Von Günter Keil
Eine Übersicht über einige der in Entwicklung befindlichen Kleinsysteme mit elektrischen Leistungen bis 125 MWel:
1. Leichtwasser-Kleinreaktoren:
KLT-40S (Russland)
Als Nachfolger der schon länger in Eisbrechern eingesetzten KLT-40-Reaktoren entwickelte das russische Unternehmen OKBM Afrikantow den 35 MWel -Druckwasserreaktor KLT-40S. Er soll als schwimmendes Kraftwerk eingesetzt werden, das entlegene Hafenstädte 35 bis 40 Jahre lang mit Strom und Wärme versorgen kann.
Die Konstruktion begann 2007, am 30.6.2010 fand in der baltischen Werft in St. Petersburg der Stapellauf des ersten schwimmfähigen Kernkraftwerks Akademik Lomonossow statt. Die Installation der zwei Reaktoren erfolgt 2011 und ebenfalls der erste Test, 2013 die Endabnahme. Erster Einsatz soll 2012 an der Halbinsel Kamtschatka zur Versorgung der Siedlung Viljuchinsk erfolgen.
Derweil entwickelt OKBM Afrikantow eine verbesserte Version: Den RITM-200, einen 55 MWel Reaktor mit inhärenten Sicherheitseigenschaften, der die zwei KLT-40S in schwimmenden KKW ersetzen soll.
mPower (USA)
Babcock & Wilcox (B&W) hat ein mPower genanntes Konzept für ein aus modularen, unterirdisch installierten 125 MWe -LWR-Reaktorblöcken bestehendes Kraftwerk konzipiert. Bei einem Brennelemente-Wechsel oder bei Reparaturarbeiten muß nur ein Modul heruntergefahren und ggf. herausgenommen werden, während die übrigen weiter laufen.
Ein Vorteil dieses Konzepts ist die kostengünstige und qualitativ überlegene Komplettfertigung eines Moduls in einer Fabrik, von dem es zur Kraftwerksbaustelle transportiert und eingebaut werden kann. Betont werden die erweiterten Sicherheitsfunktionen der Reaktoren: Insbesondere passive Sicherheitssysteme, keine aktiven Kernkühlsysteme. Keine Notstromaggregate, sondern Batterieversorgung.
Erste Arbeiten in der Produktion sollen 2013 beginnen.
NuScale (USA)
NuScale entwickelt ein Konzept für modular aufgebaute LWR. Eine Anlage soll aus 1 bis 12 Modulen bestehen und bei 12 Modulen eine Leistung von 540 MWel liefern, wobei das Einzelmodul 45 MWel beisteuert. Der einzelne Reaktor-Druckbehälter, der die Abmessungen 14 m Länge und 3 m Durchmesser besitzt, befindet sich in einem separaten Containment von 18 m Länge und 4,5 m Durchmesser. Auch Dampferzeuger und Druckhalter befinden sich in dem Modul.
Die Sicherheitsbarrieren: Ein Containment-Pool, der die einzelnen Module umgibt, die Stahlbetonhülle des Pools, ein biologischer Schild und das Reaktorgebäude selbst. Das Notkühlsystem des Reaktors arbeitet passiv und bedarf keiner Stromversorgung. Ferner sind alle kritischen Komponenten unterirdisch installiert – als Schutz gegen äußere Einwirkungen (Flugzeugabstürze etc.).
Wie beim Konzept mPower werden die Module in einer Fabrik komplett gefertigt und per Zug, LKW oder Schiff zur Baustelle gebracht.
SMART (Südkorea)
Das Korea Atomic Energy Research Institute KAERI arbeitet seit 1997 gleichfalls an einem modularen Kleinreaktorkonzept „System-Integrated Modular Advanced Reactor (SMART)“. Es handelt sich um einen Druckwasserreaktor, der für Stromerzeugung, Meerwasserentsalzung und Fernwärmeversorgung eingesetzt werden soll.
Sein integraler Aufbau bedeutet, daß alle Primärkomponenten wie der Reaktorkern, der Dampferzeuger, die Kühlpumpen und Druckhalter in einem Behälter untergebracht sind. Die Leistung beträgt über 330 MWth bzw. 100 MWel.
Neben einer Vielzahl von Sicherheitssystemen stellt die passive Ableitung der Restwärme eine Neuerung dar. Die Designarbeit soll Ende 2011 abgeschlossen werden.
