Auf der Ebene der strategischen Atomwaffen und der Interkontinentalraketen herrscht weiterhin das Gleichgewicht des Schreckens. Anders sieht es bei den „taktischen" Atomwaffen aus. Da steht es für Russland 10 zu 1. Was bedeutet das?
Die Sorge über eine mögliche Eskalation zu einem Konflikt zwischen der NATO und Russland, der mit nuklearen Waffen ausgetragen wird, überwölbt die politischen Lager. Der frühere britische Verteidigungsminister in der Labour-Regierung von Gordon Brown, Des Browne, kommentierte, die Situation könne „schnell eskalieren, durch einen Unfall oder Fehlkalkulation.“ Die Expertin für Nuklear-Strategien, Patty-Jane Geller, von der konservativen amerikanischen Heritage Foundation erklärte: „Der Konflikt in der Ukraine zeigt, dass das Szenario der nuklearen Eskalation, das wir alle fürchten, nicht außer Sicht ist.“
Der frühere US-Botschafter Richard Burt, der mit der Sowjetunion die Rüstungskontrollen verhandelt hat, fürchtet, dass die Nähe von US-, NATO-, und russischen Streitkräften die Situation verschärft. Neben der Zunahme des militärischen Luftverkehrs gibt es verstärkte Aktivitäten von mit Nuklearwaffen ausgerüsteten Schiffen im Schwarzen Meer, im Mittelmeer und in der Ostsee. Kompliziert wird die Lage, weil viele der Trägersysteme, ob zur See, in der Luft oder am Boden sowohl konventionell als auch nuklear genutzt werden können. Ob ein konventionelles Geschütz, Flugzeug oder Schiff Nuklearwaffen trägt, lässt sich erst feststellen, wenn diese sie einsetzen.
In der „Financial Times“ kommt Jeremy Shapiro, Forschungsdirektor am „European Council of Foreign Relations“, zu der Einschätzung, eine nukleare Eskalation sei nach wie vor eher unwahrscheinlich, besäße aber jetzt eine größere Wahrscheinlichkeit, als es zu Beginn der 1980er Jahre der Fall war, also zur Zeit der Nachrüstung, als in Deutschland Hunderttausende gegen die Stationierung von US-Raketen auf die Straße gingen. Das ergibt sich daraus, dass wir heute, anders als im Kalten Krieg, nicht in einer Welt klar abgegrenzter Interessensphären leben, sondern Staaten schnell von einem „Lager“ in das andere wechseln können, wie zum Beispiel die Ukraine durch die „Orangene Revolution“.
Taktische Atomwaffen für den „kleinen Krieg“
Zum anderen ergibt es sich daraus, dass die NATO und Russland unterschiedliche militärische Stärken und Schwächen haben, die in einem Konflikt eine besondere Dynamik auslösen können. Auf der Ebene der strategischen Atomwaffen und der Interkontinentalraketen herrscht weiterhin das Gleichgewicht des Schreckens. Keine Seite kann angreifen, ohne sich selbst auszulöschen. Auf der konventionellen Ebene ist Russland den USA und der NATO weit unterlegen. Auf der dazwischen liegenden Ebene der taktischen Atomwaffen allerdings besitzt Russland ein Übergewicht von 10:1. Die Russen verfügen über 2.000 taktische Nuklearwaffen, die Amerikaner hingegen nur über 200, von denen sich hundert in Europa, der Rest in den Vereinigten Staaten befinden.
Was sind taktische Atomwaffen? Ihr Ziel liegt, wenigstens theoretisch, nicht in der totalen Vernichtung, sondern darin, Funktionen konventioneller Waffensysteme einzunehmen. Statt Bomberstaffeln und Artilleriegeschützen wird in einem solchen Szenario ein gezielter Atomschlag benutzt, um Panzerverbände, Flughäfen und Militärbasen zu zerstören. Dafür sind Nuklearköpfe mit kürzerer Reichweite und geringer Zerstörung nötig. Politisch relevant ist, dass sich die USA und Russland von ihrem jeweiligen Territorium aus mit taktischen Atomwaffen nicht gegenseitig erreichen können. Während des Kalten Krieges spielten taktische Atomwaffen deshalb in Szenarien für einen auf Mitteleuropa beschränkten Atomkrieg eine große Rolle.
