Bildung: Aus acht mach neun

Von Christoph Lövenich.

Wenn man alles nachahmt, was die Peer-Group so tut, heißt das Gruppenzwang. Beim deutschen Föderalismus spricht man von unitarischen Tendenzen – gemeint ist dasselbe. Die Bundesländer wollen eigene Entscheidungen treffen, die sich aber möglichst wenig von denen der anderen unterscheiden. Das zeigt sich auch in der Schulpolitik, und als eines von vielen Beispielen kann die Verkürzung der gymnasialen Schulzeit von neun auf acht Jahre gelten. Um die Mitte des letzten Jahrzehnts sind alle westdeutschen Länder in irgendeiner Form auf den G8-Zug aufgesprungen, während in der ehemaligen DDR traditionell das Abitur am Ende der zwölften Jahrgangsstufe steht.

Es war damals Mode, über das im internationalen Vergleich höhere Alter von Schulabsolventen zu lamentieren. Dem Arbeitsmarkt jüngeren Nachwuchs zur Verfügung zu stellen, war die Hauptmotivation hinter der fast flächendeckenden Einführung des achtjährigen Gymnasiums. Keine ganz taufrische Idee übrigens. Der Wehrmacht jüngeren Offiziersnachwuchs zur Verfügung zu stellen, war die Hauptmotivation der ersten G8-Einführung unter den Nazis 1938. Die DDR blieb dabei, die Bundesrepublik kehrte zur alten Variante zurück.

Die letzten Jahre haben gezeigt: Hier hat die „höchst instrumentalisierte Sichtweise von Bildung als Mittel zur Rettung des Standorts Deutschland“, wo „über Bildung nur noch in der Sprache der Wirtschaftsberater“ diskutiert wurde, den Praxistest nicht bestanden. Auf die Einführung des „Turbo-Abis“ folgten Unzufriedenheit und Protest, vor allem von elterlicher Seite. In Niedersachsen hat Rot-Grün G8 so schnell wieder rückgängig gemacht, wie es in den meisten Bundesländern eingeführt wurde. In Hessen besteht jetzt eine Wahlfreiheit für Gymnasien, nur ganz wenige haben sich für den Verbleib im achtjährigen Modus entschieden. In Bayern war zwar – wie in Hamburg – ein Volksbegehren für G9 an unzureichenden Unterschriftenzahlen gescheitert, die CSU will jetzt dennoch ihren alten Beschluss korrigieren. Auch im Saarland werden die Rufe nach einer Reform der Reform lauter, unter anderem von Lafontaines Linkspartei. Damals war man sich parteiübergreifend über die Einführung einig, heute überschreitet die Kritik ebenfalls Parteigrenzen.

„Heut kommen die Kinder aus der Spätschicht“

In den Landtagswahlkämpfen in Schleswig-Holstein und NRW spielte das Thema eine Rolle. Der scheidende Kieler Ministerpräsident Albig hatte sich noch gewundert, dass sein Widersacher mit Themen wie dem G9-Revival einen Wahlerfolg feiern konnte. Jetzt hat die neue Jamaika-Koalition die grundsätzliche Abkehr vom achtjährigen Gymnasium beschlossen, genau wie Schwarz-Gelb in NRW, wo gleichzeitig noch ein Volksbegehren läuft, um dieses Ziel schneller und konsequenter zu erreichen.

Worin liegen die Probleme beim G8? Man packt den Stoff von neun Schuljahren kaum gekürzt in acht, was viel Nachmittagsunterricht erfordert und zu einer Arbeitsverdichtung führt. „Früher, da sind die Kinder aus der Schule heim“, klagte der Kabarettist Django Asül in einem seiner Programme, „heut kommen sie aus der Spätschicht.“ Das lässt ihnen weniger Zeit für außerschulische Betätigung im Sportverein, mit Musikinstrumenten, bei der Jugendfeuerwehr, in diversen Ehrenämtern, in Familie und Freundeskreis. Das NRW-Volksbegehren erfährt z.B. durch den Deutschen Tonkünstlerverband (DTKV) Unterstützung, der viele Musiklehrer vertritt. Die Teilnehmerzahlen bei den Jugend-Musiziert-Regionalwettbewerben in NRW sind alleine im Zeitraum 2009 bis 2016 um durchschnittlich 50 Prozent zurückgegangen“, weiß der erste stellvertretende Landesvorsitzende Georg Kugler zu berichten.

