Hubert Geißler, Gastautor / 08.08.2020 / 10:00 / Foto: Tomaschoff / 51 / Seite ausdrucken

Aus dem Heldenleben eines deutschen Lehrers (10): Nazi Goreng

Ende Juni 2018 schafften es zwei bemerkenswerte Meldungen in die deutschen Leitmedien: Eins der größten Unternehmen des Landes, die Deutsche Bahn, will fürderhin darauf verzichten, von Bewerbern um Ausbildungsplätze oder Jobs ein schriftliches Bewerbungsschreiben einzufordern. Die andere Nachricht bestand in einem Loblied auf die auffallende Pünktlichkeit der italienischen Staatsbahnen.

Für einen wertekonservativ angehauchten Leser dürften diese beiden Fakten in einem gewissen Zusammenhang stehen. Jahrzehntelang galt Italien als das Land der Verspätungen. „Domani, forse“ und „komm ich heut nicht, komm ich morgen“ war in unserer nordischen Vorstellungswelt so untrennbar mit dem Land, in dem die Zitronen blühn, verbunden, dass man sozusagen den Fahrplan gar nicht zu studieren brauchte und sich gewöhnlich mit der exzellenten Qualität des Espressos in den Bahnhofsbars tröstete.

Italien, das war spätestens nach Mussolini das Land der Streiks und des „dolce far niente“, man kannte es gar nicht anders. Und nun diese plötzlich Revolution: Pünktlichkeit jenseits des Brenners. Und das ganz im Gegensatz zu den endlosen Verspätungen hier in Deutschland. Wer öfter mit der Bahn durch die Republik gefahren ist weiß, dass Ankunftszeiten nur noch ein unverbindlicher Vorschlag sind, dass Anschlüsse zu verpassen fast die Regel ist, und man froh sein muss, nicht wegen Wetterkatastrophen oder sonstigen Widrigkeiten in der Pampa ohne Möglichkeit der Weiterfahrt zu landen.

Ist korrektes Schreiben eine Spezialfähigkeit?

Wird nun etwa in Zukunft die Bahn von funktionalen Analphabeten betrieben? Spielt die minimale Beherrschung basaler Kulturtechniken, wie Lesen und Schreiben keine Rolle mehr? Ist der Verzicht auf schriftliche Bewerbungen ein Ausdruck finaler Resignation vor einem nicht mehr revidierbaren Verlust einst selbstverständlicher Fähigkeiten? Stellt man sich diese Fragen, dann kommt einem der Gedanke, dass es beim gegenwärtigen Lehrlingsmangel offenbar reicht, einen Schraubenzieher zu halten und ein Anschreiben sowieso nichts mehr über die sprachlichen Fähigkeiten eines Bewerbers aussagt:

Ich selber habe als Deutschlehrer Hunderte von Bewerbungsschreiben nicht korrigiert, sondern renoviert, wenn nicht restauriert und das auf den Ebenen aller Schulstufen. Man kann sich die „Dinger aus dem Netz runterziehen“, was nicht immer das Schlimmste verhindert und an der Abfassung solcher Schriftstücke dürften ganze Familien und Nachbarschaften beratend mitgewirkt haben. Irgendeinen Lehrer gibt’s immer im Bekanntenkreis, der mal „drüber gucken“ kann. Also besser drauf verzichten, wenn die Aussage solcher Schreiben gegen Null tendiert.

Oder steckt da schon der Verdacht dahinter, dass korrektes Schreiben eine Spezialfähigkeit ist, die man keineswegs allgemein voraussetzen kann? Berliner und Münchner Polizeischüler sollen sich da unrühmlich hervorgetan haben, aber wenn jeder, der nicht mehr korrekt schreiben kann, keine Arbeit bekommt, dann bleibt am Ende alles liegen. Einen Schraubenzieher oder einen Gummiknüppel kann auch ein funktioneller Analphabet bedienen und als „Saftschubse“ im ICE braucht’s keinen Duden.

Bei manchem mag sich der schreckliche Verdacht regen, dass das Absinken eines formalen Bildungsniveaus auch mit Katastrophen wie dem Berliner „Fluchhafen“ oder die von ausgewiesenen Dyskalkulatoren berechneten Kosten der Elbphilharmonie zu tun haben könnte. Die Bildungskatastrophe findet nicht nur am Ende der intellektuellen Nahrungskette statt. Die Abiturientenquote strebt gegen fünfzig Prozent und hat mit der Folge des Absinkens der einstigen Standards, wie später zu zeigen sein wird, längst die Universitäten erreicht.

