Von Roland Springer.
Zahlreiche etablierte Parteien und Medien bewerten das Erstarken des Rechtspopulismus aus wohl recht eigennützigen Interessen unentwegt als einen Rückfall in die Zeit des Faschismus und Nationalsozialismus aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Demgegenüber zeigen verschiedene sozialwissenschaftliche Analysen, dass es sich beim Rechtspopulismus nicht um die Wiederkehr längst vergangener Zeiten, sondern um ein höchst zeitgemäßes, um nicht zu sagen modernes, Phänomen handelt. Nachzulesen ist dies unter anderem in dem neuesten, in der Edition Suhrkamp unter dem Titel „Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne“ erschienenen Buch des an der Viadrina-Universität in Frankfurt an der Oder lehrenden Soziologen Andreas Reckwitz.
Reckwitz bezieht sich darin auf die USA und Westeuropa und das dortige Erstarken rechtspopulistischer Parteien, zu denen er auch die republikanische Partei seit Donald Trump zählt. Er bedient sich in seiner Analyse der von dem US-amerikanischen Physiker und Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn entwickelten Lehre vom Wandel wissenschaftlicher Paradigmen, die er auf den Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft überträgt. Sie beschreiben jeweils von der Fachwelt als allgemeingültig anerkannte Erklärungen von Sachverhalten und Lösungen von Problemen.
Während Kuhn damit zum Beispiel die Ablösung des geozentrischen Weltbilds in der Astronomie durch das heliozentrische Weltbild meinte, beschreibt Reckwitz in seinem Buch zwei politische Paradigmen, die das wirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenleben in den USA und Westeuropa seit der Weltwirtschaftskrise Ende der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts geprägt haben. Sie bieten seiner Meinung nach „jeweils eine grundsätzlich andere Antwort auf die Frage, in welcher Weise und in welchem Ausmaß die Politik die gesellschaftliche Ordnung gestalten will.“ Anders als man zunächst meinen könnte, stehen sie nicht in einem ständigen Wettstreit miteinander, sondern haben sich im Laufe der Zeit als allgemein anerkannte Ordnungsmuster abgelöst.
Vom Wirtschaftswunder zum Neoliberalismus
Als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929 entwickelte sich zunächst in den USA mit Roosevelts New Deal-Politik ein „sozial-korporatistisches Paradigma“. Bei grundsätzlicher Aufrechterhaltung marktwirtschaftlicher Prinzipien und Mechanismen setzte es auf eine starke staatliche Regulierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Dieses Modell griff spätestens mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auch auf Europa und dort auf die neue entstehende Bundesrepublik Deutschland über, wo im Zuge des sogenannten Wirtschaftswunders die freie Marktwirtschaft zusehends reguliert und der Sozialstaat schrittweise ausgebaut wurde.
So entwickelte sich allmählich eine neue Wirtschafts- und Gesellschaftsform, die Ludwig Erhardt als „Soziale Marktwirtschaft“ und Helmut Schelsky in den 1960er Jahren schließlich als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ bezeichneten. Ihr sozialer Träger war neben dem traditionellen Bürgertum in Stadt und Land ein neuer Mittelstand, der sich mittels eines forcierten wirtschaftlichen Wachstums und der damit einhergehenden Verbesserung sozialer Aufstiegsmöglichkeiten nicht zuletzt aus der qualifizierten Arbeiterschaft rekrutierte. Politischer Hauptträger dieser Entwicklung war deswegen neben den unionsgeführten Adenauer-Regierungen der 1950er und 1960er Jahre auch die oppositionelle SPD. Diese hatte spätestens mit ihrem Godesberger Programm aus dem Jahr 1959 ihr sozialistisches Ziel einer kompletten Verstaatlichung der Wirtschaft zugunsten eines kontinuierlichen Ausbaus des Wohlfahrtsstaates auf marktwirtschaftlicher Grundlage aufgegeben, den auch die Union befürwortete und mit vorantrieb.
