Als Kunstlehrer war ich in einer gewissen Sondersituation. Ich unterrichtete das einzige Fach, in dem sich die Schüler, etwas gelockert durch ihre manuelle Tätigkeit, im Sitzen relativ frei, ausreichend laut und unbefangen unterhielten. In der Regel wanderte ich durch die Reihen, korrigierte bei Einzelnen, gab Tipps und versuchte die Ermatteten weiterzuschieben. Bei mir gab es eine Art pädagogisches Schweigegebot. Ich erzählte nie was weiter, höchstens wenn die Anwürfe gegen Kollegen zu sehr unter die Gürtellinie gingen, fing ich an, leise zu knurren, was auch gewöhnlich sofort half. Dazu kommt noch, dass wohl bei keinem Unterricht die Persönlichkeit der Schüler so geradezu holzschnittartig deutlich wird wie im Fach Kunst. So weit, so gut!
Für die Schüler ist die Schule erst einmal Lebens- und Sozialraum. Die wichtigsten Akteure sind ihre Mitschüler. Interessant ist, wie sie sich zu ihrem schulischen Lebensumfeld äußern. An erster Stelle in oberen Klassen stehen Erinnerungen an Klassenfahrten: „Weißt du noch …“ Gerne auch mit Heldenberichten von nächtlichen Ausbrüchen und verbotenen Umtrünken. Dann folgen Wahrnehmungen an Lehrern, die sich keineswegs auf das Fachliche beziehen, sondern viel mehr auf die persönliche Wirkung, den Kollegen als Sympathie- oder Antipathieträger, seine Macken und dergleichen. Man kann fast sagen, je mehr einer ins Feuerzangenbowlische schlägt, desto eher bleibt er in Erinnerung. Oder er fasziniert die Schüler tatsächlich, über eine Kombination von Person und Fachkompetenz. Dazu kommen humoristische Situationen, das Kabarettistische, das Schule immer auch hat, wenn sich Generationen gegenüberstehen. Dann spät, sehr spät, kommen die Inhalte, oft verbunden mit der Frage, wo man die Hausaufgabe abfeilen kann.
Sagen wir es fei heraus: Der ganze ungeheure Aufwand, den wissenschaftliche Pädagogik, Schulbuchverlage, präfabrizierte Unterrichtseinheiten, Lehrfilme, Folien, Didaktiken, Lehrpläne und Handreichungen betreiben, ist für das Bewusstsein der Schüler, vor allem für den Inhalt ihres Langzeitgedächtnisses für die Katz. Es bleibt nichts hängen, niente, nada!
Die angekündigte Digitalisierung mit Tablets und Whiteboards, eine Art Armee Wenck der Bildungspolitik, wird’s mit Sicherheit nicht besser machen. Eher schlechter: Ein Filmchen rauscht noch schneller durchs Hirn als ein gedruckter Text.
Der Lehrer ist Agent des Schulbuchs
Ich versuche mal meine Auffassung von Schule zu formulieren: Schule ist die organisierte Weitergabe der kulturellen und wissenschaftlichen Tradition einer Gesellschaft an die nachfolgende Generation durch Personen. Klingt einleuchtend, ist aber nicht mehr der Fall.
Heute ist Schule die häppchenweise verabreichte und abgeprüfte Vermittlung von Lehrstoff unter dem Aspekt einer gewissen aktuellen politischen Perspektive, angereichert durch ein Ermahnungsregime, wobei die Person des Lehrenden in den Hintergrund treten soll (im Extremfall ist er nur noch Lernbegleiter, und ein vermittelnswerter Kanon ist eh nicht mehr klar und erwünscht).
