Heute morgen haben wir unter dem Titel "Despotische Gesetze ignorieren!" ein Video-Interview veröffentlicht, das die Kollegen erfolgreichen englischen Seite "Unherd" mit Lord Sumption geführt haben. In dem gegenwärtigen Augenblick, in dem wegen einer angeblichen medizinischen Notlage die bürgerlichen Grundrechte sowohl in Deutschland als auch in vielen Ländern bedroht, infrage gestellt und außer Kraft gesetzt werden, ist es auch für unser Land von großer Bedeutung. Lord Sumption gilt als einer der wichtigsten Intellektuellen Großbritanniens und war Richter am Obersten Gerichtshof. Er sagt zu Gesetzen, wie sie aktuell auch in Deutschland durchgepeitscht werden sollen: „Manchmal ist es das Öffentlichkeitswirksamste, was man bei despotischen Gesetzen wie diesen tun kann, sie zu ignorieren. Ich denke, ziviler Ungehorsam wird die Folge sein."
Neben dem Video publizieren wir hier auf vielfachen Wunsch unserer Leser hier nun das leicht gekürzte deutsche Transkript des Interviews:
Jonathan Sumption
Manchmal ist das öffentlichkeitswirksamste, was man bei despotischen Gesetzen wie diesen tun kann, sie zu ignorieren. Ich denke, wenn die Regierung lange genug darauf beharrt, die Menschen einzusperren, wird je nach Schwere des Lockdowns wahrscheinlich ziviler Ungehorsam die Folge sein.
Freddie Sayers
Hallo und willkommen bei Lockdown TV von UnHerd. Ich bin hier mit Lord Sumption, einem der ranghöchsten Richter hier in Großbritannien, der kürzlich vom Obersten Gerichtshof in den Ruhestand gegangen ist, einer der entschiedensten Gegner der Lockdown-Politik. Willkommen Lord Sumption.
Jonathan Sumption
Ich freue mich, hier zu sein.
Freddie Sayers
Beginnen wir mit der wichtigsten Grundfrage: Was an diesen Anordnungen, zu Hause zu bleiben, fanden Sie so inakzeptabel, dass Sie es öffentlich aussprachen?
Jonathan Sumption
Ich betrachte mich selbst als einen Liberalen mit einem kleinen L. Bis zum Ausbruch von Covid war das eine sehr gemäßigte Position. Seither ist sie umstritten, für manche Leute sogar extrem. Das zeigt, wie weit sich unsere nationale Psyche bewegt hat. Die Freiheit ist zwar kein absoluter Wert, aber unter gewissen Umständen ist es notwendig, sie aufzuheben. Nur sollte dies für extreme Fälle reserviert sein. Und ich betrachte COVID-19 nicht als einen Extremfall. Ja, die Pandemie ist ernst. Ja, sie verursacht zusätzliche Todesfälle. Aber ich sehe eine Krankheit, von der mindestens 99 % der Menschen genesen, nicht als ernst genug dafür an. Ich kann diese Krise nicht als ausreichend betrachten, um Menschen in ihren Häusern einzusperren. Zur Frage der Verhältnismäßigkeit: Sir David Spiegelhalter, die weltweit anerkannte Autorität für die statistische Bewertung von Risiken, rechnete in den ersten 16 Wochen der Pandemie in Großbritannien vor: Das zusätzliche Risiko, an COVID-19 zu sterben, entspricht einem zusätzlichen normalen Risiko von 55 Tagen, an denen man an irgendetwas sterben kann. Das gilt für die gesamte Bevölkerung. Wenn Sie ein Kind waren, entsprach dies zwei zusätzlichen Tagen des normalen Risikos. In welchem Alter sterben die Menschen mit COVID-19 durchschnittlich? Mit ungefähr 82,5. Wie hoch ist das Durchschnittsalter, in dem Menschen an irgendetwas sterben? Es ist sehr geringfügig niedriger. Wir haben es also nicht mit einem Risiko zu tun, das um eine Größenordnung größer ist als das alltägliche. Das Risiko von pandemischen Krankheiten ist Teil der menschlichen Existenz, seit Anbeginn der Zeit.
Freddie Sayers
Zwei mögliche Einwände. Der erste ist, dass sich das Risiko vergrößern würde, wenn man es zuließe, dass es sich ungehemmt von Regierungsinterventionen irgendwie austobt. Das ist die Theorie. Und verschiedene Modelle zeigen, dass, wenn man es unkontrolliert zulässt, irgendwann die Krankenhäuser bedroht wären, die medizinische Versorgung insgesamt reduziert, das Risiko plötzlich viel ernsthafter. Was sagen Sie dazu?
