Was jeder Student der Statistik oder Wirtschaftswissenschaften im ersten Semester lernt, bleibt den Redakteuren der Tagesschau ein großes Geheimnis: dass man das Phänomen der Armut niemals am mittleren Einkommen einer Gesellschaft festmachen darf.
Denn wenn man das verdoppelt, bleibt die Armutsquote, definiert als Prozentsatz aller Menschen unterhalb eines gewissen Prozentsatzes des Durchschnitts – aktuell 60 Prozent, warum, weiß nur der liebe Gott allein –, trotzdem immer gleich. Laut Tagesschau vom 19.9.2022 beträgt dieser für Kinder und Jugendliche derzeit 20,8 Prozent. Und sie bliebe auch bei 20,8 Prozent, wenn die OPEC oder der Sultan von Brunei an das Einkommen aller Bundesbürger eine null dranhängte.
Am Tag darauf schloss sich fast die gesamte deutsche Medienlandschaft dieser Jeremiade an. Nicht ohne zu betonen, dass hier neue Höchststände erreicht worden seien (was nicht stimmt, die Quote liegt konstruktionsbedingt seit Jahren bei 20 Prozent plus/minus einem Prozentpunkt und liegt aktuell statistisch nicht unterscheidbar leicht höher als letztes Jahr).
Diese geradezu unglaubliche und auch durch mehrfache sachliche Richtigstellung, etwa durch die Unstatistik des Monats, nicht zu korrigierende Dürftigkeit der Armutsberichterstattung in den deutschen Medien missachtet völlig die von mehreren Nobelpreisträgern der Wirtschaftswissenschaften herausgearbeiteten Kriterien, nach denen ein Mensch als arm zu gelten hat (und die durchaus über das materielle Existenzminimum hinausgehen): Teilhabe am sozialen Leben etwa, sich ohne zu schämen in der Öffentlichkeit bewegen zu können, keine Angst vor Sklaverei und Unterdrückung. Und im Licht der aktuellen Heizprobleme: im Winter nicht zu frieren. Ein Defizit in einer dieser Lebenssphären macht dann jemand arm. Oder, wie das der unvergleichliche Adam Smith schon 1776 in seinem Klassiker „An Inquiry into the Nature an the Causes of the Wealth of Nations“ formulierte:
„Unter lebenswichtigen Gütern verstehe ich nicht nur solche, die unerlässlich zum Erhalt des Lebens sind, sondern auch Dinge, ohne die achtbaren Leuten, selbst der untersten Schicht, ein Auskommen nach den Gewohnheiten des Landes nicht zugemutet werden sollte. Ein Leinenhemd ist beispielsweise, genau genommen, nicht unbedingt zum Leben nötig, Griechen und Römer lebten, wie ich glaube, sehr bequem und behaglich, obwohl sie Leinen noch nicht kannten. Doch heutzutage würde sich weithin in Europa jeder achtbare Tagelöhner schämen, wenn er in der Öffentlichkeit ohne Leinenhemd erscheinen müsste.“
Auf einmal arm, nur weil ein Krösus neu in die Gemeinde zieht...
Das Leinenhemd von Adam Smith ist heute vielleicht ein Smartphone oder – für Jugendliche – eine Play-Station, aber die zentrale Aussage bleibt: Ob jemand arm ist oder nicht, hängt nicht vom Einkommen der anderen ab. Denn dann wird man unter Umständen auf einmal arm, nur weil ein Krösus neu in die Gemeinde zieht: Das mittlere Einkommen nimmt zu und ehe man bis drei zählt, liegt man unter 60 Prozent des Durchschnitts.
Den gröbsten Unfug kann man zwar durch Wahl des Medians – der Wert, der in der Mitte liegt – anstatt des arithmetischen Mittels als Durchschnittsgröße verhindern, aber das zentrale Dilemma bleibt: Auch wenn es allen besser geht, bleibt die Zahl der Armen immer gleich. Wie bei einem Schiff in einer Schleuse, wo der Teil unterhalb der Wasserlinie alias die Armutsquote immer der gleiche bleibt, ganz gleich wie hoch das Wasser in der Schleuse alias der Wohlstand steigt, ist die Armut hier in die Statistik automatisch eingebaut.
Anders als die deutsche Medienlandschaft hat die deutsche Sozialgerichtsbarkeit dieses Dilemma durchaus erkannt und baut seit langem die korrekten Kriterien in ihre Urteile zu Sozialhilfeansprüchen ein. Ich erinnere mich an einen Fall aus den neunziger Jahren, da wollte ein Kläger die Kosten für einen Fernseher übernommen haben. Denn ohne einen Fernseher wäre ihm eine Teilnahme am sozialen Leben verwehrt. Diesen Anspruch erkannte das Gericht an, fügte aber hinzu, dafür genüge ein Schwarzweiß-Fernseher.
Heute ist daraus vielleicht ein funktionierender Zugang zum Internet geworden. Der Punkt ist, man kann sich durchaus auf Kriterien einigen, die für ein Entkommen aus der Armut unerlässlich sind. Aber diese Kriterien haben mit einem bestimmten Prozentsatz vom Durchschnittseinkommen nicht das Allergeringste zu tun.
Ein weiteres statisches Defizit der Armutberichterstattung speziell für Kinder und Jugendliche ist das geistlose Festmachen von Armut am Einkommen der Eltern. Selbst wenn man den Abstand des Familieneinkommens von 60 Prozent des Durchschnitts als Armutskriterium begründen könnte, hat das mit der Armut der Kinder allenfalls indirekt zu tun. Jeder Beobachter mit einem Minimum an Welterfahrung kennt wohlhabende Familien mit verwahrlosten Kindern wie auch Familien unterhalb der offiziellen Armutsgrenze, deren Kinder behütet und glücklich aufwachsen. Wann hört dieser Unfug mit der medialen Armutsberichterstattung endlich auf?