Henryk M. Broder / 21.06.2021 / 16:00 / Foto: Pixabay / 32 / Seite ausdrucken

Der Aufstand der Riesenzwerge

Was ist nur aus der einzigartigen deutsch-jüdischen Symbiose geworden, die so viele Dichter und Denker, Erfinder und Philosophen hervorgebracht hat? Ein Jammertal der Geschichte, bevölkert von Makrozwergen mit adipösen Egos, alimentiert von Parteien, Stiftungen, NGOs und Instituten, die ihrerseits am Tropf staatlicher Einrichtungen hängen, allzeit bereit, sich mit irgendetwas oder irgendjemand zu solidarisieren, der Arbeiterklasse als solcher, der Revolution in Nicaragua, den Palästinensern in Gaza, den Opfern rassistischer Gewalt in den USA, dem Regenwald in Brasilien und – Carolin Emcke.

Die Publizistin und Philosophin, so las man es im Online-Blog des „Merkur" ("Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken") sei auf die denkbar übelste Art geschmäht worden. Die Zeitungen BILD und WELT hätten sie des Antisemitismus beschuldigt. Sie soll, so der Vorwurf, in einer Gastrede, die sie beim Grünen-Parteitag gehalten hatte, angeblich Holocaust-Opfer mit Klimawissenschaftler:innen und Virolog:innen verglichen und damit das Leid von Jüdinnen*Juden bagatellisiet haben.

Diese von BILD und WELT erhobenen Vorwürfe, stellt die Vereinigte Verteidigungs-Front von Carolin Emcke fest, seien haltlos und unangebrascht, das Gegenteil sei der Fall. Die Publizistin habe in ihrer Rede vielmehr darauf hingewiesen, dass bestimmte Gruppen empirisch immer wieder verunglimpft werden: „radikale Wissenschaftsfeindlichkeit, die zynische Ausbeutung sozialer Unsicherheit, die populistische Mobilisierung und die Bereitschaft zu Ressentiment und Gewalt“ führten, so Emcke dazu, dass Gruppen wie z.B. „Feministinnen“, „Juden“, „Kosmopoliten“, „Virolog:innen“ angegriffen und zu Sündenböcken gemacht werden.

Juden, Kosmopoliten und Klimaforscher

Statt verschwurbelte Sätze weiter zu schwurbeln, hätten die Freunde von Carolin Emcke sie einfach wörtlich zitieren können, mit dem einen Satz, auf den es ankommt und den sie bewusst unter den Tisch fallen ließen. Nämlich:

Es wird sicher wieder von Elite gesprochen werden. Und vermutlich werden es dann nicht die Juden und Kosmopoliten, nicht die Feministinnen und die Virologinnen sein, vor denen gewarnt wird, sondern die Klimaforscherinnen.

Diesen Satz kann man gar nicht mißverstehen, nicht einmal, wenn man sein Leben lang deutsche Philosophen studiert hat, Kant und Hegel, Habermas und Fichte, Richard David Precht und Eckart von Hirschhausen. Da steht, und der Kontext macht es noch klarer, dass die Klimaforscherinnen (wobei die Klimaforscher, wie man heute so sagt, "mitgedacht" werden) an die Stelle der Juden und Kosmopoliten treten werden.

Dieser Satz ist strunzdumm. Er kann wohl nur mit dem toxischen Klima einer grünen Versammlung erklärt werden, bei der es darauf ankommt, einander mit Horror-Visionen zu übertreffen. Auch einem klugen Kopf kann mal was Dummes entschlüpfen. Bauern, Arbeitsllosen, Frauen und Hühnern wurde bereits die Ehre zuteil, zu "Juden von heute" ernannt zu werden, jetzt sind Klimaforscherinnen dran. Die ersten packen schon ihre Rimowa-Koffer und machen sich auf den Weg zum Bahnhof Grunewald, um einen Fensterplatz in einem der Züge zu erwischen, die demnächst in Richtung Osten abfahren sollen. 