Jonathan Sumption
Nun, einige der zitierten Statistiken sind in der Tat gleichermaßen relevant, ob es einen Lockdown gibt oder nicht. Die 16 Wochen von Sir David Spiegelhalter umfassten einen Zeitraum, in dem der Lockdown aufgehoben worden war, ebenso wie den anfänglichen, in dem er in Kraft war. Grundsätzlich muss man entscheiden - und das ist im Wesentlichen ein Werturteil - welches Maß an Risiko man bereit ist zu akzeptieren. Manche Leute sagen, dass keine Risiken akzeptiert werden sollten, dass keine zusätzlichen Todesfälle durch eine Krankheit wie COVID-19 zugelassen werden sollten. Das einzige Kriterium ist dann also, gibt es irgendeine Maßnahme, die wir ergreifen können, um diese Risiken zu vermeiden oder zu reduzieren? Das Problem dabei ist, dass es all den anderen Aspekten, in denen die Gegenmaßnahmen unser nationales Leben untergraben, keinen Wert beimisst. Nicht der wirtschaftlichen Zerstörung. Nicht dem sehr schweren Bildungsschaden. Nicht der Tatsache, dass die Interaktion mit anderen Menschen nicht nur ein optionales Extra ist, sondern ein grundlegendes menschliches Bedürfnis. Man muss akzeptieren, dass das Leben mehr ist als die Vermeidung des Todes. Man kann dies nicht auf eine mathematische Aussage reduzieren. Es ist ein Werturteil. Aber ich denke, das falsche. Es ist interessant, dass niemand jemals die Möglichkeit einer Abriegelung von gesunden Menschen in Betracht gezogen hat, im Gegensatz zu Menschen, die infiziert oder krank sind. Dafür planen die Regierungen schon sehr lange. Das Nationale Risikoregister hält für den Fall, dass ein neuer Erreger eine Pandemie von Atemwegserkrankungen auslöst, bis zu 750.000 Todesfälle für möglich. Das ist aber viel mehr als das, was wir gehabt hätten, egal ob mit Lockdown oder ohne. Laut Planung ist das große Ziel der Politik, dass das Leben so normal wie möglich sein sollte, dass man die Kranken und Schwachen isolieren sollte, nicht die Gesunden, und dass man Zwang vermeiden sollte. Letzteres halte ich für besonders wichtig. Aber bevor der Lockdown in Großbritannien angeordnet wurde, findet man in den SAGE-Protokollen Ratschläge, die genau in diese Richtung gehen. Dass Italien dem chinesischen Beispiel gefolgt ist und Ende Februar letzten Jahres eine nationale Abriegelung angeordnet hat, hat die Position verändert. Letztlich geht das alles auf China zurück. Das ist ein ernsthaftes Problem. China konnte das tun, weil es keine Kultur der Freiheit hat. Es ist ein totalitärer Staat, in dem die Menschen einfach Werkzeuge der kollektiven nationalen Politik sind. Das ist etwas völlig anderes als unsere Tradition. Die meisten objektiven Menschen würden sagen: Nun, das ist eine sehr ernste Pandemie. Wir müssen vorübergehend von unseren normalen Prinzipien abweichen. Und das ist in Ordnung, denn wir können wieder dazu zurückkehren, weniger wie China und mehr wie das Vereinigte Königreich zu sein, wenn alles vorbei ist. Aber das ist eine Illusion. Denn unser Status als freie Gesellschaft hängt eigentlich nicht von unseren Gesetzen oder unserer Verfassung ab, sondern von einem kollektiven Instinkt, wie man sich richtig zu verhalten hat. Es gibt viele Dinge, die Regierungen tun können, aber nicht tun sollten. Und eines davon war bis letzten März, gesunde Menschen in ihren Häusern einzusperren.
Freddie Sayers
Glauben Sie also, dass wir einen unumkehrbaren Schritt in Richtung mehr China, mehr Dirigismus gemacht haben?
Jonathan Sumption
Ich fürchte: ja. Wenn man sich für seine Grundfreiheiten eher auf Konventionen als auf Gesetze verlässt, dann ist der Bann gebrochen, sobald die Konvention gebrochen ist. Wenn es nicht mehr undenkbar ist, Menschen landesweit einzusperren, dann gibt es, ehrlich gesagt, überhaupt keine Barriere mehr. Wir haben diese Schwelle überschritten. Und Regierungen vergessen diese Dinge nicht.
Freddie Sayers
Sie machen sich also Sorgen, dass jetzt der Präzedenzfall geschaffen ist, wenn es zum Beispiel eine weitere Pandemie gibt oder eine neue Variante, dass wir dann die Gesellschaft abschalten?
Jonathan Sumption
Ja. Nicht nur bei einem neuen Erreger, der zusätzliche Todesfälle verursacht. Sondern dieses Modell droht sich durchzusetzen als ein Weg, mit allen Arten von kollektiven Problemen umzugehen. Nach den bestehenden Statuten hat die Regierung die Macht, so ziemlich alles zu tun. Der Civil Contingencies Act besagt, dass sie alles tun kann, sofern das Parlament innerhalb von sieben Tagen zustimmt. Diese Zustimmung ist keine ganz ausgemachte Sache, aber fast. Die Regierung hat also immense Befugnisse. Das Einzige, was uns vor einem despotischen Gebrauch dieser Befugnisse schützt, ist eine Konvention, und die verwerfen wir gerade. Dabei ist es viel schwieriger, Konventionen zu schaffen als sie zu brechen. Diese Dinge entstehen aus jahrzehntelangen Denkgewohnheiten. Aber sie sind zerbrechlich. Sie sind kulturelle Konstrukte, die fast über Nacht verschwinden können.
Freddie Sayers
Ihr Einwand ist also eigentlich kein rein rechtlicher. Ich vermute, Ihre Äußerungen zu diesem Thema sind genau deshalb so umstritten. Sie sagten ja auch, dass Sie diese Politik vielleicht unterstützt hätten, wenn Sie das Risiko anders beurteilt hätten. Es geht also um Wissenschaft, aber auch um Politik und um das Abwägen von Risiken gegen die Freiheit und so weiter.
Jonathan Sumption
Ja, genau. Freiheit ist kein absoluter Wert, der alles übertrumpft, aber man kann nicht einfach sagen: ich bin bereit, meine Freiheiten und alles, was fundamental ist und das Leben lebenswert macht, in die Hände von Wissenschaftlern zu geben. Man muss sich eine Meinung bilden.