In Krankheit flüchten und aufgeben

Dazu das Zitat eines Schülers im Kommentar zu einem bildungskritischen Artikel:

„Das hätte ich oder jede andere Schüler ihnen auch sagen können. Ich kenne durch den Freundeskreis einige, die nach dem Abi völlig ausgebrannt waren. Und wenn jetzt jemand denkt, der hätte doch auch einen Realschulabschluss machen können. Denkste! Alle wollen Jobs und denken, sie haben mit dem Abi bessere Chancen. Ich gehöre übrigens dazu. Schulstress nimmt immer weiter zu. Liegt sowohl an den Lehrern als auch an Plan, den Eltern die Druck machen, die Leistungsgesellschaft und einer selbst, dass man später ein Versager ist.“

Die Fundstelle ist mir leider verloren gegangen, das Zitat ist aber original und unkorrigiert. Ich denke, ein Kommentar erübrigt sich.

Sei dem wie es wolle: Die Epoche des Bildungsoptimismus scheint definitiv am Ende zu sein; es häufen sich die Bekenntnisse ausgebrannter, hilfloser Lehrer, die angesichts der Inklusionsforderung, der Heterogenerität der Schülerschaft aufgrund von Massenimmigration und eines rapiden Autoritätsverfalls resignieren und letztlich sich in Krankheit flüchten und aufgeben.

Sprachverfall wird zum Sprachwandel

Neben fehlenden mathematisch-naturwissenschaftlichen Kenntnissen, was zum baldigen Aussterben des geschätzten deutschen Diplomingenieurs führen wird, sind es vor allem sprachliche Defizite, die bemängelt werden. Evaluiert wird so gut wie nur noch das Leseverständnis, bei einer kritischen Betrachtung der Textproduktion bestünde die Gefahr, dass sich die Korrektoren die Haare büschelweise ausraufen. Sprachrichtigkeit spielt nun in den immer detaillierter werdenden Korrekturanweisungen für Prüfungen eine immer geringere Rolle: Das Problem verschwindet, weil es sich auf die Zensuren nicht mehr gravierend auswirkt. Landesvater Kretschmann hält ja auch Rechtschreibung für ein Problem, das durch Korrekturprogramme bereits gelöst ist.

Die Wissenschaft, wenn Pädagogik überhaupt im engeren Sinne als Wissenschaft gelten kann, was ich, wie gesagt, bezweifle, scheint in der Defensive: Sprachverfall wird zum nicht aufhaltbaren Sprachwandel umstilisiert: Ein Kollateralschaden eines Bildungssystems, das zunehmend zum sozialpädagogischen Reparaturbetrieb an einer immer weniger domestizierbaren Schülerschaft wird, die aber leider mit dem Bild des edlen Wilden bei Rousseau eher wenig zu tun hat. Denglisch und Jugendsprache sind schon längst auch in konservative Medien eingezogen.

Aber auch das verzagte schulpolitische Roll-Back mit seiner erneuten halbherzigen Leistungsbetonung, das allenthalben zu beobachten ist, scheint nicht, jedenfalls nicht auf die Schnelle, zu Erfolgen zu führen. Schulpolitik ist ein Politikum. Mit ihr werden durchaus Wahlen gewonnen oder verloren. Doch den Bürokraten geht’s ein bisschen wie Goethes Zauberlehrling: Ist die Überschwemmung mal da, lässt sich das nicht einfach rückgängig machen.

Lesen Sie nächsten Samstag: Ein Blick zurück.

Teil 1 finden Sie hier.

Teil 2 finden Sie hier.

Teil 3 finden Sie hier.

Teil 4 finden Sie hier.

Teil 5 finden Sie hier.

Teil 6 finden Sie hier.

Teil 7 finden Sie hier.

Teil 8 finden Sie hier.

Teil 9 finden Sie hier.