Enteignet Springer!

Carolin Emcke ihrerseits ist alles Mögliche, nur keine Antisemitin. Das haben auch weder BILD noch WELT behauptet. Es war die Assoziation, die in den Köpfen ihrer Freunde aufblitzte und einen Pawlowschen Reflex auslöste. Carolin Emcke war, bevor sie sich in die lange Schlange der Philosophen und Philosophinnen einreihte, die vor den Verlagsgebäuden der ZEIT und der SZ auf einen Platz in der Hall of Fame warten, eine sehr gute Reporterin, die aus Kriegs- und Krisengebieten berichtete, die Claas Relotius nie betreten würde. 

Emckes Freunde, die sich nun so tapfer hinter sie stellen, haben eine eigene, ziemlich angeranzte Agenda. Sie nehmen den Kampf gegen den Spinger Verlag wieder auf. Nach 50 Jahren! Diesmal muss es mit der Enteignung endlich klappen. Noch vor der Einführung des bundesweiten Mieteneckels. Die Springer-Presse, so steht es in dem Aufruf, diffamiere nicht nur eine der wichtigsten Stimmen dieses Landes, die nachweislich – man lese jeden einzelnen Text und höre jede Rede der Publizistin – unermüdlich gegen Antisemitismus, Rassismus, sexualisierte Gewalt oder Homophobie, gegen überhaupt alle Spielarten demokratiefeindlicher Menschenfeindlichkeit anschreibt, spricht und kämpft, ohne deren nachweislich unemüdlichen Einsatz Deutschland längst im Sumpf des Faschismus versunken wäre.

Springer und Konsorten dagegen wollen die Deutungshoheit über den Antisemitismus an sich reißen. Damit werde der Antisemitismus-Begriff instrumentalisiert, missbraucht, also entwertet, Dies zeige einmal mehr, wie hohl die beständig wiederholte Behauptung ist, dass sich die Medien des Springer-Konzerns konsequent gegen Antisemitismus einsetzen würden. Das Gegenteil ist der Fall. Tatsächlich nämlich dient das vermeintliche Eintreten gegen Antisemitismus als Alibi für ressentiment-schürende, teilweise regelrecht hetzende Berichterstattung gegen Muslim:innen, Geflüchtete – oder, wie in diesem Fall, gegen Menschen, die politisch nicht rechts stehen.

Kanonenfutter im Kulturkampf

Das ist echt der Gipfel der Infamie. Die Springer-Leute tun nur so, als würden sie die Juden mögen, um gegen Muslime, Geflüchtete und Menschen, die politisch nicht rechts stehen, hetzen zu können. In diesem Kulturkampf sind Juden nur das Kanonenfutter.

Spätestens an dieser Stelle wird es Zeit, etwas Wichtiges festzuhalten. Zum einen: Das Gerede von der "besonderen jüdischen Intelligenz" ist nur ein weiteres "Gerücht über die Juden" (Adorno). Zum anderen. Etliche der Unterzeichner des Appells zur Ehrenrettung von Carolin Emcke sind Kostümjuden, Freizeitjuden, Hobbyjuden, Gelegenheitsjuden, Jews on Demand. Einige finden die Erfüllung ihrer jüdischen Identität im jüdischen Selbsthass. Aber auch das ist keine exklusiv jüdische Spezialität. 

Mit Carolin Emcke hat das wenig bis gar nichts zu tun. Sie hätte bessere Freunde verdient. Gut wäre es, wenn sie sich von diesen Freunden distanzieren würde. Klarheit vor Einheit!

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Gerhard Schmidt / 21.06.2021

“Zeig mir deinen Juden, und ich sag dir, wer du bist!” Man/frau(divers geht ja nicht mehr ohne…

Max Weber / 21.06.2021

Schade dass so viele Buchstaben in der Erregung abhanden gekommen sind…

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