Karim Dabbouz / 21.04.2018 / 12:50 / 8 / Seite ausdrucken

Augsteins Opfer

Wie kommt es, dass Jakob Augstein nach der Attacke auf zwei Männer mit Kippa in Berlin nichts Besseres einfällt, als die Tatsache zu betonen, die beiden haben die Kippa nur als „Experiment“ getragen und das sei ja gestört? Wer seine Texte kennt, ahnt, dass ein ähnliches Experiment mit Kopftuch wahrscheinlich gebührende Empörung ausgelöst hätte.

Täter und Opfer sind klar definiert. Allein ist er mit dieser Ansicht nicht. Im Westen gibt es viele Menschen, die großen Eifer zeigen, wenn es darum geht, den vermeintlich Unterdrückten beizustehen und den Unterdrückern bei jeder Gelegenheit die Leviten zu lesen. Da werden dann auch mal die Opfer zu Tätern gemacht. 

Überhaupt ist die starre Wahrnehmung, wer Opfer ist und wer Täter, beim Nahostkonflikt besonders durchschlagend. Die Menschen in den palästinensischen Autonomiegebieten erhalten pro Kopf mehr Entwicklungsgelder als Menschen in den meisten anderen Ländern. Wahrscheinlich (hierzu gibt es unterschiedliche Berechnungen) erhalten Palästinenser sogar die höchste Unterstützung pro Kopf. Das heißt: Sie sollten sie erhalten. Denn ein Großteil der Gelder kommt bei den Menschen gar nicht an, sondern fließt in die verschiedenen Arme des Regimes. Opfer gibt es hier also in der Tat viele. Nur fällt vielen Westlern das Benennen der richtigen Täter auffallend schwer. Diese sind immer Goliath, aber niemals David selbst oder sein großer Bruder.

Täter-Opfer-Verhältnis aus dem Geschichtenbuch

Das Verhältnis zwischen Opfer und Täter ist in dieser Hinsicht traurig simpel: Die Privilegierten, die Reichen oder schlicht die Mehrheit, unterdrückt die Unterprivilegierten, die Armen oder die Minderheit. Und zwar immer, überall und unter allen Umständen. Wenn man geschickt ist, darf man sich gar selbst eine Minderheit ausdenken und passt damit perfekt ins Narrativ derjenigen, die im Herzen auch dann noch zu den Aufständischen gehören, obwohl sie längst selbst privilegiert sind – oder immer privilegiert waren.

Das ist das wahrlich Interessante am Beschützer-Reflex: Die größte Aufmerksamkeit erhalten die vermeintlichen Opfer von Menschen, denen es an kaum etwas mangelt. Höchstens an Reflexionsfähigkeit. Im reichen Westen setzen sich hunderte Medienmacher mit riesiger Reichweite und entsprechend großer publizistischer Macht für Palästinenser ein. Israel ist in dieser Beziehung Goliath. Der fortschrittliche, reiche, dynamische und privilegierte Staat samt seiner privilegierten Bewohner, der seine Macht zum Unterdrücken der benachteiligten Palästinenser nutzt. Das passt.

Sowieso sind Muslime in den Augen vieler Westler immer das Opfer einer Mehrheit. Und wenn die Mehrheit nicht im selben Land lebt, dann besetzt das Land der Mehrheit einfach das Land der Opfer, sodass diese wieder irgendwie zur unterdrückten Minderheit werden. So stimmt dann auch die Geschichte.

Wer Menschen ins Opferbild zwängt, entmündigt sie

Zum Himmel schreit dieses starre Täter-Opfer-Bild, wenn es in einer Beziehung tatsächliche Opfer gibt, sie aber nicht die nötige Beachtung finden, weil alle damit beschäftigt sind, das eingeübte Machtverhältnis erzählerisch aufrechtzuerhalten. Dann kommen dabei Kommentare wie der von Jakob Augstein heraus. Denn wie jedes starre System fördert die Täter-Opfer-Erzählung den Tunnelblick und lässt das tatsächlich Geschehene außen vor. Und zwar so weit, dass wirkliche Opfer übersehen werden. Nach einer Vergewaltigung kommen die Leute an und sagen: „Ja, hättest du mal besser keinen knappen Rock angezogen. Dann wäre dir das nicht passiert“. Und Jakob Augstein twittert: „Wie gestört ist unsere Wirklichkeit, dass jemand auf die Idee kommt, das Tragen der Kippa als Provokation zu nutzen – und damit auch Erfolg hat! Deprimierend. Deutschland 2018“.