CAREM (Argentinien)
Ein modularer 27 MWel Druckwasserreaktor mit integriertem Dampferzeuger. Für Stromerzeugung oder Wasserentsalzung. Das primäre Kühlsystem ist innerhalb des Druckbehälters untergebracht. Das Kühlsystem basiert allein auf Wärmeableitung. Jährliche Brennstoff-Nachfüllung. Fortgeschrittene Entwicklung; in ca. 10 Jahren Einsatz in der NW-Provinz Formosa.
VKT-12 (Russland)
Der VKT-12 ist ein kleiner transportabler 12 MWel Siedewasserreaktor (BWR), der dem VK-50-Prototyp in Dimitrowgrad ähnelt. Ein Kreislauf, Keramik-Metall-Kern. Brennstoffwechsel alle 10 Jahre. Reaktorbehälter: 2,4 m Innendurchmesser, Höhe 4,9 m.
ABV (Russland)
Ein in Entwicklung befindlicher kleiner Druckwasserreaktor von OKBM Afrikantow ist der ABV mit einem Leistungsspektrum von 45 MWth (ABV-6M) bis herunter zu 18 MWth (ABV-3), somit 18 – 4 MWel. Der ABV wird für die Montage auf festem Grund oder auf einem Lastkahn produziert . Brennstoffwechsel-Intervall ist ca. 8-10 Jahre; Betriebsdauer ca. 50 Jahre.
NHR-200 (China)
Der Nuclear Heating Reactor (Nuklearer Heizreaktor) NHR-200, entwickelt vom Institute of Nuclear and New Energy Technology der Tsinghua Universität, ist ein einfacher 200 MWth Druckwasserreaktor für die Fernheizung oder Wasserentsalzung. Im Jahre 2008 stimmte die Regierung dem Bau einer sog. Multi-Effekt-Entsalzungsanlage (MED) mit dem NHR-200 auf der Halbinsel Shandong zu.
Holtec HI-SMUR (USA)
Holtec International gründete im Februar 2011 eine Tochter – SMR LLC – um ein 140 MWel - Reaktorkonzept „Holtec Inherently Safe Modular Underground Reactor“ kommerziell zu verwerten. Es ist ein unterirdisch installierter Druckwasserreaktor mit externem Dampfgenerator. Er besitzt völlige passive Kühlung sowohl im Betrieb als auch nach Abschaltung.
TRIGA (USA)
Das TRIGA Power System ist ein Druckwasserreaktor, dessen Konzept auf General Atomics bewährtem Forschungsreaktor-Design beruht. Es ist ein 64 MWth , 16,4 MWel System, das bei relativ niedriger Temperatur arbeitet.
2. Schnelle Salzschmelze-Kleinreaktoren
FUJI (Japan)
Dieses maßgeblich von dem japanischen Wissenschaftler Dr. Kazuo Furukawa begleitete Reaktorkonzept gehört im Grunde bereits zur IV. Generation der Flüssigsalz-Reaktoren (MSR).
Der FUJI ist ein kleiner Brutreaktor mit eigenem Brennstoffkreislauf.
Als Vorstufe soll eine kleinere Version – der miniFUJI – gebaut werden, der eine Größe von nur 1,8 m Durchmesser und 2,1 m Höhe aufweisen und dabei die respektable Leistung von 7 bis 10 MWel erreichen soll. Nach Erprobung soll der FUJI gebaut werden, der mit 5,4 m Durchmesser und 4 m Höhe eine Leistung von 100 bis 300 MWel erreichen könnte.
Das Prinzip: Grafitmoderierung; keine Metallteile im Inneren des Reaktors, das Flüssigsalz ist nicht brennbar und chemisch inaktiv. Der Reaktor wird passiv gekühlt und der Brennstoff kann jederzeit durch Schwerkraft, also ohne Pumpen etc., aus dem Reaktor entfernt werden. Dabei gelangt der Brennstoff in einen Entladetank, der von einem passiven Kühlsystem umschlossen wird. Ein System aus Schutzbarrieren soll den FUJI umgeben. Auch soll das sehr gut verfügbare Thorium (etwa 10-fach größere Vorräte als Uran vorhanden) als Brennstoff mitgenutzt werden.
2010 wurde in Tokio die International Thorium Energy & Molten-Salt Technology Inc. (IThEMS) gegründet, die innerhalb von 5 Jahren den ersten Thorium-MSR miniFUJI bauen will.
