicht einfach wählt, sondern auch gewählt wird. Wer nur verkrampft und ängstlich vor einer Klasse steht, dürfte mit dem Job nicht glücklich werden, auf keinen Fall. Ein bisschen natürliche Autorität, – ich glaube, das gibt es –, ein bisschen Spaß mit Kindern und ein bisschen was zu sagen haben über die Lehrbuchinhalte hinaus, das sollte schon sein.
Fatalerweise werden die genannten Fähigkeiten in der heutigen Lehrerausbildung nicht gefördert, sondern eher eliminiert: Der propagierte Lernbegleiter ist keine Autorität, will sie nicht sein, sondern eine Art von Medienexperte und Navigationshilfe im Informationsdschungel, mehr nicht. Natürlich müssten die Schüler auch zuhören können. Ein weiteres „weites Feld“.
Lesen Sie nächste Woche: Zwischen Elend und Armut: Der Sprachverfall.
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