Freddie Sayers
Die Millionen-Dollar-Frage ist also, warum haben Sie diese Ansicht gebildet und so wenige andere? Wo sind Ihre Kollegen, ehemalige Richter des Obersten Gerichtshofs, hochrangige Anwälte oder Politiker? Wo sind die kritischen Stimmen des Establishments?
Jonathan Sumption
Hohe Richter schweigen zu diesem Thema, bis sie mit einer rechtlichen Herausforderung zu tun haben. Und meine Punkte sind im Wesentlichen nicht rechtlich, sondern politisch und verfassungsrechtlich. Das große Unterscheidungsmerkmal ist das Imperium der Angst. Der Punkt ist: Wenn die Menschen ausreichend verängstigt sind, bringt ihr Verlangen nach Sicherheit sie dazu, sich fast allem zu unterwerfen. Ich nenne das die Hobbessche Übereinkunft. Hobbes glaubte an den absoluten Staat. Es gäbe nichts, wozu der Staat nicht berechtigt sein sollte. Er war also kein Anhänger der Freiheit. Er glaubte, dass wir unsere Freiheiten bedingungslos und dauerhaft in die Hände des Staates abgeben, im Gegenzug für Sicherheit. Dieses Modell wird seit dem Aufkommen des modernen Liberalismus im 19. Jh. fast universell abgelehnt. Aber wir neigen in der aktuellen Krise zum Rückgriff darauf. Eine sehr auffällige und unheilvolle Entwicklung. Ängstliche Menschen werden sich unterwerfen. Und die Regierung hat diese Ängste geschürt. Sie mag nicht vollständig für die Ängste verantwortlich sein, aber teilweise schon.
Freddie Sayers
Wurden andere Stimmen, die Einwände oder Unsicherheiten gegenüber der Politik hatten, daran gehindert, sie zu äußern? Aus Angst vor den Konsequenzen?
Jonathan Sumption
Es gibt zweifellos eine öffentliche Meinung, die diese aufdringlichen und illiberalen Maßnahmen eindeutig befürwortet. Die Mehrheit ist wohl kleiner als früher, aber immer noch eine bedeutende Mehrheit. Für die Zurückhaltung, sich zu äußern, gibt es mehrere Gründe. Erstens haben viele Angst. Zweitens: Viele von denen, die sich sonst wohl geäußert hätten, glauben, aus Solidarität die derzeit vorherrschende Meinung akzeptieren zu müssen.
Freddie Sayers
- besonders in einer Zeit der Krise.
Jonathan Sumption
Ich teile diese Ansicht nicht. Es gibt zwei Formen von Solidarität: Einmal die der gegenseitigen Sympathie und Unterstützung. Und die des intoleranten Konformismus. Was COVID-19 betrifft, erleben wir die zweite dieser Formen, nicht die erste. Die erste halte ich für bewundernswert. Die zweite ist eher unheimlich. Und das geht zurück auf die Ursprünge des modernen Liberalismus. John Stuart Mill sah das öffentliche Gefühl und die öffentliche Angst als Hauptbedrohung für eine liberale Demokratie. Sie könnte die Politik dahingehend beeinflussen, dass unser selbstbestimmtes Leben nach und nach auf fast nichts reduziert wird. Das sah er als die große Gefahr an. Es passierte dann im 20. Jh. in vielen Ländern, und es passiert jetzt in Großbritannien.
Freddie Sayers
Sie haben sich also geäußert, weil Sie keine Angst hatten, vor dem Virus nicht, aber auch nicht wegen Ihrer Position. Weil Sie ein pensionierter Richter am Obersten Gerichtshof sind und es Sie nicht besonders interessierte, was die Leute denken, oder weil Sie kein Politiker waren. Fühlten Sie sich deshalb befreit?
Jonathan Sumption
Ich muss es niemandem recht machen. Natürlich hätte ich gerne das Gefühl, dass meine Ansichten von vielen Menschen geteilt werden. Und das werden sie auch, jedenfalls in Großbritannien. Aber ich bin niemandem verpflichtet. Ich bin im Ruhestand und nicht durch die Konventionen gebunden wie ein amtierender Richter. Und ich bin auch völlig politisch neutral. Ich habe absolut keine politische Zugehörigkeit. Leider ist dies zu einem politischen Thema geworden.
Freddie Sayers
Wie fühlt es sich an, plötzlich dieser kontroversen Minderheit anzugehören?