3. Flüssigmetall-gekühlte schnelle Kleinreaktoren
HPM (USA)
Die Hyperion Power Generation Inc. in Santa Fe baut einen Minireaktor „Hyperion Power Module, HPM“ mit einer Leistung von 25 MWel und 75 MWth.
Es ist ein bleigekühlter schneller Reaktor (LFR) mit Kühlung durch eine flüssige eutektische Blei-Wismut-Mischung. Dieser Reaktortyp fuhr jahrelang in der russischen Alpha-U-Boot-Klasse als Antriebsquelle, aber Hyperions HPM-Design hat einen anderen Ursprung: Das Los Alamos National Laboratory (LANL) hat das Konzept entwickelt und es steht nach wie vor als „brain trust“ hinter dieser Entwicklung. Hyperion ist ein „spin-off“ des LANL zum Bau und zur Vermarktung des Typs.
Der kleine Reaktor – mit den Abmessungen 1,5 m Durchmesser, 2,5 m Höhe - wird komplett in einer Fabrik hergestellt und per Bahn, LKW oder Schiff zum Einsatzort gebracht und unterirdisch eingebaut. Der enthaltene Brennstoffvorrat reicht für einen 10-jährigen Betrieb, nach dem der Reaktor zur Fabrik zurück gebracht und dort mit neuem Brennstoff versehen wird.
Das Unternehmen hat eine weitere Anwendung im Blick: Schiffsantriebe. Ein Konsortium der Strategic Research Group von Lloyd´s Register, Hyperion Inc., dem britischen Entwickler BMT Nigel Gee und dem griechischen Schiffsbetreiber Enterprises Shipping and Trading SA will den HPM als Antrieb großer Schiffe, speziell Großtanker, voranbringen.
Lloyd´s R. Sadler: „...wir werden nukleare Schiffe auf bestimmten Handelsrouten früher sehen, als viele derzeit annehmen.“
SSTAR (Japan)
Dieser bleigekühlte schnelle Reaktor wird von Toshiba u.a. entwickelt. Er wird bei
566o C betrieben, besitzt einen integrierten Dampferzeuger und soll unterirdisch installiert werden. Wirkungsgrad 44%. Nach 20 Betriebsjahren ohne neuen Brennstoff wird der komplette Reaktor zum Brennstoff-Recycling abgeholt. Der Kern ist 1 m hoch und hat 1,2 m Durchmesser (20 MWel –Version).
SVBR-100 (Russland)
Der Blei-Wismut-gekühlte schnelle Reaktor SVBR mit 75-100 MWel und
400 – 495 oC wurde von Gidropress entwickelt. Bei seinem integrierten Design sitzt der Dampfgenerator im gleichen Behälter wie der Kern. Der Reaktor würde in der Fabrik gefertigt und dann mit 4,5 m Durchmesser und 7,5 m Höhe in einem Wassertank installiert, der passive Wärmeabfuhr und Abschirmung bietet. Der Reaktor der Alfa-Klasse U-Boote (s.o.), war bereits im Wesentlichen ein SVBR.
Ende 2009 wurde AKME-Engineering gegründet, um eine Pilotanlage des SVBR zu entwickeln und zu bauen. Das Design soll 2017 komplettiert sein und 2020 soll der 100 MWel-SVBR in Dimitrowgrad ans Netz gehen. Nach den gleichen Designprinzipien ist ein SVBR-10 mit 12 MWel geplant.
4S (Japan)
Toshiba und das Central Research Institute of Electric Power Industry (CRIEP) entwickeln zusammen mit SSTAR Work und Westinghouse (ein Toshiba-Unternehmen) den Super-Safe, Small & Simple (4S) Natrium-gekühlten schnellen Reaktor – der auch als „nukleares Batteriesystem“ bezeichnet wird. Der 4S besitzt passive Sicherheitseigenschaften. Betriebstemperatur 550oC. Die Einheit wird in der Fabrik gebaut, zum Standort gebracht und unterirdisch eingebaut. Sie soll 3 Dekaden ohne neue Brennstoffzufuhr kontinuierlich laufen. Eine 10 MWel –Version (0,68 m Kerndurchmesser, 2 m Höhe) und eine 50 MWel –Version (1,2 m Kerndurchmesser, 2,5 m Höhe) sind geplant.
Nach 30 Betriebsjahren wird 1 Jahr zur Abkühlung des Brennstoffs abgewartet.