Foto: Tomaschoff

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Leserpost

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Jens Kruse / 08.08.2020

Einer meiner Vorschreiber hat hier das Wort “Berufsfähigkeit” eingeworfen. Genau dort liegt das Problem. Wenn alle das Abitur haben weil die Standarts immer niedriger werden ist die Hochschulreife nichts mehr wert. Unsere “Lehrlinge” (im Straßenbau gibt es keine Azubis) werden von einem pensionierten Lehrer betreut damit er ihnen bei der Bewältigung der Berufsschule hilft. Er sorgt dafür das die Jungs und “Mädels” fit sind für die Prüfungen. Vor allem in Deutsch und mathematik. Selbst unsere Mitarbeiter mit Migrationshintergrund suchen unseren Lehrer auf um z.B. Texte vom Amt besser zu verstehen. Die Kosten trägt die Firma und wir legen das auf die Preise um. Herr Geißler, als ich zur Schule ging wurde mehr nach dem realen Leben gelehrt als Heute. Dieses ist zumindest mein Eindruck. Wo sind eigendlich die ganzen Haupt- und Realschüler geblieben? Damit hier nicht gleich Protest kommt: Meine Firma ist im Erd-Tief- und Straßenbau tätig und dazu noch als Spedition. Wir bilden im Tief- und Straßenbau sowie zum Berufskraftfahrer aus.

Johannes Schumann / 08.08.2020

Ich muss feststellen, dass klassische Bildung weniger Stellenwert hat. Man sieht in der Ausbildung an einer Hochschule nur eine Ausbildung. Dass Bildung an sich einen Wert darstellt, sehe ich bei vielen meiner Kollegen nicht. Es liest praktisch keiner außer mir Bücher. Wahrscheinlich wissen die Leute nicht mal mit den Namen Fontane, Eichendorff oder Novalis etwas anzufangen. Ich bin Informatiker und habe nicht nur überdurchschnittliche viele Fachbücher und -artikel gelesen, sondern eben auch Romane, Gedichte, Novellen usw. Das war mir schon während des Studiums wichtig. Ich bin immer interessiert. Das Lesen von Fachbüchern ist bei meinen Kollegen auch nicht hoch im Kurs. Ich verstehe es nicht. Es gibt auch kaum Interesse für Theater, Oper und klassische Konzerte. Ich komme nicht gerade aus einem Elternhaus, wo das hoch im Kurs stand und musste mir vieles intellektuell aneignen. Ganz schlimm fand ich, dass ich gegenüber jemanden per WhatsApp von “pekuniären Anreizen” sprach und die Person muss dann offenbar erst einen Duden konsultiert haben, weil er hinterher meinte, ein neues Wort gelernt zu haben. Das schlimme ist: Die Person ist jenseits der 40 und hat eine Bankausbildung. Sich zu bilden, ist enorm wichtig, um seinen Sprachschatz zu erweitern. Das passiert implizit, wenn man liest. Ich weiß nicht, ob ich aus der Art geschlagen bin, aber ich fand Bildung schon immer reizvoll. Da ich nun 20 Jahre Kunde bei Amazon bin, wie ich kürzlich beim Login feststellen konnte, fiel sofort ein, was meine erste Bestellung war. Es waren “Die Buddenbrooks” und “Der Prozess”.  Ich setzte mir die Herausforderung, beide Bücher zu lesen und hab’s dann auch getan. Zur Zeit bin ich versessen auf Schach und lese sogar darüber und ich will darin besser werden.

Gertraude Wenz / 08.08.2020

Wer die deutsche Sprache liebt, ein Faible für Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung hat, braucht heutzutage starke Nerven, um den Niedergang eben dieser Sprache einigermaßen gefasst zu ertragen. Ich habe schon als Grundschulkind Diktate geliebt und im Gymnasium entsprechend das Fach Deutsch und hier besonders die Grammatik und Rechtschreibung, was die meisten Mitschüler ja zum Gähnen fanden und verabscheut haben. Warum ein Komma gesetzt werden musste und wie dieses den Sinn eines Satzes verändern konnte, fand ich damals (!) spannender als Geographie und Biologie. Das mag mancher seltsam finden, aber so verschieden sind Interessen und Fähigkeiten. In meiner kindlichen Naivität glaubte ich als 10 Jährige noch, dass ein jeder nach Abschluss der Schule die Rechtschreibung perfekt beherrschen würde, sozusagen als banale Voraussetzung für alles weitere Lernen. Ein Verehrer mit Rechtschreibfehlern im Liebesbrief hätte bei mir keine Chance gehabt. Heute wird der Rechtschreibung (leider) nicht mehr so viel Wert beigemessen, wie ja alles etwas stupide Üben aus der Mode gekommen ist. Ich finde das überaus bedauerlich, weil ein Verständnis von Sprache klares Denken schult und ein besseres Verständnis für die Welt ermöglicht, die wir ja durch Sprache erfassen. Wenn ich Adjektive nicht von Substantiven unterscheiden kann, ist mein Blick auf die Welt doch etwas getrübt. Es fehlt mir eine wichtige Klassifizierung. Dass eine gewisse Sprachbegabung natürlich förderlich ist, genau wie z.B. Musikalität in anderen Bereichen, sollte man natürlich auch sehen. Wer ein gutes Wortbildgedächtnis hat, kann sich gratulieren, wer ein Gefühl für Sprache mitbringt, hat es leichter. Dass durch die vielen Rechtschreibreformen die Unsicherheit im korrekten Schreiben nur noch größer geworden ist, kommt noch -das Problem verschärfend -  hinzu. Übrigens wimmelt es auch auf der Achse von Rechtschreibfehlern! Ich hoffe, ich habe keinen gemacht :-) ...