Jonathan Sumption
Bedauerlicherweise ist es eine Minderheit. Aber jemand muss die Stimme für die vielen Opfer der aktuellen Maßnahmen erheben. Besonders für die jungen Menschen. Es gibt viele Kategorien von Opfern. Aber das Auffälligste ist, dass wir die Karrierechancen einer ganzen Generation zerstören. Und das ist unter den heutigen Bedingungen leichter zu bewerkstelligen als früher. Wir leben in einem relativ hierarchischen Zeitalter mit einer Formel für das Weiterkommen im Leben und im Beruf. Man muss einigermaßen jung angefangen haben, man sollte nicht zu viele Lücken im Lebenslauf haben, man klettert nach oben. So funktioniert die Welt. Das Verpassen der untersten Sprosse der Leiter ist ein wirklich schwerwiegendes Ereignis. Eine aktuelle Statistik zeigt, dass der Anstieg der Arbeitslosigkeit durch die Maßnahmen sehr stark die jungen Menschen trifft, die auf den Arbeitsmarkt kommen. Und darüber haben wir noch nichts gesehen. Denn die Zahlen werden im Moment durch die Kurzarbeit niedriger gehalten. Am Ende wird es einen enormen Anstieg der Arbeitslosigkeit geben. Sie wird vor allem die Jungen treffen, weil sie die Arbeitssuchenden sind und weil sie als erste auf die Straße gesetzt werden. Eine große Generationen-Ungerechtigkeit. Und auch eine größere Katastrophe. Denn wenn man eine ganze Generation auf diese Weise entfremdet, wird sie sich gegen das demokratische Modell wenden. Anzeichen dafür gab es schon lange vor COVID-19. Die jungen Leute sind besonders demokratieverdrossen, und sie werden auch in anderer Hinsicht schlecht behandelt. Hauspreise und Studiengebühren sind ein klassisches Beispiel. Es gibt also eine Gruppe innerhalb der Gesellschaft, die sehr groß, sehr lautstark und artikuliert ist und die schon genug Groll hat, der man völlig unnötig einen enormen zusätzlichen Missstand aufbürdet. Und doch sind sie laut Umfragen dafür.
Freddie Sayers
Sie haben also das Gefühl, dass diese anderen Gruppen in der Gesellschaft, die stark betroffen sein werden, einfach nicht verstehen, wie schlimm es ist, oder sie haben keine Stimme und wir können sie nicht hören?
Jonathan Sumption
Obwohl die unmenschliche Art, in der manche Universitäten ihre Studenten behandeln, es einigen von ihnen vor Augen geführt hat. Viele der Opfer dieser Regelungen werden erst später erkennen, dass sie Opfer sind. Einige werden vielleicht nie Ursache und Wirkung zusammenbringen. Leider, weil es die Wahrscheinlichkeit verringert, dass wir aus den Lektionen lernen. Aber rückblickend denke ich, dass Historiker den Zusammenhang von Ursache und Wirkung ganz klar sehen werden: dass wir mit einer Politik der verbrannten Erde große Teile unseres nationalen Lebens mutwillig in Schutt und Asche gelegt haben. Einige werden sich wieder erholen, einige nur sehr langsam oder gar nicht.
Freddie Sayers
Wegen dieser Atmosphäre der Angst, wegen der Bedrohung und auch wegen des Gefühls, dass wir in einer Zeit der Krise einer Meinung sein sollten - es ist schwer zu wissen, was man von diesen Meinungsumfragen halten soll, obwohl sie bestimmt wiedergeben, was die Leute sagen - sobald die Krise offiziell begonnen hat, wollen die Leute nicht mehr davon abweichen.
Jonathan Sumption
Das tun sie nicht, solange die Krise unverändert bleibt. Aber die öffentliche Meinung ist notorisch wankelmütig. Und wenn sie durch Angst hervorgerufen wird, ist sie noch wankelmütiger, denn die Angst geht rauf und runter und wird vermutlich irgendwann verschwinden. Außerdem spiegeln die Antworten auf Fragen von Meinungsforschern nicht immer das tatsächliche Verhalten der Menschen wider. Großbritannien ist voller Menschen, die den Maßnahmen zustimmen, aber dennoch ihre eigene Risikoeinschätzung vornehmen und nicht immer konsequent danach handeln. Ich denke, das ist gesund. Das tun auch viele Leute, die ihre Unterstützung der Maßnahmen bekunden.
Freddie Sayers
Das ist ja die größte Frage von allen, nämlich: Ist das irgendwie ein Symptom für ein verfallendes System der Regierungsführung? Kann man sagen, eigentlich hat die Übereinkunft der zentristischen Parteien der letzten Jahrzehnte, kombiniert mit populistischen Krawallen und Menschen, die von allen möglichen Dingen die Nase voll haben, den Boden perfekt vorbereitet? Die Menschen haben genug von der liberalen Demokratie, zu viel Geschrei und nicht genug Taten?
Jonathan Sumption
Diese Gefahr besteht tatsächlich. Aber ich würde es nicht zu eng mit den jüngsten Entwicklungen in Verbindung bringen. Die Demokratie ist von Natur aus zerbrechlich. Wir halten sie für ein sehr robustes System. Demokratien gibt es seit etwa 150 Jahren. Sie sind nicht die Norm. Demokratien wurden in der Antike als inhärent selbstzerstörerische Regierungsformen angesehen. Aristoteles meinte, Demokratien verwandeln sich naturgemäß in Tyranneien. Weil das Volk immer einem Demagogen auf den Leim gehen wird, der sich zum absoluten Herrscher aufschwingen wird. Das ist ein vereinfachtes Modell für das, was tatsächlich das Ende von Demokratien markiert hat. Tatsächlich gibt es einen inhärent selbstzerstörerischen Mechanismus. Nun wurden Aristoteles' düstere Vorhersagen über das Schicksal von Demokratien durch die Erfahrungen des Westens falsifiziert. Warum? Meiner Ansicht nach hatte Aristoteles Recht mit den Tendenzen, aber wir haben es geschafft, sie durch eine gemeinsame politische Kultur der Zurückhaltung zu vermeiden. Und die bewirkte, dass sich Demokratien bisher nicht in Tyranneien verwandelt haben. Diese Kultur der Zurückhaltung ist, weil von der kollektiven Mentalität unserer Gesellschaften abhängig, extrem zerbrechlich, ziemlich leicht zu zerstören und äußerst schwer wiederherzustellen.