Das sozial-korporatistische Paradigma mit dem Ehrhardt’schen Versprechen eines „Wohlstands für alle“ führte schließlich im Jahr 1969 zur Regierungsübernahme der SPD mit Hilfe der FDP. Unter den sozialliberalen Koalitionen von Willy Brandt und Helmut Schmidt setzte laut Reckwitz aber die Krise und allmähliche Erosion des sozial-korporatistischen Paradigmas ein, das der wirtschaftlichen Entwicklung immer engere Fesseln anlegte, die zusehends mit sinkenden Wachstumsraten und höherer Arbeitslosigkeit einhergingen. Als Reaktion auf diese Fesselung von Wirtschaft und Gesellschaft entstand ab den 1970er Jahren ein neues Paradigma, das Reckwitz als „apertistischen Liberalismus“ bezeichnet.
In den Vordergrund rückte nun zunehmend die Öffnung und Dynamisierung von Wirtschaft und Gesellschaft durch eine weitreichende Entfesselung ihrer freiheitlichen, individualistischen Kräfte und Potenziale. Dieser Prozess wird paradoxerweise zunächst in Gestalt einer studentischen Kulturrevolution von politisch links stehenden Kräften und Parteien angestoßen und vorangetrieben. Sie fordern und betreiben unter der Flagge der Emanzipation des Individuums von allen gesellschaftlichen Zwängen eine Beseitigung aller tradierten soziokulturellen Regeln und Konventionen zugunsten einer umfassenden De-Regulierung und Entgrenzung des alltäglichen privaten Zusammenlebens. Anders, als sie selbst meinten, ebneten sie damit laut Reckwitz soziokulturell die Wege für den allmählich um sich greifenden, mit Ronald Reagan und Margaret Thatcher in den 1980er Jahren an die Macht gelangten Neo-Liberalismus.
Wechsel der Mittelschichten
Ebenso wie die linksliberalen Kulturrevolutionäre singen auch die Verfechter des Neo-Liberalismus das hohe Lied der Emanzipation des Individuums durch De-Regulierung. Während die einen dabei vorrangig eine Liberalisierung des gesellschaftlichen Alltagslebens vor Augen haben, geht es den anderen vorrangig um die Liberalisierung des Wirtschaftslebens. Ihr gemeinsamer Nenner bildet laut Reckwitz der Wunsch nach einer Entgrenzung aller wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräfte bis hin zur Schaffung einer nach außen wie nach innen möglichst grenzenlosen Weltgesellschaft jenseits der heutigen Nationalökonomien und Nationalstaaten.
Der soziale Hauptträger dieses Paradigmas ist laut Reckwitz eine im Zuge des Ausbaus des Sozialstaats, der sich ausbreitenden Wissensökonomie und der Globalisierung entstandene neue Mittelschicht. Sie rekrutiert sich überwiegend aus akademisch qualifizierten sozialen Aufsteigern. Diese leben mehrheitlich in den urbanen Zentren, wo sie im wachsenden Sektor qualifizierter und gut bezahlter industrienaher oder öffentlicher Dienstleistungen arbeiten.
Ihnen gegenüber steht zum einen die mit dem sozial-korporatistischen Paradigma eng verbundene alte Mittelschicht, deren Mitglieder von der voranschreitenden Globalisierung wirtschaftlich wie kulturell nicht profitieren, sondern von ihr eher bedroht sind. Sie ist nicht nur zahlenmäßig im Schwinden begriffen, sondern verliert insbesondere in den urbanen Zentren auch zusehends ihre einstmals dominante wirtschaftliche und politische Position an die dort wachsende und Einfluss gewinnende neue Mittelschicht.
Zeitgleich zum Aufstieg einer neuen und dem Abstieg der alten Mittelschicht hat sich im Zuge von Globalisierung und Neo-Liberalisierung aber auch eine wachsende neue Unterschicht herausgebildet. Sie steht mit ihren schlecht bezahlten, häufig prekären Jobs im ebenfalls wachsenden Sektor einfacher privater und öffentlicher Dienstleistungen gewissermaßen am anderen Pol einer neuen Klassengesellschaft. Deren herrschende Klasse setzt sich aus der wachsenden neuen Mittelschicht und der zahlenmäßig äußerst kleinen Schicht der Superreichen zusammen.