Manche Kinder und Jugendliche laufen also Gefahr, nur noch in Schulstrukturen und der Familie zu verharren, ohne Kontakt zu anderen Erwachsenen als ihren Lehrern und Eltern, ohne viel von der großen, weiten Welt da draußen aufschnappen zu können. Im Gegenzug steigt nicht etwa die schulische Qualität. Der Bonner Pädagogikprofessor Volker Ladenthin stöhnt: „Fähigkeiten, die vor ein paar Jahren die Mehrheit der Studierenden hatten, fehlen heute völlig.“ Seiner Erfahrung nach können „Abstraktion, Analyse und Synthese […] von den heutigen G8 Studierenden nicht mehr eigenständig erbracht werden.“ Denn: „Ein Jahr Schule mehr gibt mehr Raum zur Entwicklung und zum Üben von kognitiven Operationen.“

G8 „benachteiligt Jungen gegenüber Mädchen“, ergänzt ein Schülerredakteur der Aachener Zeitung die Kritik, da die beim männlichen Nachwuchs später einsetzende Pubertät diesen in einem Zeitraum ablenke, in dem früherer Oberstufenstoff durchgenommen werde. In die gleiche Richtung wirke sich die höhere Arbeitsbelastung in der komprimierten Schulzeit aus, so eine Lehrerin aus dem Ruhrgebiet: „Die Auslese geht nur noch nach Fleiß, nicht mehr nach Begabung. Da fallen gerade dann Jungs hintenrüber.

Elterliche Erziehung und Familien gelten als mangelhaft

„Wer nachmittags Unterricht hat, lernt weniger!", zeigt sich Marcus Hohenstein, Vertrauensmann des NRW-Volksbegehrens und Gymnasiallehrer, überzeugt. Selbst die Bundesregierung muss einräumen, dass der Nachmittagsunterricht „aufseiten der Betroffenen das Gefühl aufkommen ließ, zunehmend keine Zeit mehr für sich und keine eigenen Gestaltungsspielräume zur Verfügung zu haben.“ Wichtig ist hierbei, zwischen verpflichtendem Nachmittagsunterricht und freiwilliger Ganztagsbetreuung zu unterscheiden. Letztere steht dabei nicht zur Debatte, auch wenn gelegentlich in böser Absicht angedeutet wird, G9-Befürworter seien Anhänger der traditionellen Familie und an der Vereinbarkeit und Beruf und Kindererziehung nicht interessiert.

„Dass vor allem der Ganztag für viele Schüler*innen ein Segen ist, weil er Defizite des Elternhauses auffangen kann“, wendet ein Redakteur der Rheinischen Post in diesem Zusammenhang ein. Und offenbart so ein verbreitetes Denken, in dem elterliche Erziehung und Familien als mangelhaft gelten und der Überlagerung durch immer mehr von oben organisierte Kinder- und Jugendlichenbetreuung bedürftig. Das lässt manchen mittlerweile an die DDR-Vergangenheit denken, und man muss die Frage stellen, wie viele Freiräume und Ausweichmöglichkeiten gegenüber solcher Einflussnahme noch existieren.

Die Korrektur des G8-Irrwegs ist bisher noch nicht in allen Bundesländern erfolgt, und wie sie vonstattengeht, bedarf der genauen Beobachtung. So besteht teilweise das Risiko, Stoffverdichtung und Nachmittagsunterricht auf neun Jahre auszudehnen. Außerdem steht dieses Thema nicht für sich, andere Reformen der jüngeren Vergangenheit stoßen zu Recht ebenfalls auf Widerstand. So fordern aktuell etwa verschiedene Elterninitiativen in NRW, neben G9 auch unsinnige pädagogische Maßnahmen wie „Schreiben nach Gehör“ und „selbstgesteuertes Lernen“ abzuschaffen sowie die Förderschulen zu erhalten. Die zunehmende G8-Abkehr lässt hoffen, dass auch andere Fehler berichtigt werden können.

 Christoph Lövenich ist Novo-Redakteur und wohnt in Bonn. Dieser Beitrag erschien zuerst auf Novo-Argumente.