Freddie Sayers
Und glauben Sie auch, dass es andere Aspekte einer gemeinsamen Kultur gibt, die Voraussetzungen für eine funktionierende Demokratie sind? Institutionen, früher die gemeinsame Religion, das Gefühl, dass Ihre Landsleute die Welt in etwa so sehen wie Sie. Haben wir das verloren? Und wenn ja, was können wir dagegen tun?
Jonathan Sumption
Institutionen sind eindeutig sehr wichtig. Aber sie hängen auch ab von einer kollektiven Konvention über die richtige Art des Handelns und des Verhaltens. Sobald diese kollektiven Gefühle verschwinden, werden die Institutionen, die ihnen Wirkung verleihen, zwangsläufig weniger mächtig.
Freddie Sayers
Was können wir also tun? Die Aussicht ist ziemlich düster. Fallen Ihnen irgendwelche Maßnahmen ein, um die Dinge, die uns stark machen, zu stützen und zu einer liberalen Demokratie zurückzukehren?
Jonathan Sumption
Wenn die gegenwärtige Krise vorbei ist, werden sich die Menschen bemühen, das zu tun. Aber es wird andere Krisen geben. Erst wenn wir lernen zu sagen, wir müssen mit dem Unglück leben, mit dem Risiko, denn die Alternative ist schlimmer – erst dann werden wir aus dieser Situation herauskommen. Wahrscheinlich schaffen wir es irgendwann, aber es wird sehr lange dauern.
Freddie Sayers
Ist die Realität nicht auch, dass Menschen, die geimpft sind, sich anders verhalten werden, egal ob man es offiziell gesetzlich anerkennt oder nicht? Also ermutigen Sie die Leute im Grunde dazu, die Vorschriften zu ignorieren?
Jonathan Sumption
Die Regierung tut so, als würde der Impfstoff einen Unterschied machen und gleichzeitig keinen Unterschied. Das ist unmöglich. Das Grundproblem ist der Zwang. Wenn man ihn als Mittel zur Beeinflussung des öffentlichen Verhaltens einsetzt, muss man durchsetzbare Regeln haben. Die Polizei kann nicht sagen: Wir werden es gegen dich durchsetzen, weil du die Impfung nicht bekommen hast und über 70 bist, aber nicht gegen dich, weil du 50 bist und sie bekommen hast. Das ist das Problem mit dem Zwang. Wenn Sie Zwang als Ihr Modell annehmen, werden Sie aufhören müssen, wichtige Unterscheidungen zu machen, etwa zwischen Menschen, die verletzlich sind, und Menschen, die es nicht sind. Auch das macht das derzeitige System so despotisch und irrational.
Freddie Sayers
In Ihrem System gäbe es also Empfehlungen, wenn Sie geimpft wurden, empfehlen wir dieses und jenes Verhalten, und wenn nicht, liegt es an Ihnen, zu entscheiden.
Jonathan Sumption
Das ist, wie Schweden von Anfang an funktioniert hat, mit sehr kleinen Ausnahmen. Das ist, was wir beabsichtigt hatten. Das war der Plan. Es war der Rat von SAGE: Die Menschen müssen wie Erwachsene behandelt werden, die ihre eigenen Entscheidungen und Einschätzungen treffen können. Das waren 10 Jahre wissenschaftlich fundierter Planung, die in Panik aus dem Fenster geworfen wurde.
Freddie Sayers
Aber das unterschiedliche Verhalten von Geimpften und Nichtgeimpften wird viele Leute dazu bringen, über Impfpässe nachzudenken, was neue Probleme für die Freiheit aufwirft, oder?
Jonathan Sumption
Das tut es. Ich halte Impfpässe für einen Eingriff in die Privatsphäre, aber die Informationen befinden sich sowieso auf den Computern der Regierung oder des NHS. Die Bedenken bezüglich der Privatsphäre werden gelegentlich überbewertet. Ich möchte keine Welt, in der man ein Dokument vorlegen muss, um die Teilnahme an den gewöhnlichen Aktivitäten der menschlichen Existenz zu rechtfertigen. Das Problem ist, dass die Alternative noch schlimmer ist. Ich würde ein System bevorzugen, das völlig freiwillig ist und den Menschen vertraut. Aber das ist wohl keine politisch machbare Option. Wir müssen das kleinste Übel wählen. Und ein Impfpass ist viel weniger schlecht, als wenn man einfach wahllos jedem das wegnimmt, was das Leben lebenswert macht.
Freddie Sayers
Sie sind nicht besorgt, dass es tatsächlich eine ziemlich wesentliche Veränderung ist, wenn plötzlich alle Menschen den neuesten, von der Regierung vorgeschriebenen Impfstoff nehmen und ein entsprechendes Dokument vorlegen müssen, sonst sind sie Ausgestoßene? Sie können dann vielleicht nicht in ein Restaurant gehen, in ein Flugzeug steigen und ins Kino gehen. Das klingt nach einem ziemlich großen Schritt.
Jonathan Sumption
Ja, das ist es. Ein bedauerlicher Schritt. Und wenn die Menschen bereit wären, einander zu vertrauen und sich auf nicht-zwingende Maßnahmen zu verlassen, bräuchten wir ihn nicht. Aber die meisten meiner Mitbürger wollen Zwangsmaßnahmen. Und deshalb müssen wir die am wenigsten einschneidenden und am wenigsten verwerflichen finden.
Freddie Sayers
Das kommt also im Grunde einer Zwangsimpfung gleich? Sie können sagen, es ist freiwillig. Man braucht nie wieder einen Fuß in ein Restaurant oder ein Kino zu setzen, wenn man sie nicht nehmen will. Aber eigentlich sagen wir, es ist ein Pflichtimpfstoff.