Aufgabe: Stromerzeugung und elektrolytische Wasserstofferzeugung. Ein erster Standort wird Galena/Alaska sein.
Der L-4S ist eine Blei-Wismut-gekühlte Version des 4S-Designs.
EHNS (USA)
Die „Encapsulated Nuclear Heat Source“ EHNS ist ein 50 MWel Flüssigmetall-gekühlter Reaktor, der von der University of California, Berkeley, entwickelt wird. Ein Sekundär-Kühlkreis liefert die Wärme an 8 separate, nicht verbundene Dampfgeneratoren. Außerhalb des Sekundär-Pools ist die Anlage luftgekühlt. Der Reaktor sitzt in einem 17 m tiefen Silo. Der Brennstoffvorrat soll 15 – 20 Jahre reichen. Danach wird das Modul abtransportiert und durch ein neu aufgefülltes ersetzt. Die ENHS ist für Entwicklungsländer entworfen und ist Proliferations-sicher (Weiterverbreitung von nuklearem Material). Die Kommerzialisierung ist noch entfernt.
4. Gasgekühlte Hochtemperatur- Kleinreaktoren
HTR-10 (China)
Chinas HTR-10 ist ein 10 MWth experimenteller gasgekühlter Hochtemperaturreaktor am Institute of Nuclear & New Energy Technology (INET) an der Tsinghua Universität nördlich Pekings. Vorbild war der deutsche HTR bzw. AVR. Er erreichte 2003 volle Leistung. Der Brennstoff ist ein „Kugelbett“ (27.000 Elemente). Betriebstemperatur 700oC. Im Jahre 2004 erfolgte ein extremer Sicherheitstest, in dem der Umlauf des Kühlmittels Helium unterbrochen wurde, ohne den Reaktor abzuschalten. Bedingt durch die Physik des Brennstoffs ging die Kettenreaktion zurück und endete nach 3 Stunden. Ein Gleichgewicht zwischen der Kernwärme und der Wärmeableitung durch den Stahlreaktor wurde dabei erreicht und die Temperatur überstieg niemals sichere 1600oC.
Beim HTR-Versuchsreaktor AVR (Jülich) hatte man schon viel früher den gleichen Test zwei Mal erfolgreich durchgeführt.
Adams Engine (USA)
Adams Atomic Engines´ 10 MWel HTR-Konzept besteht aus einem einfachen Brayton-Zyklus (Gasturbine) mit Niederdruck-Stickstoff als Kühl- und Arbeitsgas sowie Grafitmoderation. Der Reaktorkern ist ein festes, ringförmiges Bett mit ca. 80.000 Brennstoffelementen. Die Ausgangstemperatur des Kerns ist 800oC. Eine Demo-Anlage soll 2018 fertig gestellt sein.
MTSPNR (Russland)
Der kleine Hochtemperaturreaktor MTSPNR wird vom N.A. Dolezal Forschungs- und Entwicklungsinstitut (NIKIET) entwickelt. Es ist ein modularer, transportabler, luftgekühlter HTR kleiner Leistung mit geschlossenem Gasturbinen-Kreislauf für die Wärme- und Stromversorgung entlegener Regionen. Eine 2-Reaktoren-Einheit liefert 2 MWel ; sie ist für eine Laufzeit von 25 Jahren ohne weitere Brennstoffergänzung vorgesehen. Ein Vorläufer-Gerät war der von Sosny gebaute Pamir-630D von 1976-1986, ein 300-600 kW HTR, auf LKW montiert.
Neue Entwicklungen für Reaktoren mittlerer Leistung
Zwischen den konventionellen nuklearen Großkraftwerken und den Kleinreaktoren wird es natürlich keine Lücke geben. Kernkraftwerke mit Leistungen zwischen 100 und 300 MWel werden von vielen Betreibern gewünscht.
Bei diesen Mittelkraftwerken wird es einen Unterschied zu den einzeln einzusetzenden Kleinreaktoren geben:
- Man setzt überwiegend auf thermische Leicht- und Schwerwasserreaktoren.
Man bevorzugt aber gleichfalls eine Modulbauweise, die hier nicht nur der rationellen Fertigung gilt, sondern bei der ein größeres Kraftwerk dadurch gebaut werden kann, daß es nicht mehr mit nur einem großen Reaktor, sondern mit mehreren kleineren Reaktormodulen ausgerüstet wird. Diese werden in Fabriken installationsfertig und transportabel in Serienfertigung hergestellt.