Der Lehrer ist Agent des Schulbuchs, des Ministeriums, der Leistungsanforderungen und ihrer Abprüfung. Persönlichkeit stört dabei eher. Vor allem in der Referendarsausbildung wird systematisch der Rückzug geübt. Lehrervortrag, nein danke, Lehrermeinung: in der Cafeteria, aber nicht zu laut, alles soll aus dem Schüler geholt werden und wenn in einer Stunde nicht jeder mal dran war, gibt’s eine schlechte Beurteilung. Nur dem Lehrervortrag zuhören: Nein! Überforderung durch Komplexität, Seitenwege des Denkens: auf keinen Fall. Unterricht als Nürnberger Trichter: Nur was oben reinkommt, muss unten wieder rauskommen.
Eine gewisse Infantilisierung ist nicht zu verkennen
Ich hatte schon mal erwähnt, dass ich lange auch als Waldorflehrer gearbeitet habe. Hier mal zum Thema eine Ansicht Steiners, der ja auch nicht wenig zu pädagogischen Fragen gesagt hat. Er meint, dass ein Unterricht, der die Schüler nicht tendenziell immer leicht überfordere, dazu führe, dass diese unterbewusst den Lehrer für dumm halten. Er meint das genau so: Dumm, doof, debil! Besonders wendet er sich gegen den damals gehypten Anschauungsunterricht, bei dem alles aus dem reinen Phänomen entwickelt werden soll.
Ich habe den trüben Verdacht, der Mann könnte recht gehabt haben und einen Kern der gegenwärtigen pädagogischen Probleme treffen. In den präfabrizierten Unterrichteinheiten wird alles auf das Fassungsvermögen der Schüler heruntergebrochen. Eine gewisse Infantilisierung ist nicht zu verkennen, ich fürchte sogar, dass sie erfolgreich ist. Schon aus Zeitgründen, auch wegen des allgegenwärtigen Notenwahns, kann ein Pädagoge kaum über diese „Bildung“ in Häppchen hinausgehen. Er verschwindet hinter dem mund- oder hirngerecht zubereiteten Stoff.
Dazu eine Geschichte. Ich habe in den letzten Wochen aushilfsweise eine schwierige 12. Klasse unterrichtet. Thema: Dürrenmatts „Der Richter und sein Henker.“ Die von den Verlagen zubereiteten Unterrichtsmodelle waren supersimpel. Der Text ist im Grunde nicht ganz einfach, impliziert eine Auseinandersetzung mit Fragen individueller Schuld und mit Positionen des Nihilismus.
Ein bisschen was muss schon „los“ sein im Unterricht
Selten waren die eigentlich eher schwachen Schüler ruhiger als in der Stunde, in der ich ihnen diesbezügliche Zusammenhänge erklärt habe, inklusive eines Exkurses in den Existenzialismus. Das ging alles weit über die geforderten Interpretationen hinaus.
Aber klar: Warum sollte ein Schüler aufmerksam sein, wenn ihm eh nur das Lehrbuch vorgebetet wird. Ein bisschen was muss schon „los“ sein im Unterricht, und dazu muss der Lehrer spürbar sein.
Noch ein Exkurs: Ich habe mal bei einem Kollegen hospitiert, der massive Schwierigkeiten in seiner Kunstgeschichtsepoche hatte. Die Schüler waren undiszipliniert bis unverschämt, Lernen war kaum möglich, allerdings hatte auch das Unterrichtskonzept Schwächen. Ich habe damals den Kollegen gefragt, was er denn grundsätzlich in den drei Wochen vermitteln wolle, was sein eigentliches Anliegen sei. Die Frage hatte er sich nicht gestellt.
Dabei geht’s auf keinen Fall darum, Einzelbilder zu interpretieren oder historische Fakten zu vermitteln. Eine weltanschauliche Orientierung sollte hinter den Stunden stecken, etwas in der Art der Frage: Gibt’s überhaupt eine kulturelle Weiterentwicklung der Menschheit oder eher nicht? Das kann als Frage unbeantwortet stehenbleiben, aber Unterricht funktioniert, wenn diese existentiellen Fragen hintergründig spürbar sind. Um es kurz zu machen: Es hat geholfen.
Lesen Sie nächste Woche: Erinnerungen an meine Mentoren.
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