Jonathan Sumption
Ich bedauere das, aber ich denke, dass eine Zwangsimpfung viel besser ist als ein Zwangs-Hausarrest.
Freddie Sayers
Würden Sie das Recht der Menschen verteidigen, den Impfstoff nicht zu nehmen?
Jonathan Sumption
Ja. Ich persönlich habe die erste Dosis bereits bekommen und ich denke, dass die Impfgegner keine sehr überzeugenden Argumente haben. Wenn jemand einen Eingriff in den eigenen Körper vornimmt, hat jeder ein Recht auf seine eigene Wahl, und ich habe nichts dagegen. Aber dann muss man eine Möglichkeit haben, ängstliche Menschen in die Welt hinauszulocken. Das ist wie bei den Masken. Es gibt wohl nicht viele Beweise dafür, dass Masken hilfreich sind. Aber sie können dazu beitragen, Menschen zu ermutigen, rauszugehen und mitzumachen. Und so ist es auch mit den Impfstoffen, denn wir müssen die Leute zurück auf die Sportplätze, zurück in die Theater locken. Es ist unvermeidlich, dass private Unternehmen, z.B. Theaterbetreiber, einen Nachweis über die Impfung verlangen werden: Sonst kommen die Leute, die immer noch Angst haben, sich anzustecken, einfach nicht. Das ist sehr bedauerlich, aber wir leben in einer Welt, in der wir aufgrund der Ängste so vieler Menschen zwischen mehr oder weniger schlechten Optionen wählen müssen.
Freddie Sayers
Das eröffnet aber die Möglichkeit, dass es eine widerstandsfähige kleine Minderheit von Menschen geben wird, die den Impfstoff nicht nehmen wollen, aus prinzipiellen Gründen oder aus anderen. Und sie werden dann eine Art ausgeschlossener Teil der Gesellschaft sein, und unser Gerede über gemeinsame Werte und Zusammenhalt, damit die Demokratie funktioniert - das ist der große Schritt zurück.
Jonathan Sumption
Es ist ein Schritt zurück. Auch wenn wir nicht übertreiben sollten. Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, haben in gewisser Weise eine Option gewählt, die das Ausmaß reduziert, in dem andere Menschen mit ihnen zu tun haben wollen. Und so bleibt es freiwillig. Man muss sich nicht impfen lassen, wenn man die Probleme in Kauf nimmt.
Freddie Sayers
Wenn in den kommenden Monaten der Zeitplan der Regierung ins Rutschen gerät, ob wegen einer neuen Variante, neuer Gespräche über pädiatrische Impfstoffe oder weil jemand entscheidet, dass die Fälle inakzeptabel ansteigen: An welchem Punkt wäre es in Ordnung, eine Art Kampagne des zivilen Ungehorsams zu beginnen?
Jonathan Sumption
Es ist sehr schwer zu sagen, dass es einen genauen Punkt gibt. Aber es gibt einen solchen Punkt. Manchmal ist das öffentlichkeitswirksamste, was man mit solchen despotischen Gesetzen tun kann, sie zu ignorieren. Wenn die Regierung lange genug Menschen einsperrt, wird wahrscheinlich ziviler Ungehorsam das Ergebnis sein. Diskreter ziviler Ungehorsam in der klassischen englischen Art. Wir werden nicht auf die Straße gehen und Transparente schwenken. Wir werden einfach beschließen, dass wir dem Ganzen keine Beachtung mehr schenken. Einige Dinge sind nicht zu ändern: Man kann nicht in ein Geschäft gehen, wenn es geschlossen ist. Andererseits kann man Freunde auf einen Drink einladen. Die Leute machen das schon. Wenn man durch London läuft, sieht man, dass sich nicht jeder an die Vorschrift hält. Ganz klar.
Freddie Sayers
Wie nah sind wir an diesem Moment? Und würden Sie auch sagen, es gibt einen Punkt, an dem ich dem einfach keine Aufmerksamkeit mehr schenke?
Jonathan Sumption
Auf jeden Fall.
Freddie Sayers
Wie nah sind wir an diesem Punkt?
Jonathan Sumption
Jeder wird seine eigene Schwelle haben. Aber in den Augen vieler Leute haben wir diesen Punkt schon vor langer Zeit erreicht.
Freddie Sayers
Fühlen Sie sich also traurig, als kürzlich pensionierter Richter am Obersten Gerichtshof sagen zu müssen, dass es akzeptabel wäre, das Gesetz zu brechen?
Jonathan Sumption
Ich finde es traurig, dass wir die Art von Gesetzen haben, die Menschen mit Bürgersinn möglicherweise brechen müssen. Anders als die meisten meiner früheren Kollegen glaube ich nicht, dass es eine moralische Verpflichtung gibt, das Gesetz zu befolgen. Es gibt eindeutig eine rechtliche Verpflichtung. Und man kann sich nicht beschweren, wenn man das Gesetz bricht und bestraft wird. Aber gibt es auch eine moralische Verpflichtung? Meiner Meinung nach nicht. Manche Gesetze laden zum Verstoß ein. Ich denke, dies ist eines davon.
Freddie Sayers
Theoretisch könnten wir Sie also auf einer Bühne am Trafalgar Square mit einem Lautsprecher in der Hand an der Spitze einer Widerstandsbewegung sehen, wenn wir diesen Punkt weit überschreiten und es immer noch das gibt, was Sie als ungerechtfertigte, despotische Vorschriften ansehen.