Die oben beschriebenen Typen mPower, NuScale, Holtec und SMART erfüllen diese Anforderungen.
Weiterhin gehören u.a. folgende Entwicklungen zu dieser Leistungsklasse:
- IRIS (USA): Modularer 100-335 MWel –Druckwasserreaktor; Westinghouse;
- VBER-300 (Russland): 295-325 MWel –Leichtwasserreaktor; Fa. OKBM; sowie der VK-300 mit 150 MWel .
- AHWR (Indien): 284 MWel –Schwerwasserreaktor; Thoriumbrennstoff;
- HTR-PM (China): 105 MWel – Hochtemperaturreaktor; Demo-Kraftwerk in Shidaowan (2x105 MWel );
- PRISM (USA/Japan): 311 MWel – Schneller Flüssigmetall-gekühlter Reaktor; General Electric – Hitachi.
Über die umfangreichen internationalen Entwicklungsarbeiten an großen Reaktoren der 3. Und 4. Generation kann hier aus Platzgründen nicht detailliert berichtet werden. Einige dieser Typen wurden eingangs erwähnt.
Eine Frage bleibt: Warum nicht gleich so ?
Spätestens nachdem sich der Leser bis hierher durchgekämpft hat, drängt sich ihm vermutlich die Frage auf: Wenn sich die Entwickler der Kernreaktoren logischerweise und gänzlich unvermeidlich Schritt für Schritt, beginnend mit Reaktoren kleiner Leistungen, zu den imponierenden Anlagen der 1000-MWel –Klasse hochgearbeitet haben – wieso hat es bei den Energieversorgern als Käufer niemals eine Rolle gespielt, daß sehr große Leichtwasserreaktoren (LWR) trotz ihrer tief gestaffelten, aufwendigen Sicherheitseinrichtungen prinzipiell zu einem Kernschmelze-Unfall fähig sind ? Und Kleinreaktoren eben nicht.
Und wo hätte die Leistungsgrenze gelegen, unterhalb derer ein derartiger Unfall aus physikalischen Gründen unmöglich ist ?
Die Antwort gab meinem Kollegen Rainer Six und mir Professor Dr.-Ing. Kurt Kugeler, der ehemalige Direktor des Instituts für Reaktorsicherheit und –technik an der RWTH Aachen, in einem Gespräch im Jahre 1996:
Bis zu einer Leistungsgrenze von 200 MWel würde die nach dem Abschalten eines Leichtwasserreaktors (LWR) noch entstehende Nachwärme der zerfallenden kurzlebigen Isotope auch bei einem völligen Ausfall der Kühlung – auch der Notkühlung - sicher abgeleitet. Bei Überschreitung der Schmelztemperatur der Brennstab-Hüllrohre von ca. 1.900 oC würden die heißen Brennstoffpellets freigesetzt. Diese für eine Kernschmelze notwendige Temperatur würde aber bei diesem kleineren Reaktor auf keinen Fall mehr erreicht; der Reaktor kühlt dann im Laufe einiger Wochen ab. Laut Prof. Kugeler könnte man diese sichere Leistungsgrenze noch durch eine Änderung der Kerngeometrie – z.B. ein Torus an Stelle einer zylindrischen Form – weiter bis auf ca. 300 MWel erhöhen. Der einzige Preis für diese Konstruktion, die einen schweren Unfall absolut ausschließen würde, wäre eine durchaus erträgliche Kostenerhöhung pro Kilowattstunde.
Das Institut von Prof. Kugeler hatte bereits 1968 vorgeschlagen, einen solchen nicht zur Kernschmelze fähigen Reaktor zu bauen, und zwar unterirdisch, und darüber einen größeren Erdhügel zu errichten. Diese Tatsachen und dieser Vorschlag waren somit vor dem Beginn der Entwicklung und des Baus von Kernkraftwerken in Deutschland allen Fachleuten und auch den potenziellen Betreibern, den EVU, wohl bekannt.
Weshalb hat man dann derartige Kernreaktoren nicht entwickelt und gebaut ?
Kugelers Antwort war resignierend: Niemand interessierte diese im Grunde fundamentale Sicherheitsfrage. Man wollte nur eine möglichst große Leistung – allein aus Kostengründen.