Unterhöhlung nationalstaatlich verfasster Demokratien
Parteipolitisch stehen vor allem die Grünen für diese neue Klassenherrschaft und deren Ideologie der Weltoffenheit. Flankiert werden sie dabei von weiten Teilen der SPD und der Linken, dann aber auch der Union. Diese hat im Laufe der Jahre zunehmend nicht nur neo-liberale, sondern auch links-liberale Positionen in ihre praktische Politik übernommen. Lange Zeit schien vor diesem Hintergrund die politische wie ideologische Vorherrschaft des apertistischen Liberalismus gerade in Deutschland unangefochten zu sein. Inzwischen sehen sich aber alle mit ihm verbundenen politischen Kräfte auch hier in Gestalt der AfD mit einem erstarkten Rechtspopulismus konfrontiert. Hinter ihm versammeln sich zunehmend die Verlierer dieses Paradigmas aus der alten Mittelschicht und der neuen Unterschicht.
Laut Reckwitz ist dies ein untrügliches Zeichen der sich verschärfenden Krise und Erosion dieses Paradigmas, dessen problematische Folgewirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft immer spürbarer und sichtbarer werden. Der Zusammenhalt der Gesellschaft wird nicht nur durch deren soziale Polarisierung, sondern auch durch die Auflösung aller tradierten kulturellen Werte und Normen immer brüchiger. Hinzu kommt eine allmähliche Unterhöhlung und Erosion der nationalstaatlich verfassten Demokratie durch den wachsenden Einfluss transnationaler Organisationen und Institutionen.
Gegen diese höchst problematischen Folgen des apertistischen Liberalismus formiert sich seit einigen Jahren in den USA und Westeuropa laut Reckwitz notgedrungen eine neuerliche gesellschaftliche Revolte. Anders als in den 1970er Jahren wird sie dieses Mal allerdings in den meisten Ländern von Kräften getragen und vorangetrieben, die sich gemäß der tradierten politischen Richtungslehre der bürgerlichen Gesellschaft nicht dem linken, sondern dem rechten Lager zuordnen. Den Rechtspopulismus wertet Reckwitz deswegen als ein zwangsläufiges Symptom der tiefen Krise, in der sich der apertistische Liberalismus inzwischen wirtschaftlich, kulturell wie auch verfassungsmäßig befindet. Ein eigenes Vermögen zur Überwindung dieser Krise und zur Schaffung eines neuen, als allgemeinverbindlich akzeptierten Paradigmas spricht er ihm hingegen ab.
Dafür sei er sowohl wirtschaftlich wie auch kulturell zu globalisierungskritisch ausgerichtet. Er wende sich so gegen eine Entwicklung, die allenfalls abzubremsen, aber nicht mehr aufzuhalten sei. Hinzu komme, dass er auf einem elementaren Antagonismus aufbaue, „der nach innen hin Homogenität verlangt und nach außen hin große Teile der spätmodernen Gesellschaft zu Dauerfeinden erklärt.“ Dies gelte insbesondere für die Mitglieder und politischen Interessenvertreter der neuen Mittelschicht. Sie seien aufgrund ihrer wachsenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedeutung unverzichtbarer Teil eines neuen, schichtübergreifend akzeptierten, in die Zukunft gerichteten Paradigmas. Der Rechtspopulismus formuliere stattdessen „eine nostalgische Politik, die einen vergangenen Zustand – den souveränen Nationalstaat, die regulierte Industriegesellschaft, die kulturelle Homogenität – zurückersehnt.“
Nationalstaat statt grenzenlose Weltgesellschaft
Dem stellt Reckwitz nun selbst das Modell eines neuen Paradigmas entgegen, das er in Anlehnung an den englischen Ökonomen Paul Collier „einbettenden Liberalismus“ nennt. Er beinhaltet notgedrungen eine Rückkehr zur stärkeren Regulierung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse, ohne deswegen jedoch in den alten Sozial-Korporatismus zurückzufallen. Bei diesem neuen Paradigma handelt es sich freilich nicht um ein Erklärungsmodell für vergangene und gegenwärtige wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Entwicklungen, sondern um ein reines Willens-Konstrukt, um nicht zu sagen Wunschbild für die nahe Zukunft, für dessen Realisierungschancen Reckwitz so gut wie keine empirischen Belege anführt. Seine Analyse mündet insofern am Ende in einen politischen Voluntarismus, der insbesondere für einen Wissenschaftler recht problematisch ist.
