Gastautor / 16.01.2016 / 14:00 / 0 / Seite ausdrucken

Auf armenischen Spuren in Serbien

Von Julian Tumasewitsch

Während sich die atemberaubenden Küsten Kroatiens und Montenegros immer größerer Beliebtheit bei Touristen aus der ganzen Welt, so auch aus dem deutschsprachigen Raum, erfreuen, bleibt Serbien weiterhin ein Geheimtipp. Dabei hat das Land eine faszinierende Bandbreite an historischer und kultureller Vielfalt zu bieten.

Seien es beeindruckende Sakralbauten wie der Dom des Heiligen Sava (Hram svetog Save) oder Skadarlija, das alte böhmische Viertel, eine Art Montmartre des Balkans, in der Hauptstadt Belgrad, das ländliche Idyll im ursprünglichen, oft noch stark landwirtschaftlich geprägten, Süden des Landes oder die Grenzregion zu Rumänien entlang der Donau, die in vielerlei Hinsicht an das Elbenland aus „Herr der Ringe“ von J. R. R. Tolkien erinnert, Serbien ist eine Reise wert.

Selbst bei Balkaninsidern ist das folgende Thema aber weitgehend unbekannt. Kaum jemand weiß etwas von den Spuren, die Armenier, Angehörige der ältesten christlichen Nation der Welt, im Herzen der Halbinsel hinterlassen haben. Die ersten Aufzeichnungen über die Anwesenheit von Armeniern in Serbien datieren auf das Jahr 1212. In diesem Jahr kämpfte ein armenisches Bataillon an der Seite der serbischen Armee gegen die Invasorenarmee des Osmanischen Reichs.

An den alten Grenzen zwischen Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich über dem Zusammenfluss der Sava und der Donau thronen die Mauern der alten Festung. Die Serben nennen den Festungshügel „Kalemegdan“. Dieses Wort ist, mit Ausnahme einer einzigen Konsonantenveränderung, wie sie in der Geschichte von Lehnworten häufig und in vielen Sprachen vorkommt, eine unveränderte Kombination der, aus dem Türkischen stammenden, Begriffen „kale“
(zu Deutsch: Festung, Burg, Zitadelle) und „meydan“ (zu Deutsch: Platz, Esplanade). Wer es nicht weiß, wird es kaum bemerken, doch nur wenige Meter zwischen dem Mausoleum des ehemaligen osmanischen Großwesirs Silahdar Damat Ali Pascha und dem Teil der äußeren Festungsmauern, der einen Blick auf die Bootrestaurants ermöglicht, erinnern zwei verwitterte Grabsteine an einen armenischen Friedhof, der sich einst auf dem Festungshügel befand. Sowohl der armenische als auch der jüdische Friedhof auf dem Kalemegdan wurden nach der Eroberung Belgrads durch die Osmanen nach und nach zerstört. Die serbische Beschreibung neben dem größeren der beiden verbliebenen Grabsteine spricht von der Existenz des armenischen Friedhofs bis ins 17.Jahrhundert.

Um eine weitere bedeutende armenische Spur in Serbiens Hauptstadt zu entdecken, muss man sehr genau hinsehen. Diese befindet sich vor der serbisch-orthodoxen Kirche des Erzengels Gabriel, der Crkva Svetog Arhanđela Gavrila, im Stadtpark (Gradski Park) des Belgrader Vororts Zemun. Viele Navigationssysteme und selbst Google finden diese jedoch oft nicht und führen stattdessen zum serbisch-orthodoxen Kloster des Erzengels Gabriel, dem Manastir Svetog Arhanđela Gavrila, im zu Zemun gehörenden Viertel Batajnica. Dieses Kloster befindet sich nicht in einem Park, sondern an einer recht viel befahrenen Straßenkreuzung. Zwar wandelt man dort nicht auf armenischen Spuren, jedoch ist insbesondere das Interieur der Klosterkirche überaus sehenswert.

Wer den armenischen Spuren folgen möchte, weiß sich im ruhigen Stadtpark von Zemun an der richtigen Adresse. Es empfiehlt sich, den Namen der Kirche nicht in das Navigationssystem einzugeben, sondern nur den „Gradski Park“ (Stadtpark) in „Zemun“. Die Crkva Svetog Arhanđela Gavrila kann man, einmal im Park angekommen, nicht mehr verfehlen. Wenn man sich auf den Eingang der Kirche zubewegt, fällt ein drei Meter hoher armenischer Chatschkar (Kreuzstein) ins
Auge. Bei einem Chatschkar handelt es sich um ein bildhauerisch kunstvoll gestaltetes Gedenkmonument. Die Erstellung solcher Kreuzsteine hat in der armenischen Kultur eine mehr als tausendjährige Tradition.

Am unteren Ende des Chatschkar von Zemun sind zwei Jahreszahlen eingraviert: 1212 und 1988. Die erste Jahreszahl ist der eingangs erwähnten Schlacht, bei der die serbischen Armee und das armenischen Bataillon gemeinsam kämpften, gewidmet. Die Jahreszahl 1988 ist eingraviert, um zwei serbische Piloten und ihre Mission zu ehren. Nach einem verheerenden Erdbeben in Armenien waren sie von Serbien aus dorthin unterwegs, um humanitäre Hilfsgüter in die Katastrophenregion zu bringen. Ihr Flugzeug stürzte ab. Die Piloten überlebten den tragischen Absturz nicht. 20 Jahre nachdem Unglück wurden ihnen zu Ehren ihre Familien vom armenischen Präsidenten in die, seit 1991 unabhängige ehemalige Sowjetrepublik, eingeladen.