Diese Idee eines begrenzten Einsatzes von Atomwaffen ist auch Teil der russischen Planungen für eine mögliche Konfrontation mit der NATO in Europa. Der amerikanische Militärexperte Brent M. Eastwood kommt im Hinblick auf die Überzahl taktischer Nuklearwaffen der Russen zu dem Ergebnis, dass Moskau klare Vorteile gegenüber den USA und der NATO habe. Seine Einschätzung wird vom Pentagon geteilt. Das US-Verteidigungsministerium stellte im Jahr 2018 fest: „Russland modernisiert seinen aktiven Vorrat an nicht-strategischen Atomwaffen, einschließlich jener, die von Schiffen, Flugzeugen und vom Boden aus eingesetzt werden können.“ Weiter heißt es: Russland besitze „signifikante Vorteile“ im Bereich der taktischen Atomwaffen gegenüber den USA und ihren Alliierten.
Russisches Erpressungspotenzial
Die NATO weist gegenüber Russland also eine „Raketenlücke“ auf. Was ist eine Raketenlücke? Hinter dem Begriff steht die Überlegung, dass bei Parität bei den strategischen Atomwaffen, den Interkontinentalraketen, die nicht-strategischen, die taktischen Atomwaffen zu einem entscheidenden Faktor in einem auf den europäischen Kontinent begrenzten Krieg werden könnten. Wenn eine Seite in diesem Bereich eine Überlegenheit über die andere gewinnt, kann sie sich dazu verleiten lassen, für einen schwelenden Konflikt eine militärische Lösung zu suchen. Wenigstens schafft eine Raketenlücke ein erhebliches Erpressungspotenzial für die Seite mit der größeren Zahl taktischer Atomwaffen.
Auf eine solche Raketenlücke im Bereich der Mittelstreckenraketen wies 1977 etwa Bundeskanzler Helmut Schmidt in seiner berühmt gewordenen Rede vor dem „Internationalen Institut für Strategische Studien“ in London hin. Schmidt bewirkte den NATO-Doppelbeschluss, um die durch die Aufstellung der sowjetischen SS-20-Raketen drohende Raketenlücke der NATO zu schließen, was schließlich auch gelang und zu Abrüstungsgesprächen führte. Die Nachrüstung führte allerdings auch dazu, dass Schmidt den Rückhalt der SPD verlor, und sie löste die größten Massenproteste in der Geschichte der Bundesrepublik aus, so dass später eine solche Nachrüstung nie wieder zur Debatte stand. Ein Umstand, den die russischen Militärstrategen in den letzten zehn Jahren für sich genutzt haben.
Während diese Lehre aus dem sogenannten „zweiten Kalten Krieg“ zwischen 1975 und 1985 im Westen weitgehend vergessen oder nie gezogen wurde und die Angst vor dem Atomkrieg der Angst vor der Klimakatastrophe gewichen ist, hält das in der letzten heißen Phase des Wettrüstens sozialisierte KGB-Netzwerk um Wladimir Putin an den Lehren dieser Zeit fest. Zu diesen gehört, dass taktische Atomwaffen ein starker politischer Trumpf sein können. Der frühere FSB-Chef Nikolai Patruschew, der in Catherine Beltons Buch über „Putins Netz“ als das ruchlose Mastermind hinter Wladimir Putin erscheint, hat bereits im Jahr 2009 Putin dazu geraten, eine mögliche Intervention der NATO mit einem nuklearen taktischen Präventivschlag zu beantworten, um die überlegenen konventionellen Truppen abzuwehren.
Auf jeder Stufe die Chance zur Kapitulation
Daraus hat sich eine neue russische Militär-Doktrin entwickelt, die dem paradoxen Prinzip „Eskalieren, um zu deeskalieren“ folgt. Nach der russischen Militärdoktrin geht es bei dem Einsatz taktischer Atomwaffen um eine stufenweise Eskalation, die auf jeder Stufe dem Feind die „Chance“ gibt, zu kapitulieren. An der ersten Stelle steht die Androhung des Einsatzes. Das geschieht unter der Annahme, dass bereits die Drohung den Feind verhandlungsbereit macht. Im zweiten Schritt der Eskalationsphase wird ein mittelgroßes Ziel zerstört, um die Verhandlungsbereitschaft durch den „Schock“ zu erreichen. Mit der 10:1-Überlegenheit hat Putins Rüstungspolitik damit das Erpressungspotenzial erreicht, das Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Ronald Reagan und Margaret Thatcher mit der Nachrüstung unbedingt verhindern wollten.
