Es ist ein Antidepressivum für die Woche, weil eine wesentliche Attraktion nur von Montag bis Freitag geöffnet hat – das Bestattungsmuseum auf dem Wiener Zentralfriedhof. Sonnabend und Sonntag sind Ruhetage.
Doch nähern wir uns zunächst von außen an. Ist die österreichische Hauptstadt eigentlich immer einen Kulturausflug wert und lässt sich das Vergnügen schon immens steigern, indem man alle mit „Sissi-irgendwas“ beschrifteten Sehens- und Souvenierwürdigkeiten meidet, so bildet der Besuch des etwas abseits liegenden Zentralfriedhofs (wahlweiser Straßenbahnausstieg an den Haltestellen Zentralfriedhof Tor 1, 2 oder 3) einen besonderen Höhepunkt. Böse Zungen sollen behaupten, der Wiener Zentralfriedhof sei nur halb so groß wie Zürich, aber mindestens doppelt so lustig. Dem Schweiz-Hass (jaja, heute ist alles Hass) wollen wir hier nicht das Wort reden. Multikulturell ausgerichtet machen wir darauf aufmerksam, dass die Vergleichsstadt variabel ist, man sich aber in jedem Falle auf karrierehalsbrüchiges Hetzglatteis begibt.
Zurück zum Zentralfriedhof. Die Größe ist tatsächlich immens, es handelt sich eigentlich um eine Stadt. 300.000 Behausungen, jedes Jahr zählt man 4.000 Zuzüge. Die Einwohner – hier können wir an eben Gesagtes anknüpfen – sind multikulturell resp. -religiös bis zum Gehtnichtmehr. Bei weitem nicht nur katholisch oder, in Wien schon arg ausgefallen, protestantisch. Nein! Jüdisch, islamisch, moslemisch-ägyptisch, buddhistisch, griechisch-orthodox, bulgarisch-orthodox, armenisch-apostolisch undundund. Jeder hat sein Viertel. Und man lebt ruhig, still und einträchtig miteinander. Die haben den Deutschen etwas voraus, die Wiener. Die schaffen das.
Der Hauptmünzamts-Vice-Director und die Oberstleutnantsgattin
Auch für den Effektiv-Touristen ist der Zentralfriedhof praktisch. Die Leichen sind hier vollständig, nicht so wie die toten Habsburger. Die im 1. Wiener Bezirk liegenden Herrschaften dieser Familie verlangen dem Besucher so einiges an Weg ab. Will man einer ganzen Majestät die Ehre erweisen, so muss man zwecks Überreste-Huldigung (zu besichtigen sind lediglich die Gefäße) in die Kapuzinergruft (Körper), die Loretokapelle der Augustinerkirche (Herz) und den Stephansdom (Eingeweide). Dann doch lieber die – uns Heutigen nicht mehr ganz so befremdliche – Gesamtlösung für die mitunter auch hohen, aber eben nicht höchsten Damen und Herren am Stadtrand.
Die Grabinschriften des Wiener Zentralfriedhofs haben durchaus zuweilen literarischen Rang, allein die Titel. Wer bitte wird denn nicht neidisch, wenn in Stein gemeißelt für die zumindest mittelbare Ewigkeit ein Namensvor bzw. -zusatz zu finden ist wie „k.k. Hauptmünzamts-Vice-Director“, „Oberstleutnantsgattin“, „Besitzer des goldenen Verdienst Kreuzes mit der Krone etc.“ oder einfach nur das unübertreffliche Adelsprädikat „Edler“?
Das an den entsprechenden Kompost-Orten angebrachte Schild „BIO-ABFALL“ ist stets ergänzt durch den klarstellenden Zusatz „Kränze, Buketts, Blumen, Gras, …“. Ein böser Schelm, wer hier aufmerkt.
„Arbeiter*innen, Diener*innen, Kutscher*innen"
Nun zum bereits eingangs erwähnten Bestattungsmuseum. Gelegen ist es unweit des Haupteingangs, im „Untergeschoß der Aufbahrungshalle 2“. Zunächst lässt sich, wie der bedrohliche Name „Museum“ vermuten lässt, vielerlei über die Geschichte des Wiener Bestattungswesens lernen. Aber es geht weit darüber hinaus. Anregungen, wohin man schaut: Sarg in Turboform. Urne zum Selberbemalen. Spätestens im „Museumsshop“ feiert die eigentlich schon verstorbene (man kommt nicht vom Thema los) „Do-it-yourself-Bewegung“ ihre Renaissance: Ein „Bastelfriedhof“ ist zu erwerben, für 25 Euro. Etwas stolzere Preise sind zu zahlen für die „Historische Lego-Leichentram“ (deren Vorbild von 1918 an die Krankenhäuser der Stadt abfuhr, um anschließend die gesammelte Ladung auf den Zentralfriedhof zu verbringen) oder den Leichenwagen „zum selbst zusammenbauen“ (werbender O-Ton: „Für den kleinen und großen Bestatter von morgen, als originelle Geschenkidee oder einfach als Sammlerstück“).
Durch das Gesehene gut gestimmt und dennoch trotzig, kann man dann ein ebenfalls hier zu erwerbendes T-Shirt („Der letzte Wagen ist immer ein Kombi“) anlegen, um den Wien-Tag bei einer Vorstellung des Burgtheaters zu beschließen. Trotz und T-Shirt im Theater? Dazu noch in jenem, welches im deutschsprachigen Raum sowie europa- und weltweit mit Superlativvorsätzen überhäuft wird („größt…“, „bedeutendst…“)? Ja! Um das Programmheft zu verdauen (nicht zu laut – obwohl einem durchaus danach zumute wäre): „Arbeiter*innen, Diener*innen, Kutscher*innen, Soldat*innen“ sind in der Besetzungsliste ausgewiesen. Noch einmal: In der Besetzungsliste des Wiener Burgtheaters! Mag sein, dass es sich um eine tief versteckte Sonderform von Subtilironie handelt, die sich dem gelegentlichen Wien-Besucher nicht sofort erschließt. Aufheiterung und die Zuversicht, dass manche Dinge auch (wieder) an ihr Ende kommen, sollte man aber eben vorsichtshalber doch auf dem Zentralfriedhof suchen.
Erik Lommatzsch ist Historiker und lebt in Leipzig.