Dessen ungeachtet, bietet sie aber interessante Anregungen nicht nur für die Diskussion um die Entstehung und das Erstarken des Rechtspopulismus, sondern auch um dessen Zukunft. Wenn es stimmt, dass der Rechtspopulismus die Folge eines in die Krise geratenen apertistischen Liberalismus und eine Revolte gegen eine mit ihm entstandene, neue Klassenherrschaft ist, könnte er nur wieder zum Verschwinden gebracht werden, wenn dieser Liberalismus die von ihm erzeugten Probleme aus eigener Kraft lösen könnte und so aus seiner Krise wieder herausfände. Das ist aber nicht nur aufgrund der zunehmenden wirtschaftlichen Folgen und Probleme des Neo-Liberalismus, sondern auch der zunehmenden gesellschaftlichen Folgen und Probleme des Linksliberalismus alles andere als sicher.
Vorstellbar ist daher auch, dass die Krise des apertistischen Liberalismus sich wirtschaftlich wie gesellschaftlich weiter verschärft und der Protektionismus unter der Führung rechtspopulistischer Parteien den Liberalismus als Leitmotiv eines neuen Paradigmas ablöst. Nicht nur Entwicklungen in den USA und Osteuropa weisen seit einiger Zeit in eine solche Richtung, sondern aufgrund der Corona-Krise auch jüngste Entwicklungen in Westeuropa. Covid-19 hat das Motiv des Schutzes (Protektion) der einheimischen Bevölkerung vor einer Gefahr von außen wider Erwarten an die erste Stelle der politischen Agenda gesetzt und so das Dogma der grenzenlosen Weltoffenheit wohl auf längere Zeit bis ins Mark getroffen. Welt-Online informierte in diesem Zusammenhang am 7. April unter dem Titel „Das Ende der Globalisierung, wie wir sie kennen“ über umfangreiche Aktivitäten zahlreicher Unternehmen auf der ganzen Welt, ihre Lieferketten zu de-globalisieren. Das ist vermutlich nur der Beginn einer Rückbesinnung auf den Nationalstaat und seine Grenzen, der den Bürgern mehr Schutz bietet als eine grenzenlose Weltgesellschaft.
Dies hat in Deutschland angesichts einer stetig sinkenden Zustimmung bei den Bürgern insbesondere die Union, allen voran Markus Söder, noch rechtzeitig erkannt und mit entsprechenden Schutzmaßnahmen an den Außengrenzen wie im Inneren des Landes reagiert. Die Bürger danken ihr dies, laut aktuellen Umfragen, mit einem deutlichen Stimmenzuwachs, der sie wieder deutlich über die 30-Prozent-Marke bringt. Erstmals seit der Grenzöffnung des Jahres 2015 haben viele (ehemalige) Unionswähler den Eindruck, dass dem Schutz ihrer Interessen endlich wieder die Bedeutung zugemessen wird, die sie von der Politik erwarten.
Ob damit schon eine nachhaltige protektionistische Wende der Union nicht nur auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik auf den Weg gebracht ist, muss sich erst noch zeigen. Bei der AfD hat diese unerwartete Entwicklung jedenfalls schon einen heftigen Streit darüber ausgelöst, wie sie es in Zukunft mit dem Liberalismus und dem Protektionismus halten will, um einer wieder erstarkten Union Paroli bieten zu können. Der parteiübergreifende Prozess der Herausbildung eines neuen Paradigmas, auf dessen Grundlage in den nächsten Jahren die politischen Auseinandersetzungen in Deutschland ausgetragen werden, ist offensichtlich schon voll im Gange.
Andreas Reckwitz: „Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne“; Berlin 2019, Edition Suhrkamp, hier bestellbar.
Prof. Dr. Roland Springer studierte in Deutschland und Frankreich Soziologie und promovierte im Bereich Arbeit und Organisation. Nach mehrjähriger Forschungstätigkeit an den Universitäten Darmstadt und Göttingen arbeitete er viele Jahre als Führungskraft in der Daimler AG. Er leitet eine eigene Beratungsfirma, ist Autor mehrerer Bücher und lehrte bis zu seiner Pensionierung als außerplanmäßiger Professor an der Universität Tübingen.