Das Schlimmste an dieser Erzählung ist aber, dass die vermeintlichen Opfer am Ende keine mündigen Menschen mehr sind. Wenn ein Palästinenser oder Muslim ständig in die Opferrolle gezwängt wird, dann nimmt ihm die Erzählung das Menschsein. Wenn eine Frau immer nur Opfer ist, dann hat sie keine Macht. Nicht einmal über sich selbst. Das ist erstens eine Erzählung, die dem Menschen den Mut und das Verantwortungsgefühl nimmt, und zweitens offenbart sie folgendes: Dass die in der Regel privilegierten Fürsprecher des starren Täter-Opfer-Verhältnisses von oben auf ihre Schützlinge herabsehen.

Denn sie gehen davon aus, dass die Opfer keine eigene Meinung, keine Möglichkeiten und keinen mündigen Verstand haben und deshalb ausgerechnet sie brauchen, um sich gegen die „Verhältnisse“ aufzulehnen. Wahrscheinlich ist es aber genau andersherum. Vielleicht brauchen die Augsteins die Opfer der Verhältnisse ja viel mehr als die vermeintlichen Opfer die Augsteins.

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Leserpost

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Gisela Fimiani / 21.04.2018

Der arme Herr Augstein kann seinen Vätern das Wasser nicht reichen…....und er weiß es. Er kämpft verzweifelt um sein Selbstbild und deshalb bleibt er ein ewiger, renitenter Teenager, der wenigstens die Erwachsenen ärgert. Wo wäre Herr Augstein wohl, hieße er nicht Augstein? Wem würden seine Weisheiten Geld wert sein? Mich regt ein solches Männlein nicht auf…......er amüsiert mich…..

Wolfram Schmidt / 21.04.2018

Jakob Augstein macht seinem Ruf als Antisemit und Beschwichtiger des realen Antisemitismus wieder alle Ehre. Sehr gut haben Sie es auf den Punkt gebracht, dass die ständige Opferrolle, die man Moslems/Arabern/Türken bereithält, auch eine Art Rassismus ist. Wenn man diesen Menschen eine Würde zuspricht, dann muss man ihnen auch einen Vernunft zusprechen.  Da Augstein von ihnen nicht verlangt, Herr der eigenen Emotionen zu sein, spricht er ihnen die Vernunft ab und damit auch die Würde. Ich kenne ja auch Menschen aus dieser Ethnizität/Religion, die sich nicht stereotyp benehmen und durchaus gesellschaftlich anerkannte Berufe ausüben. Die würden so einen wie Augstein als Anwalt von sich weisen. Die wollen auch nichts mit den Kopftuchschwestern und den arabischen Jungmachos zu tun haben.  Die beklagen sich doch immer, sie würden ausgegrenzt, dabei grenzen sie sich selber aus. Ich frage mich, wie lange müssen wir Jakob Augstein noch ertragen? Kann er nicht den Becker-Hecht in den Schuldensumpf machen, damit er wenigstens seine Medienmacht verliert? Wann wirft man ihn wie Ken Jebsen aus den öffentlich-rechtlichen Anstalten? Der Mann ist Wiederholungstäter.

Werner Arning / 21.04.2018

Zusatz, der mir wichtig erscheint: Juden oder Israelis eignen sich deshalb nicht als Opfer oder „zu Schützende“, weil sie nicht dem Schema des (projizierten) hilflosen, nicht erwachsenen, Schutzsuchenden entsprechen. Sie können nicht so leicht „infantilisiert“ werden. Werden vom typischen Retter eher als gleichberechtigter Erwachsener angesehen. Deshalb eignet sich „der Jude“ nicht so sehr dafür ein „Objekt seiner Begierde“, seiner Rettungsbegierde, zu werden. Aus dem Grund haben Juden wahrscheinlich mit weniger „Empathie“ zu rechnen als etwa ein muslimischer Flüchtling. Das muslimische Flüchtling wurde „als Kleinkind adoptiert“, nicht der Jude. Dieser hat mit Mitleid nicht unbedingt zu rechnen. Er kann für sich selber sorgen. Ist stark und erwachsen. Scheinbar selbst dann noch wenn der Geschlagene ein Kind oder Jugendlicher ist. Es ist eine Frage des Opferschemas und hat mit echter (erwachsener) Empathie vermutlich wenig zu tun.