Jonathan Sumption
Nein, das würden Sie mich nicht tun sehen. Weil ich einfach nicht an diese Art der politischen Kundgebung glaube. Sie werden sehen, dass die Leute spontan und leise einfach das Gesetz ignorieren. Man sollte kein großes öffentliches Thema daraus machen. Es sollte einfach eine Einvernehmlichkeit darüber geben, dass niemand das Gesetz genug respektiert, um es einhalten zu wollen. Das ist eine der effektivsten Methoden, um sicherzustellen, dass das Gesetz geändert wird.
Freddie Sayers
Sie denken da irgendwie an Gandhi.
Jonathan Sumption
Gandhi war aber natürlich sehr öffentlich in seinem zivilen Ungehorsam. Das hier wird viel diskreter sein. Und es ist nichts, wozu man andere Menschen ermutigen sollte. Es ist ein persönliches Dilemma: An welchem Punkt bin ich persönlich bereit, das Gesetz des Landes zu ignorieren, in dem ich lebe, an dessen Zustandekommen ich aber beteiligt bin? Und wir werden nicht alle die gleiche Antwort darauf haben.
Freddie Sayers
Umfragen mögen zeigen, dass über 80 Prozent der Leute die Einschränkungen gutheißen. Aber folgte man jedem Bürger 24 Stunden am Tag, würde man in den meisten Fällen einen Verstoß gegen eine Vorschrift finden, vielleicht sogar in der überwältigenden Mehrheit. Hat der zivile Ungehorsam also vielleicht schon die ganze Zeit stattgefunden?
Jonathan Sumption
Ja. Das ist eine Frage des Ausmaßes. Es gibt nicht plötzlich einen Knall und dann fangen die Leute an, das Ding pauschal zu ignorieren. Sie fangen damit an, dass sie es peinlich genau befolgen, dann missachten sie es in geringem Maße, dann in weniger geringem und häufiger. Und irgendwann kommt man an den Punkt, an dem das Gesetz völlig ignoriert wird. Sehr ähnliche Dinge sind in der Vergangenheit passiert. Kriegskontrollen zum Beispiel - das Mitführen von Ausweisen - wurden für mehrere Jahre nach dem Ende des letzten Krieges durchgesetzt. Und irgendwann haben die Leute ihre Ausweise einfach zerrissen, ohne Rücksicht auf das Gesetz. Und eines Tages wurde jemand, der das tat, freigesprochen, weil das Gericht sagte, das ist vollkommen lächerlich. Nun, ich kann mir nicht vorstellen, dass das Gericht das sagt, außer in extremen Fällen. Aber die Dinge passieren nicht, weil es eine Revolution auf den Straßen gibt. Oder weil Leute auf dem Trafalgar Square mit einem Mikrofon stehen. Sondern weil Millionen von Menschen eine individuelle Entscheidung treffen. Mein Haupteinwand gegen die gegenwärtigen Regeln ist, dass sie darauf abzielen, die individuelle Wahl zu unterdrücken, und je früher wir diese zurückbekommen, desto besser.
Freddie Sayers
Nehmen wir also an, dass das nicht passiert, dass es keinen Bedarf für eine Massenkampagne des zivilen Ungehorsams gibt, und die Dinge entwickeln sich tatsächlich nach dem Zeitplan des Premierministers und wir bekommen die Normalität zurück. Was haben Sie über die Gesellschaft gelernt, was Sie vorher nicht wussten, wenn Sie auf diese Episode zurückblicken?
Jonathan Sumption
Ich werde zu dem Schluss kommen, dass sich einige meiner Befürchtungen über die Funktionsweise der Massendemokratie im Detail bewahrheitet haben, schneller als erwartet. Ich werde gelernt haben, welch enorme Macht Regierungen haben, die Meinung zu beeinflussen, indem sie Ängste schüren, die viele Menschen in der Praxis nicht verstehen. Und das sind erschreckende Lehren. Ich würde aus ihnen lernen wollen, wie wir in Zukunft Dinge reparieren. Mein erster Vorschlag ist: Regierungen sollten Informationen nicht als Werkzeug zur Manipulation des öffentlichen Verhaltens behandeln. Sie sollten ruhiger sein als die Mehrheit ihrer Bürger und völlig objektiv sein. Meine zweite Lektion wäre: Regierungen, die sich mit wissenschaftlichen Themen befassen, sollten sich nicht nur von einer einzelnen Fraktion von Wissenschaftlern beeinflussen lassen. Sie sollten immer prüfen, was ihnen gesagt wird, so wie z.B. Richter verschiedene Expertenmeinungen prüfen.
Freddie Sayers
Haben Sie das Gefühl, dass wir philosophisch gesehen irgendwie degradiert wurden und dass das durch diese Sache aufgedeckt wurde? Es gibt diese Anbetung einer bestimmten Art von rationalem wissenschaftlichem Denken, und die Leute scheinen kein Vokabular für eine Menge anderer Werte zu haben.
Jonathan Sumption
Richtig, aber nicht so sehr, weil Todesfälle und Infektionen quantifizierbar sind. Es ist vielmehr so, dass Todesfälle dramatisch sind. Und Regierungen, die nicht kritisiert werden wollen, werden sich immer viel mehr von Schlangen von Krankenwagen vor den NHS-Krankenhäusern und Todesstatistiken beeinflussen lassen als etwa vom Rückgang des Bruttoinlandsprodukts. Doch auch der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts ist ein Killer. Armut ist ein Killer. Keine Gesellschaft hat jemals Leben gerettet, indem sie sich ärmer gemacht hat. Aber die Art und Weise, wie sie Leben verschwendet, indem sie sich selbst ärmer macht, ist viel subtiler, schleichender und weniger sichtbar. Und deshalb haben sie weniger Einfluss auf die Menschen.