Dabei kombiniert Russland kostensparend zum Teil alte Sowjet-Technik mit neuen taktischen Atomwaffen: Die 2S7 ist ein Anfang der 70er Jahre in der Sowjetunion entwickeltes, 46 Tonnen schweres Geschütz mit einer Reichweite von 37 Kilometern. Eine von den Russen im Jahr 2015 eingeführte modernisierte Version dieses eigentlich konventionellen Artilleriegeschützes erreicht sogar eine Reichweite von 55 Kilometern. Offiziell besitzt Russland 60 alte und 12 neue Versionen des Artilleriegeschützes. Das Artilleriegeschütz vermag Nuklearsprengköpfe mit der Explosionskraft von einer Kilotonne TNT abzuschießen. Im Vergleich dazu besaß die Hiroshima-Bombe die Sprengkraft von 13 Kilotonnen TNT. General Sir Richard Barrons, der bis zum Jahr 2016 im britischen Generalstab diente, kommt zu der Schlussfolgerung: „Wenn Putin über nukleare Optionen redet, dann mag er etwas wie das im Sinn haben.“
Diese Schlussfolgerung liegt nahe, weil der Einsatz von Nuklearsprengköpfen dieser Größe einen Krieg am Boden entscheiden kann, ohne aber direkt eine Antwort mit Interkontinentalraketen zu provozieren. Die nächst höhere Eskalationsstufe wäre „absolut zerstörerisch“. Sie umfasst etwa den Einsatz des Iskander-Raketensystems, das eine Reichweite von 500 Kilometern besitzt und Nuklearsprengköpfe mit einer Sprengkraft zwischen 5 und 50 Kilotonnen verschießen kann. Die Zahl der Brigaden mit dem Iskander-Raketensystem wird mit 12 angegeben, wobei eine Brigade aus 51 Fahrzeugen besteht, davon 12 Startfahrzeuge. Eine wichtige Frage im Zusammenhang mit einer möglichen Konfrontation zwischen NATO und Russland ist, wie viele davon im Bereich von Kaliningrad (Königsberg) aufgestellt sind.
Etwa die Hälfte der taktischen Atomwaffen Russlands befindet sich auf Schiffen, Korvetten, Fregatten und U-Booten der russischen Kriegsmarine, die den europäischen Kontinent umfahren. Die Reichweite dieser seebasierten taktischen Atomwaffen liegt zwischen 500 und 1.500 Kilometern. Sie können damit den größten Teil Europas erreichen. Zu dem Arsenal der Marine gehören auch mit Nuklearsprengköpfen bestückte Torpedos. Für Aufmerksamkeit sorgten etwa die in den letzten Jahren entwickelten sogenannten Poseidon-Wasserdrohnen, die mit einer Geschwindigkeit von 100 km/h Nuklearsprengköpfe unterschiedlicher Sprengkraft zu Marinestützpunkten und Küstengebieten transportieren sollen, um mit der Explosion einen „Tsunami“ auszulösen.
Es ist auch im Kalten Krieg gutgegangen
Wenn man Putins übertriebene Super-Waffen-Rhetorik beiseite lässt, dann wird ein sehr einfaches, primitives Prinzip der russischen Rüstung deutlich: Was es an konventionellen Waffensystemen gibt, ist in den letzten Jahren auch mit nuklearen Sprengköpfen bestückt worden. Damit haben die russischen Militärstrategen Adenauers fragwürdige Analogie, taktische Atomwaffen seien lediglich eine „Weiterentwicklung der Artillerie“, nur allzu wörtlich genommen. Das erhöht das Risiko eines „Unfalls“ und einer unbedachten Handlung bei einem möglichen „konventionellen“ Zusammenstoß zwischen russischen und NATO-Truppen erheblich. Dieser Umstand verlangt von den Verantwortlichen einen sehr kühlen Kopf. Entscheidend wird es darauf ankommen, jetzt die Nerven zu behalten.
Die Welt hat die Kuba-Raketen-Krise überlebt, und es ist sehr wahrscheinlich, dass auch jetzt eine nukleare Eskalation vermieden werden kann. Das größte Risiko ist ein Domino-Effekt, bei dem ein Vorfall eine immer höhere Eskalationsstufe auslöst und dann nur noch schwer zu stoppen ist. Beide Seiten, die NATO und Russland, stehen vor der Herausforderung, „Unfälle“ zu vermeiden und rote Linien nicht zu überschreiten: Sie müssen das Maß an Selbstkontrolle und Disziplin aufbringen wie die USA und die Sowjetunion im Kalten Krieg. Die Lage lässt sich mit einem anderen Wort von Konrad Adenauer zusammenfassen: „Die Lage war noch nie so ernst“, aber sie ist nicht hoffnungslos.