Foto: Tim Maxeiner

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Kai Bockelmann / 28.06.2017

Ich verstehe dieses Hin und Her der westdeutschen Bundesländer nicht. Sachsen bspw. ist seit je her G8-Land und liegt bei Pisa-Tests immer auf den vorderen Rängen. Wie haben die das geschafft? Machen die SchülerInnen dort Nachtschichten? Die Kultusminister treffen sich doch regelmäßig. Über was wird da geredet? Ein Erfahrungsaustausch wäre doch sehr naheliegend gewesen. Jetzt herrscht in den westendeutschen Bundesländern schulpolitisches Chaos - aber sich Rat im Osten holen, wo kommen wir denn da hin…

Eva-Maria v. Hauff / 28.06.2017

Nach meiner langjährigen Erfahrung gibt es Nachmittagsunterricht an fast allen Tagen auch in G 9. Das ist nicht das Problem. Was auffällt ist, dass etwa ein Drittel der 12.- bzw. 13. Klässler einen festen Nebenjob hat, dazu kommt der Anteil derer, die gelegentlich auch während der Unterrichtswochen jobben. Mit einer Schulzeitverkürzung und damit der Konzentration auf das Lernen innerhalb und außerhalb des Unterrichts entfällt für viele die attraktive Möglichkeit, sich einen erwachsenengemäßen Lebensstil leisten zu können. Wer es trotzdem versucht, klagt über Überforderung, und die Eltern klagen mit. Ich sehe G 8 absolut mitleidslos.

Michael Scheffler / 28.06.2017

Ach Herr Lövenich, nicht das Abitur in acht Jahren ist das Problem, sondern der Lehrinhalt. Immer weniger Mathe und Deutsch in den Grundschulen und dafür Englisch vorzeitig und Projekte etc. Nach der ersten Klasse können nur wenige Schüler richtig lesen oder in Schreibschrift schreiben. Und rechnen häufig auch nicht. Diese Dinge kumulieren in den höheren Klassenstufen.  Dazu kommt, dass die Grundschule nur bis Klasse vier geht und bereits danach eine Segregation stattfindet.  Im Vergleich schneiden Schüler von heute deutlich schlechter ab als noch vor 20 Jahren, unabhängig davon, ob Abi mit acht oder neun Jahren.

Ulrich Zagorni / 28.06.2017

An dem einem Jahr mehr oder weniger liegt es bestimmt nicht. Es müssen ganz andere Probleme sein, die es aufzudecken gilt. Nehmen wir doch Beispiele aus erfolgreicheren Schulsystemen: z.B. das der alten DDR, mal ganz unideologisch. Wir haben damals das Abitur nach 12 Jahren abgelegt, entsprechend diesem achtjährigem Abitur. Ehrlich gesagt, sind 12 Jahre lang die Schulbank drücken auch wirklich genug. Ich kann immer mich noch an die Langeweile in den letzten Monaten erinnern ...  Auch gab es nicht die Möglichkeit, bestimmte Fächer “abzuwählen”; wir mussten alles können. Dazu gab es umfangreich Sport, Musik, Chor usw.  Und keiner war überfordert, Der Unterricht begann um 8 Uhr und endete am frühen Nachmittag. Das, was wir lernten, war durchaus gut und hinreichend für den Start in die weitere Ausbildung. Ziel des Abiturs war ja in erster Linie, dass man früher oder später ein Studium anschloss.

Walter Knoch / 28.06.2017

Ich möchte etwas Wasser in den Wein der oben vorgebrachten durchaus guten Argumente gießen. Vielleicht ließe sich so manche Schwierigkeit in Wohlgefallen auflösen, wenn man das Abitur wieder zu dem machte, als das es einmal gedacht war: Das Erlangen der Studierfähigkeit, die im Abiturzeugnis bestätigt wird. Wenn man, wie derzeit üblich, nur noch ein Abitur light will, mit einem Gymnasium das 60 % aller Schüler besuchen, dann bekommt man Abiturienten en masse, mit dem klitzekleinen Nachteil, dass kaum noch die Hälfte dieser Abiturienten tatsächlich studierfähig ist. Reifeprüfung, heißt es, glaube ich. Matura sagen die Österreicher. Tempi passati.