Gut 90 Kilometer südwestlich der serbischen Hauptstadt liegt Valjevo. Valjevo hat ungefähr 60.000 Einwohner und liegt im Tal des Flusses Kolubara. Der Fluss teilt die Stadt in neue Stadtteile und die Viertel der Altstadt. In der Altstadt befindet sich das ehemalige Wohnhaus und Geschäft Khatchadour Tehlirians, dem Vater Soghomon Tehlirians. Die Familiengeschichte der Tehlirians ist allgegenwärtig in Valjevo.

Zu Beginn der 1880er begannen Armenier aus der Region Gamax (auf Zaza-Kurdisch auch Kemax), dem heutigen Kemah in der türkischen Provinz Erzincan, sich auf der Suche nach Arbeit auf dem Balkan niederzulassen. Einer von ihnen war Khatchadour Tehlirian. Gemeinsam mit seinen Brüdern Nerses und Asadour war er im Kaffeehandel aktiv und Mitglied der Handelsunion von Valjevo. Wie damals üblich, bekam er einen serbischen Nachnamen und hieß, nach seinem Vater Markar benannt, bald Markovic.

Soghomon Tehlirian selbst besuchte Serbien 1913 im Alter von 17 Jahren das erste Mal. Er plante damals, sich dort auf ein späteres Studium in Berlin vorzubereiten. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs jedoch änderten sich seine Pläne. Er begab sich in die heutige georgische Hauptstadt Tiflis, wo er sich gemeinsam mit seinen Brüdern und Cousins für den Kriegseinsatz in armenischen Freicorps meldete. Nach Berlin verschlug es ihn einige Jahre später dennoch. Im Rahmen der Operation Nemesis erschoss er dort Talat Pascha, einen der Hauptverantwortlichen für den Völkermord des Osmanischen Reichs an den Armeniern, Aramäern und Pontosgriechen. Vor dem Jahr 1915 lebten
noch 85 Mitglieder der Familie Tehlirian in Erzincan.

Als einziges Familienmitglied überlebte seine Nichte Armenouhie den Völkermord in dieser Region. Dort erschoss er Talat Pascha, einen der Hauptverantwortlichen für den Völkermord des Osmanischen Reichs an insgesamt mehr als 2 Millionen Armeniern, Aramäern und Pontosgriechen. Vor dem Jahr 1915 lebten noch 85 Mitglieder der Familie Tehlirian in Erzincan. Als einziges Familienmitglied überlebte seine Nichte Armenouhie den Völkermord in dieser Region. Nachdem die russische Armee Erzincan befreit hatte, übergabendie dort lebenden meist alevitischen Kurden die zehnjährige Armenouhie den Behörden. Die Politik der Befreier sah damals eine Belohnung von einer Goldmünze für die Aushändigung einer /eines armenischen Überlebenden vor. So sollte die Familienzusammenführung von, durch alevitische Kurden gerettete, Überlebende und ihren Angehörigen im Ausland ermöglicht werden. 1941 starb Soghomon Tehlirians Vater Khatchadour in der serbischen Hauptstadt Belgrad. Sein Lebenswerk umfasst u.a. die Gründung der armenischen Händlerunion.

Nachdem Soghomon Tehlirian von einem Berliner Schwurgericht für die tödlichen Schüsse vom 21. März 1921 auf den Völkermordsdrahtzieher Talaat Pascha freigesprochen wurde, ging er nach Serbien, um dort Anahit Tatigian, eine ebenfalls ursprünglich aus Erzincan stammende Armenierin, zu heiraten. Er nahm den Familiennamen Melikian an, und arbeitete wie sein Vater im Kaffeehandel, bis er nach Fresno im US-Bundesstaat Kalifornien auswanderte. Einer seiner Söhne lebt bis heute in Serbien. Shahen Melikian wohnt in Belgrad und hat als Geiger seine Passion für klassische Musik zum Beruf gemacht.

Heute noch lebt Zaven Der Ghazarian, der Enkel von Armenouhie Tehlirian und Mihran Der Ghazarian, zusammen mit seiner Frau Vesna und seinem Sohn Gabriel in Valjevo. Sie sind gegenwärtig die einzige armenische Familie in der Stadt. Zaven Der Ghazarian ist Arzt und Mitglied des Stadtrats. Sein Vater Rosdom war Dozent für Wirtschaftswissenschaften an der Universität von Belgrad. Seinen Sohn Gabriel hat er nach dem Helden aus Franz Werfels Novelle „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ benannt.

Gegenwärtig leben zwischen 200 und 250 Armenier in Serbien. Sie unterhalten einen kleinen Dachverband namens „Armenka“. Serbien und Armenien pflegen ein freundschaftliches diplomatisches Verhältnis und arbeiten am Ausbau der bilateralen Beziehungen. Neben dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und dem französischen Präsidenten François Hollande, war ihr serbischer Amtskollege Aleksandar Vučić eines von drei ausländischen Staatsoberhäuptern, das am 24. April 2015 an den Gedenkzeremonien zur hundertsten Jährung des, von den Armeniern erlittenen Völkermords, am Denkmal Zizernakaberd in Jerewan teilnahm.

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