Wolfgang Kaufmann / 21.04.2018

Die deutsche Öffentlichkeit interessiert sich sowieso nicht dafür, wer nun Opfer ist und wer Täter. Hauptsache der notorische Übermensch kann sich mal wieder als Retter aufspielen, sein gutmenschliches Sprüchlein aufsagen und so seine Reputation in der Szene der Moralin-Junkies aufpolieren. Die professionelle Zurschaustellung austauschbarer Opfer erinnert mich an die Biafra-Bilder meiner Jugend; eine Ikonographie, die sich bis heute finanziell zu lohnen scheint. Jedenfalls solange sich die Inszenierung gegen Weiße Männer richtet.

Uta-Marie Assmann / 21.04.2018

So ist es : wer braucht wohl den stets dämlich daherquasselnden Antisemiten Augstein ? Rudolf Augstein würde sich im Grabe umdrehen, könnte er sehen, was aus seinem Magazin geworden ist und hören, was Augstein-Walser so von sich gibt.

Dirk Jäckel / 21.04.2018

Augsteins Absonderungen haben das Zeugnis, wichtige historische Dokumente zu werden: In einigen Jahren (hoffentlich nicht Jahrzehnten) wird sich möglicherweise eine regenerierte, intellektuell und ethisch wieder anspruchsvollere (tatsächliche) Linke fragen, wie es denn sein konnte, wie “Linke” der ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jh. so weit verwahrlosen konnte, alle möglichen Ausdrucksformen finsterster Reaktion zu entschuldigen, wenn das Etikett “Religion” oder einfach nur “Fremd” draufgepappt ist. Hoffentlich, denn - das sage ich als Liberaler - wir brauchen dringend wieder eine Linke mit Verstand!

Werner Arning / 21.04.2018

Die vermeintlichen Beschützer und Retter der Entrechteten dieser Welt negieren sehr häufig, dass es sich bei den vermeintlich Schutzbedürftigen um erwachsene Menschen handelt, die zum Teil sehr genau wissen, was sie tun und die wissen, wie man den Beschützerinstinkt ihrer Retter weckt. Indem die Retter ihre Schützlinge zu Unmündigen degradieren und sich selber ein Gefühl von Macht verschaffen, die zwar für vermeintlich gute Zwecke eingesetzt wird, jedoch vor allem dem eigenen Ego unheimlich guttut, übersehen sie möglicherweise, dass es Angst und eigene Schutzbedürftigkeit sein könnte, welche ihr Verhalten unbewusst motiviert. Sie übertragen ihre eigene (nicht materielle) Hilflosigkeit auf die Schutzsuchenden und ihre Zuwendungen für diese, sind eigentlich Zuwendungen für ihre eigenes, ängstliches, nach Hilfe (und nach Mama) schreiendes inneres Kind. Doch sollte man Erwachsene, auch wenn es Flüchtlinge sind, auch als solche betrachten und als solche behandeln und ihnen kein kindlich unschuldiges Gefühlsleben andichten. Hier handelt es sich wohl eher um eine unbewusste Übertragung eigener Gefühle von Schwäche und einem “Nicht genügen“. In dem Schützen des Schutzbedürftigen gewährt sich dann der Retter (nachträglich) den Schutz, den er selber einmal vermisst hat. Und deshalb gerät er auch so in Wut, wenn jemand sein Verhalten in Frage stellt. Denn, hätte der Kritiker Recht, dürfte er sich ja selber nicht helfen und das käme einer Verletzung gleich, die er vielleicht als Kleinkind schon einmal erlebt hat. Ein zweites Mal soll es nicht geben.

Stefan Bley / 21.04.2018

Ich weiß nur eines: Die Welt braucht keine Augsteins. Das hindert sie nur daran besser zu werden.

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