JF Lupus / 28.06.2017

Solche katastrophalen Fehlentwicklungen sind nicht zu berichtigen, diejenigen, die zum Turbo-Abi gezwungen waren, können weder eine verlorene Jugend noch das nicht erlernte Lernen nachholen. Hinter dem ganzen Unsinn steckt allerdings Methode: man wollte sich ein Volk von unkritischen Jasagern heranziehen, die leicht beeinflussbar im Sinne des regierenden Mainstream sind. Dass das teilweise schon funktioniert hat, zeigen die Wahlentscheidungen der betreffenden Altersgruppen

Matzkowski,Bernd / 28.06.2017

Der Beitrag zählt viele gute Argumente für die Wiedereinführung von G9 ein. Aber unabhängig davon, dass ich ein Befürworter von G9 bin und mein Sohn auf ein G9 Gymnasium geht, bleibt doch jenseits der aktuellen Regierungskonstellation in NRW etwas festzuhalten: Alle Landesregierungen, unabhängig von der jeweiligen Parteien-Konstellation, beginnen nach einem Wahlsieg sofort damit, ihre schulpolitischen Obsessionen auszuleben. Und alle, da ist auch die neue Landesregierung keine Ausnahme, machen dies, noch bevor sie entsprechende Konzepte auf den Tisch legen können, die sich auf wissenschaftliche, empirische Studien und/oder auf die Auswertung von Erfahrungen der Praktiker stützen, und noch bevor eine Kostenkalkulation stattgefunden hat und die Frage der Finanzierung geklärt ist. Wie die rot-grüne Regierung holterdiepolter G8 eingeführt hat, ohne dass in ausreichendem Maße Lehrpläne gestrafft worden sind, entsprechende Bücher und anderes Material vorhanden waren, so geht die neue Landesregierung nun den umgekehrten Weg: alles zurück auf G9 – außer wenn der Schulträger und die Schule selbst bei G8 bleiben wollen! Dass ein weiteres Schuljahr mehr Personal bedeutet – geschenkt! Dass man einmal darüber nachdenken könnte, welcher Sanierungsstau in Schulen besteht, was zu einer zeitgemäßen Ausstattung gehört- geschenkt! Dass man in diesem Zusammenhang auch die Themen Integration, Inklusion, Ganztagsbetrieb, Klassenstärke und Anforderungen an das Abitur bedenken sollte- geschenkt! Und dass man in diesem Kontext in NRW auch noch gleich ein neues Fach einführen will, nämlich „Wirtschaft“, ohne erst einmal zu überprüfen, ob die bisherigen Lehrpläne im Bereich der Fächer Politik/Wirtschaft nicht ausreichen oder zumindest eine Basis für den weiteren Unterricht darstellen können – geschenkt! Aber dass sich all das letztlich auf dem Rücken der Lehrerinnen und Lehrer, besonders aber der Schüler abspielt – da kann es kein „geschenkt!“ geben! Dass hier Verunsicherung und Unruhe und – vor allem für die Kollegien – innerhalb weniger Jahre erneut Mehrarbeit in die Schulen getragen werden, anstatt mit Bedacht und auf der Basis guter Vorbereitung zu handeln, zeigt, dass die neue Landesregierung ebenso Schaumschlägerei betreibt, wie es die alte Regierung mit Ministerin Löhrmann an der Spitze des Schulministeriums auf katastrophale Art und Weise und handwerklich völlig verkorkst getan hat. Das wäre ja alles nicht so schlimm, wenn es nicht zu Lasten der Eltern und letztlich der Kinder ginge, von denen kaum mal zwei oder drei Jahrgänge in Ruhe ihre Schulzeit absolvieren können. Da hat der Allmächtige nicht wirklich gut nachgedacht, als er Moses den Dekalog diktierte. Vielleicht wäre es für die Menschheit doch besser gewesen, wenn Gott den Ehebruch raus gelassen („Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib….) und stattdessen reingenommen hätte: „ Ihr sollt die Schulen sich in Ruhe entwickeln lassen!“

Martin Hübner / 28.06.2017

Sehr geehrter Herr Lövenich, was Ihr Artikel anreißt, aber dann nicht ausführt, ist die Tatsache, dass die Ostdeutschen Bundesländer schon immer auf G8 gesetzt haben und gleichzeitig bei Bildungs-Rankings die Top-Plätze (allen voran Sachsen und Thüringen) einnehmen. Warum klagen die Ostdeutschen Länder nicht über dieselben Probleme, wie in Ihrem Artikel beschrieben? Anders gefragt: warum funktioniert das System im Osten, aber nicht im Westen? Ist G8 wirklich das Problem? Mit freundlichen Grüßen Martin Hübner

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