Hubert Geißler, Gastautor / 15.08.2020 / 10:00 / Foto: DonkeyHotey / 29 / Seite ausdrucken

Aus dem Heldenleben eines deutschen Lehrers (11): Gelobt sei Boris Johnson

Vorweg eine historische Überlegung. Es dürfte kaum bestritten werden, dass der Zeitraum von circa 1800 bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, zumindest in der westlichen Welt, in gewisser Weise, nicht nur was Philosophie und Literatur, sondern auch Wissenschaft und Technik anbelangt, von Deutschland stark geprägt, wenn nicht dominiert wurde.

Was für eine Art von Grundbildung haben aber unsere Heroen der Wissenschaft und Technik durchlaufen? Erstaunlicherweise die meisten das Humboldtsche humanistische Gymnasium, eine Veranstaltung, die sich fast monoman auf die Vermittlung von Übersetzungsfähigkeiten in den Alten Sprachen konzentrierte und die sogenannten Realia nur peripher streifte.

Was für Heutige als Spezialausbildung für Theologen noch hingehen könnte, brachte damals alles hervor: Pfarrer, Professoren, Beamte, Wissenschaftler, Militärs, einfach alles, was ein bestimmtes Bildungsniveau verlangte.

Idealistisches und weltfremdes Konstrukt

Das klassische Gymnasium ist für jeden realistisch denkenden Menschen eine Veranstaltung der Vermittlung hochgradig irrelevanter Kenntnisse, die von Humboldt aus einer protestantisch-theologischen Tradition wohl unter dem Einfluss des seinerzeit herrschenden Philhellenismus und der Tendenzen der romantischen Sprachwissenschaften als – von heute aus betrachtet – idealistisches und weltfremdes Konstrukt für 150 Jahre zur schulpolitischen Norm wurde: Kaum Naturwissenschaften, weitgehende Ignoranz gegenüber modernen Fremdsprachen, keine wirtschaftlich verwertbaren Kenntnisse, sondern permanentes Übersetzen von antiquierter Literatur ohne jeden aktuellen Bezug und schon gar ohne jede gesellschaftskritische Relevanz.

Also weg damit, war die Devise in den 1960ern, und bis auf museale Relikte ist das humanistische Gymnasium auch verschwunden. Nicht einmal reaktionäre Verteidiger desselben scheinen richtig zu verstehen, was da eigentlich dran war. Ganz einfach: Das war dran, was jetzt verloren ist.

An der Stelle mal wieder eine kleine Geschichte. Anfang der 1980er hatte ich eine Art von Schnupperstipendium an einem College in Oxford bekommen. Keins der weltberühmten, aber ich war da. Austausch mit englischen Studenten wurde organisiert. Einmal sprach ich mit einem jungen Mann, der klassische Philologie studierte. Ich war selbst an einem humanistischen Gymnasium gewesen, zeitbedingt natürlich sehr skeptisch gegenüber dem Schultyp, und fragte ihn, was er denn beruflich im Auge habe. Er meinte, das wäre überhaupt kein Problem: Banken würden zum Beispiel sehr gerne Altphilologen einstellen, auch jede Art von politischen Organisationen. Ich war baff erstaunt. In Deutschland führte Altphilologie in der Regel nur zum Lehramt der Altphilologie.

Die Engländer schienen das ganz anders zu sehen. Ein aktuelles Beispiel für diese andere Sicht ist der leibhaftige Gottseibeiuns und EU-Zerstörer Boris Johnson. Zitat aus Wiki: „Danach verbrachte er von 1982 bis 1983 ein „Gap Year“ in Australien – er unterrichtete Englisch und Latein an der Geelong Grammar School, einem Eliteinternat in Victoria. Von 1983 bis 1987 studierte Johnson Klassische Altertumswissenschaft am Balliol College der Universität von Oxford.“

„Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“

Erstaunlich, oder? Man mag ja von dem guten Boris halten, was man will, aber gegenüber den tristen Verlautbarungen unserer Kanzlerin sind seine Reden ein Genuss und entbehren nicht des typisch englischen schwarzen Humors. Bücher hat er auch geschrieben, war in der Finanzwirtschaft tätig und im Journalismus: Ein wahrer Tausendsassa in vielen Rollen, für den ihn offensichtlich die Altphilologie qualifiziert hat.

Es ist ein Allgemeinplatz, dass die Schule „Denken“ lehren soll. Nun verläuft im Allgemeinen das Denken im Medium der Sprache, und es ist zu vermuten, dass eine defizitäre, verarmte Sprache auch nicht unbedingt ein Vehikel eines differenzierten Denkens sein kann. Dabei stelle ich nicht in Abrede, dass es andere Formen von „Intelligenz“, Denken, geben kann: Mathematische, soziale, oder auch sowas wie musikalische oder bildnerische Intelligenz. Die dominante Wertigkeit des sprachlich gebundenen Denkens dürfte aber jedem einleuchten. „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“, ich weiß nicht mehr, von wem dieser Spruch ist, ich glaube Wittgenstein, aber da ist auf jeden Fall einiges „dran“.