Freddie Sayers
In anderen Gesellschaften gab es andere Werte, die neben Leben oder Tod eine Rolle spielten. Die alten Griechen hielten z.B Mut für wichtig, und die Viktorianer hatten ihre eigenen, fragwürdigen Werte, aber es gibt wohl nur sehr wenig, über das wir uns alle einig sein können, dass es wichtig genug ist, um es wirklich in eine Gleichung von Leben oder Tod einfließen zu lassen.
Jonathan Sumption
Das ist wahr. Aber das war schon immer so. Ich glaube nicht, dass es jemals eine Zeit gab, in der grundlegende Werte universell geteilt wurden. Meistens wurden die Grundwerte von einer dominanten Gruppe geteilt, die einflussreicher war als jede andere. Und die Art von Tugenden oder Lastern, die wir den Viktorianern zuschreiben, wurden tatsächlich nur von gebildeten, relativ wohlhabenden Viktorianern der Oberschicht geteilt. Aber sie waren diejenigen, deren Ansichten zählten. Wir leben heute in einer Welt, in der Eliten weniger zählen. Und in der daher die Meinungen deutlich vielfältiger sind.
Freddie Sayers
Aber ist das nicht einfach eine neue Elite? Man könnte sagen, dass die Anbetung dieser Denkweise die letzte Konsequenz des liberalen Fortschritts ist. Dann hat man eine Menge gebildeter, säkularer Akademiker, die viel über Wissenschaft wissen und die Nase über jeden rümpfen, der die Welt nicht so sieht wie sie.
Jonathan Sumption
Aber der Fehler liegt bei denen, die ihnen unangemessen Glauben schenken und die denken, dass sie monolithisch sind, obwohl es legitime Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Welt der Wissenschaft gibt. Warum? Es liegt nicht daran, dass sie im Angesicht der Wissenschaft feige werden. Es geht zurück auf die Sehnsucht nach Sicherheit und die Angst vor dem Risiko. Die Menschen werden immer eher jemandem glauben, der sagt: Ich weiß, wie man dieses bestimmte Risiko beseitigen kann. Und Wissenschaftler werden ziemlich unfairerweise als diejenigen dargestellt, die diesen Weg kennen. Das passiert jedes Mal, wenn die Regierung sagt, wir folgen der Wissenschaft.
Freddie Sayers
Sind Sie ein religiöser Mensch?
Jonathan Sumption
Ja, ich bin Christ.
Freddie Sayers
Spielt das eine Rolle bei der Abwägung all dieser verschiedenen Werte und wie Sie diese messen?
Jonathan Sumption
Nein, ich glaube nicht. Ich habe versucht zu untersuchen, ob meine christlichen Ansichten meine Sichtweise in dieser Sache beeinflussen. Das tun sie nicht.
Freddie Sayers
Also haben Sie nicht das Gefühl, dass die säkulare Wissenschaft die Oberhand gewinnt und zu einer neuen Form der Religion wird?
Jonathan Sumption
Ich unterschreibe diese Theorie überhaupt nicht.
Freddie Sayers
Also, um zum Schluss zu kommen, Lord Sumption, Sie hatten diese außergewöhnliche Karriere, unglaublich etabliert, erfolgreich. Die letzte große Kontroverse, die wir hier in Großbritannien hatten, war die um den Brexit, bei der Sie auf der "Remain"-Seite waren. Sie haben letztes Jahr die Reith-Vorlesung gehalten, die ultimative Auszeichnung für einen unserer öffentlichen Intellektuellen. Und jetzt plötzlich finden Sie sich als eine Art Abtrünniger wieder oder Sie erleben jetzt das Leben auf der anderen Seite der Barrikaden. Sie sind die kleine Minderheit, die eine unpopuläre Position vertritt.
Jonathan Sumption
So klein ist sie nicht, aber es ist eine Minderheit.
Freddie Sayers
Genießen Sie das auf irgendeine Weise?
Jonathan Sumption
Nein, nicht besonders. Ich glaube sogar, dass selbst pensionierte Richter bei kontroversen politischen Positionen zurückhaltender sein sollten, als ich es war. Und ich hätte es vorgezogen, wenn die Argumente, die ich im letzten Jahr immer wieder vorgebracht habe, von irgendeinem anderen vorgebracht worden wären. Ehemalige Kollegen, die das missbilligen, was ich getan habe, haben definitiv nicht ganz Unrecht. Aber einige Themen sind so zentral für die Dilemmata unserer Zeit, dass man bereit sein muss, aufzustehen und Flagge zu zeigen.
Freddie Sayers
Lord Sumption, ich danke Ihnen vielmals. Das war Jonathan Sumption, ehemaliger Richter am Obersten Gerichtshof, der uns eine intellektuelle Tour de Force zu den Argumenten rund um Lockdowns gegeben hat, und Sie haben es hier zuerst gehört: die Erlaubnis eines ehemaligen Richters am Obersten Gerichtshof, dass es ab einem bestimmten Punkt, der vielleicht schon erreicht wurde, moralisch akzeptabel ist, das Gesetz zu ignorieren. Hier ist Lockdown TV. Danke fürs Einschalten.