So wurde die Entwicklung mittelgroßer und kleiner Kernreaktoren einfach ausgelassen und gleich der Schritt zu sehr großen Blöcken getan – mit der Konsequenz, daß diese leichtfertig ignorierte Achillesferse der großen LWR speziell in der deutschen Politik eine immer größere Rolle spielte, bis schließlich Frau Merkel die Gelegenheit des Fukushima-Unfalls benutzte, um dieses politisch unangenehme Thema loszuwerden.
Man kann nun seine Phantasie spielen lassen und sich vorstellen, wie es in Deutschland weitergegangen wäre, wenn die Industrie und die Betreiber rechtzeitig mehr über ihre Verantwortung nachgedacht hätten, wie es ihre Pflicht gewesen wäre. Und von vornherein ausschließlich inhärent sichere LWR der mittleren Leistungsklasse, wie sie jetzt das Ausland entwickelt, gebaut hätten. Die Modulbauweise, über die oben berichtet wurde, wäre bereits damals die logische Konsequenz für den Bau von ebenfalls inhärent sicheren, aus vielen derartigen Einheiten bestehenden Großkraftwerken gewesen.
Deutschland hätte Maßstäbe gesetzt und zumindest im eigenen Lande wären Reaktorkatastrophen nicht nur praktisch, sondern physikalisch unmöglich gewesen. Nur das Endlager-Problem, das inzwischen einer Lösung durch die schnellen Reaktoren entgegen geht, wäre damals übrig geblieben.
Hätte es dann jemals eine bemerkbare Anti-Atomkraft-Bewegung gegeben ?
Wären die Grünen immer noch eine Splitterpartei ?
Hätten wir dann heute einen höheren Kernkraftstrom-Anteil als Frankreich ?
Wären die deutschen modularen Kernkraftwerke heute ein Exportschlager ?
Es bleibt nur die Schlußfolgerung, daß die Industrie bereits zu Beginn der Entwicklungsarbeiten in Ignoranz und Kurzsichtigkeit den späteren Untergang der friedlichen Nutzung der Kernkraft in Deutschland selbst vorprogrammiert hat.
Das Ausland führt uns jetzt vor, wie die Entwicklung der Kernkraftnutzung erfolgreich weitergehen wird – und eigentlich wäre jetzt der Zeitpunkt gekommen, auch in
Deutschland in die Entwicklung der inhärent sicheren Kernreaktoren einzusteigen und den Ausstieg aus den großen Reaktorblöcken mit dem Einstieg in kleine und mittlere nukleare Heizkraftwerke zu verbinden.
. Den inhärent sicheren HTR haben die Deutschen schließlich erfunden und gebaut – er funktionierte perfekt – und wurde dann politisch stillgelegt.
Aber die Geschichte läßt sich nicht zurück drehen. Alle anderen die Kernkraft nutzenden Länder sowie viele Schwellenländer werden die rationelle Einstiegsmöglichkeit in die kleinen, sicheren, wartungsarmen KKW der 3. und 4. Generation ergreifen. Die Vorteile sind zu überzeugend.
Deutschland hingegen wird vermutlich noch lange viel Lehrgeld für den fundamentalen sicherheitstechnischen Konstruktionsfehler seiner Kernkraftwerke und die daraus erwachsenen politischen Konsequenzen bezahlen und sich mit Atomstromimporten, Kohlekraftwerken sowie wetterabhängigem Windstrom herumschlagen.
Ein deutlicher Anstieg der Strompreise ist mit dem gewaltigen Ausbau des Höchstspannungsnetzes für den Nord-Süd-Windstromtransport, mit dem weiteren Ausbau der Windkraft und der Photovoltaik und ihrer Kostenüberwälzung gemäß EEG auf die Verbraucher, mit den teuren Stromimporten und der durch den Wegfall deutschen Kernkraft-Grundlaststroms steigenden Preise an den Strombörsen unabwendbar geworden.
Wie lange das die Wirtschaft und die Bürger aushalten, läßt sich nicht vorhersagen.
Aber sobald sie schmerzhaft spüren, in welchem Ausmaße sie durch die sog. Energiewende belastet werden, wird es für die Regierung schwierig. Auch für eine rot-grüne. In der Tradition der deutschen Energiepolitik käme dann eine neue Energiewende.
Dr. Ing. Günter Keil arbeitete bis zu seiner Pensionierung 2002 in leitender Funktion im Bundesforschungsministerium