Um zwei meiner Thesen voranzuschicken, soviel:

  1. Die Grenzen der Sprache lassen sich auf jeden Fall durch die Kenntnis weiterer Sprachen differenzieren und erweitern. Das Mittel dazu ist reflektiertes Übersetzen.
     
  2. Humboldt spricht davon, „dass Sprache die unendliche Bemühung des Geistes ist, den artikulierten Laut zum Träger des Gedankens zu machen.“ Also ist Sprache ein Weg, zu dem wie auch immer verstandenen Geistigen zu kommen, ergo auch ein Weg zu (wissenschaftlicher) Intuition.

Man sieht hier schon, dass man bei der Betrachtung der Probleme nicht um ein bisschen (Trivial-)Philosophie herumkommt. Wie bei einem Rückgriff auf die Romantik unvermeidlich, dürfte es auch ein bisschen esoterisch werden.

Aber gleichviel. An einem System, das funktioniert hat, wie dem Humboldtschen Gymnasium, muss etwas dran gewesen sein. Rein rational ist sein Erfolg nicht erklärbar. Davon in der nächsten Folge.

Lesen Sie am nächsten Samstag: Denken lernen, aber wie?

Teil 1 finden Sie hier.

Teil 2 finden Sie hier.

Teil 3 finden Sie hier.

Teil 4 finden Sie hier.

Teil 5 finden Sie hier.

Teil 6 finden Sie hier.

Teil 7 finden Sie hier.

Teil 8 finden Sie hier.

Teil 9 finden Sie hier.

Teil 10 finden Sie hier.

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Gertraude Wenz / 15.08.2020

@Magdalena Hofmeister: Vielen Dank, Frau Hofmeister, für Ihren wunderbaren, zutreffenden und auf hohem sprachlichen Niveau formulierten Leserbrief! Ich empfinde alles so wie Sie (mit blutendem Herzen) und genieße die alten Filme, die noch durch geschliffene Dialoge bestechen, ebenfalls sehr. Sie zeigen überdeutlich, was wir haben verwahrlosen lassen und inzwischen verloren haben. Auch die Sprachkunst der klassischen Literatur des 19. Jahrhunderts zeigt uns eine heutige gewisse Proletarisierung selbst der Hochsprache. Es trägt vieles dazu bei. Sicherlich auch die Bilder- und Videoflut, die unsere Medien überschwemmt. Ich stelle auch fest, dass die Menschen kaum noch lesen, d.h. anspruchsvollere Bücher, die den Verstand herausfordern. Dazu haben sie entweder keine Lust oder nicht genügend Ausdauer. Selbst von Akademikern habe ich gehört: Ach nö, lange Artikel zu lesen (ich hatte die Achse empfohlen) ist auch nicht so meins, ich hör mich lieber im Internet um, was da so “gesagt” wird. Der Mensch ist bequem, und wenn es einen gemütlicheren und einfacheren Weg zum vermeintlichen Ziel gibt, dann wählt er den. Oder genauer: Einfach zu viele lassen sich dazu verführen. Das unsägliche Gequatsche der Selbstdarsteller im Fernsehen trägt auch nicht zur Verfeinerung der Sprache bei, modische Anglizismen machen das Desaster komplett.

Wolfgang Janßen / 15.08.2020

Ein Professor für Chemie hat auf die Frage, was ein künftiger Chemiestudent in der Schule lernen sollte, geantwortet: “Sprachen, Geschichte und anderes. Chemie bringen wir ihm bei.”

Ulla Schneider / 15.08.2020

Hallo Herr Geissler, das ist nun mal deutsch, extrem abräumen, extrem wegräumen, entweder oder - anstatt sowohl als auch -kaputt geht immer. Ich für meinen Teil würde grundsätzlich drei Jahre Latein empfehlen, als Grundlage der Sprachen. Interessant müsste der Unterricht sein, gleichfalls mit der Herleitung anderer Sprachen. Der Vorteil ist die nahe Sprachverwandtschaft. Es öffnet sich ein anderes Fenster im Oberstübchen, weil die schon bekannte Vernetzung vorhanden ist >> s. Herleitung (Aha!) @B. Oelsnitz: Danke für den Einwand zur Intelligenz und besonders für den letzten Satz. Das ist des Pudel’s Kern! FG.