Markus Rüschenschmidt / 08.08.2020

Die Bildungskatastrophe hängt mit dem Verzicht auf die Durchsetzung des Leistungsprinzips zusammen: Wenn Schulnoten als “diskriminierend” angesehen werden (was bereits vielerorts geschieht) und da ja sowieso “alle dieselben Chancen” haben sollen, da ja das große Einheits- und Gleichheitsmantra täglich vorgebetet wird, gibt es auch keine Anreize mehr, über sich selbst hinauszuwachsen und mehr zu erreichen. Die Standards beim Abitur sind wirklich abgesunken - ich war überrascht, wie spielend leicht es war, das Abitur zu erlangen, trotz Defiziten in Mathematik. Bezüglich des korrekten Zusammenfügens eines geraden Satzes, ist Ihr obiges Beispiel noch nicht einmal das schlimmste. Als Nichtlehrer, habe ich auch schon Texte zu Gesicht bekommen, welche das wahre Grauen sind. Junge Leute können ohnehin nicht mehr schreiben. Ausnahmen bestätigen diese Regel.

Jochen Lindt / 08.08.2020

Na schön, aber welche Schreib- Sprachkompetenz können Schüler*in/:nen denn entwickeln wenn Genderspeak Pflicht ist?  Zwischen gesprochener Sprache und Schriftsprache herrscht doch heutzutage ein Unterschied wie im 17. Jahrhundert.  Oder weiß irgendeine/r Lehr*persX/in inzwischen wie man mitten im Wort * oder / oder X ausspricht, oder ob “der Baum” immer noch “die Pflanze” ist?

Thomas Taterka / 08.08.2020

Der Missbrauch der Krankschreibung geht bei rot-grünen Lehrern , besonders aber bei rot -grünen Lehrerinnen ins astronomische. Das kann ich Ihnen als ehemaliger Buchhändler bestätigen, der für die öde 5 Minuten - Therapie in der Regel das Entgelt einer Krimi - Taschenbuch - Ausgabe verlangt hat. -Immerhin, denn der ” Beamtensonntag “ liest praktisch gar nichts. Ausser Kontoauszüge.

Markus Rüschenschmidt / 08.08.2020

Ey sorry, jetzt übertreiben Sie’s aber ein wenig, Herr Geißler, ähnlich wie die BAHN: Wie schwer kann es sein, ein Bewerbungsschreiben zu verfassen? Und ja, es sollte “aussagekräftig” sein, schreiben viele Unternehmen. Was heißt das schon? Man muss einfach freiheraus irgendeinen halbwegs wahren Kram schreiben, warum man den Job gern will, was einen auszeichnet (man nenne einige Adjektive) - und sowas sollte jeder Mensch können, egal, wie sprachlich begabt oder untalentiert er ist. Es gibt Millionen Ratgeber-Bücher, mittlerweile ist auch das Internet voll, nicht nur von den Ihrerseits genannten Vorlagen. Man schaut sich natürlich vorher an, wofür das Unternehmen steht, was die Firmenphilosophie ist (hier empfiehlt es sich, die Homepage wenigstens grob zu überfliegen und sich die Grundsätze anzuschauen bzw. durchzulesen - aber Vorsicht: nur für “Profis”, die LESEN können!) - und daraus bastelt man sich die Sätze zurecht. Kann bei Sprachmuffeln schwierig werden, doch man muss es durchziehen.

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