Markus Baumann / 15.08.2020

„Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“. In Zusammenhang mit diesem Satz wäre zu bedenken: 1. Jede Sprache basiert auf der persönlichen Welt-Erfahrung des diese Sprache benutzenden Individuums. 2. Diese persönliche Welterfahrung ist immer auch eine emotionale Erfahrung der Welt. Daraus folgt: Die Grenzen der Sprache und der Welt sind immer auch emotionale Grenzen, die mich ermuntern oder hindern, weitere Welt-Erfahrung zu machen. Emotionale Grenzen in mir bestimmen, was ich mit Sprache ausdrücken kann/will, welche Themen (Bereiche der Welt) ich meide, mit welchen Worten ich die Welt beschreibe. Emotional offene Menschen haben ein offenes Verhältnis zur Welt und zur Sprache, sie sind neugierig und haben die Fähigkeit, Themen aus unterschiedlichsten Perspektiven zu betrachten und zu „beworten“. Sie bemühen sich um sprachliche Präzision. In jedem Gespräch begegnen sich in den Sprechenden immer auch mehrere „emotionaler Welten“, welche durch Sprache ausgedrückt werden. Im Endeffekt ist jedes Streitgespräch ein Streit mit Worten um Emotionen. Deshalb sind zum Beispiel „Talkshows“ oft so öde, weil schnell sichtbar wird, wo die emotionalen Grenzen zum Thema verlaufen, um die dann vermeintlich „sachlich“ gestritten wird, woraus dann ein Drehen im Kreis wird. Bundestagsdebatten bieten in dem Zusammenhang guten Anschauungsunterricht dafür, dass der Satz „Die Grenzen meiner Emotionen sind die Grenzen meiner Sprache, sind die Grenzen meiner politischen Welt, sind die Grenzen meiner Fähigkeit, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen und Argumente verstehen und gelten lassen zu können“. Die eigene Sprache zu erweitern und fremde Sprachen kennen zu lernen, ist immer auch eine Erweiterung und Differenzierung des emotionalen Zugangs zur Welt. Ich werde auf diese Weise immer wieder reich beschenkt.

Rupert Reiger / 15.08.2020

Ich habe schon vor Jahrzehnten im Gymnasium nichts !!! gehört von: China hat: Lao-Tse gegen die Planwirtschaft im 6. Jahrhundert v. Chr (Dao-de-jing: „Regierender“ Bleib ohne Tun, nichts, das dann „durch das Volk“ ungetan bliebe). Die Briten haben: Thomas Hobbes 1588 - 1679 (Leviathan), John Locke 1632 - 1704 (A Letter concerning Toleration, The Second Treatise of Civil Government), David Hume 1711 - 1776 (A Treatise of Human Nature, An Enquiry Concerning Human Understanding), Adam Smith 1723 - 1790 (An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations), David Ricardo 1772 - 1823 (On the Principles of Political Economy and Taxation), John Stuart Mill 1806 - 1873 (On Liberty). Österreich hat: Joseph Alois Schumpeter 1883 – 1950 (Business Cycles, Schöpferische Zerstörung), Friedrich August von Hayek 1899 – 1992 (The Constitution of Liberty). Deutschland hat: Arthur Schopenhauer 1788 - 1860 (Die beiden Grundprobleme der Ethik: Ueber die Freiheit des menschlichen Willens, Ueber das Fundament der Moral), Friedrich Wilhelm Nietzsche 1844 - 1900 (Jenseits von Gut und Böse, Zur Genealogie der Moral). Ich habe nur gehört von: Deutschland hat: Karl Marx 1818 – 1883 (Das Kapital, ...).

Werner Arning / 15.08.2020

Ich denke, dass das Bildungssystem auch deshalb in anderer Weise Wirkung hinterlassen konnte, weil das gesellschaftliche und familiäre Umfeld ein ganz anderes als heute war. Es war eine stetige Bereitschaft zum Lernen, zum Denken vorhanden, welche es heute so nicht mehr gibt. Das Denken wurde geübt, ob bei dem Erlernen eines Instrumentes oder bei der Übersetzung aus dem Altgriechischen. Es bestand ein Hunger nach Wissen, nach Entdeckung. Natürlich war diese Einstellung bestimmten Kreisen vorbehalten, doch aus diesen Kreisen rekrutierten sich „die Genies“. Heute besteht Bildung aus einer Massenveranstaltung. Das Ergebnis ist eine Nivellierung nach unten. Dafür wird es gerecht genannt. Genies gehen daraus nicht hervor. Stattdessen jedoch eine Menge Menschen mit Haltung und sozialer Einstellung. Was braucht die Welt nötiger? An dieser Frage scheiden sich die Geister. Besteht darin womöglich auch der Gegensatz zwischen Links und Rechts?

toni Keller / 15.08.2020

Genau die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt! Und wir beobachten doch seit Jahren dass diese Grenzen immer enger werden, einfach weil die gesprochene Sprache immer undiffernzierter wird. Es gibt ja in der öffentlichen Diskussion nur mehr die guten Befürworter und die bösen Leugner!

Marcel Seiler / 15.08.2020

Interessanter Aspekt. Danke! Nicht zu unterschätzen auch die einheitliche Bildung einer Elite, die (a) ein Gefühl für Qualität entwickelt hat, und die (b) sich genau deshalb untereinander versteht, ohne dass es elende Wochenendseminare geben muss zur Einführung in “Diversität”.

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