ARD-Terror: Die Obsession mit dem Ausnahmezustand ist undemokratisch

Ja, ich gebe es zu: Ich habe den Film „Terror – Ihr Urteil“ nicht gesehen. Ich hatte keine Lust. Ich fand den Hype um die ganze Sache auch ziemlich daneben. Da war eine Sendung im Fernsehen, bei der die Leute abstimmen durften. Das passiert beim „Dschungelcamp“ und beim „Eurovision Song Contest“ auch, ohne dass wir uns plötzlich alle menschlich und philosophisch-demokratisch ernstgenommen und aufgewertet fühlen.

Auf Gemeinschaftsgefühle, weil wir alle denselben Mist glotzen, kann ich verzichten. In den 1970er-Jahren kam es laufend vor, dass sich die Nation um den nur aus zwei Kanälen bestehenden „Lagerfeuer-Ersatz“ in den heimischen Wohnzimmern versammelte und sich dann am nächsten Morgen kollektiv austauschen konnte. Es ist zwar so (und schlimm genug), dass wir alle das öffentlich-rechtliche Fernsehen finanzieren, ob wir es nun konsumieren oder nicht. Aber einen Konsumzwang kann man daraus nicht ableiten! Wir müssen nicht über jedes Stöckchen springen, das uns hingehalten wird. Ganz abgesehen davon: So relevant war das Thema nun auch wieder nicht.

Tatsächlich ist die Frage, ob die Mehrheit der deutschen Fernsehzuschauer den Soldaten, der in dem Film 164 Flugzeuginsassen opfert, um 70.000 Menschen in einem Stadion zu retten, schuldig findet oder nicht, nicht wirklich relevant. Gestatten Sie mir eine Gegenfrage: Angenommen, Sie hätten zwei Kinder, beide würden entführt und der Entführer sagt Ihnen, eines Ihrer beiden Kinder müsse sterben, damit das andere überlebt. Welche Entscheidung würden Sie fällen? Und wie wichtig wäre Ihnen dabei das Votum Ihrer Mitmenschen?

Das ganze Theater um „Terror“ hat mit einer demokratischen Debattenkultur nichts zu tun

Natürlich können Sie auch diese Situation als abwegig abtun. Wir können alternativ auch die Frage stellen, ob Sie damit einverstanden wären, einem dem Tode geweiht Patienten gegen dessen Willen Organe zu entnehmen, um sie jüngeren, hoffnungsvolleren Menschen einzupflanzen. Oder wir reden über Kinder, die in Ost-Aleppo von Trümmern erschlagen oder aufgedunsen in der Ägäis angeschwemmt werden. Im Vergleich zu dem im Film „Terror“ konstruierten Dilemma sind diese Szenarien weitaus realistischer. Und natürlich würde die man Ihre Entscheidung im Entführungsdilemma moralisch bewerten. Aber was würde man dabei über Sie tatsächlich erfahren? Nicht viel. Wahrscheinlich erführe man mehr über die nachfragende Gesellschaft als über Sie.

Das ganze Theater um „Terror“ hat mit einer demokratischen Debattenkultur nichts zu tun. Vielmehr zeigt sich, wie katastrophen- und untergangsfixiert unsere Gesellschaft inzwischen ist. Alle möglichen und täglich wiederkehrenden Fragen, Probleme und Widersprüche unseres Lebens 1.0 blenden wir gekonnt aus, drücken uns um klare Standpunkte und wollen tatsächliche Entscheidungsmöglichkeiten nicht offen miteinander diskutieren. Aber dann sollen wir aus dem Bauch heraus Entscheidungen über Leben und Tod von fiktiven 164 oder 70000 Menschen mit schuldig oder nicht schuldig bewerten?! Offen gesagt ist das widerwärtig!

Wir brauchen keine öffentlich-rechtlichen Nachhilfestunden, um uns mit schwierigen rechtlichen und moralischen Fragen auseinanderzusetzen oder um in Abgründe zu schauen. Wir tun dies geradezu obsessiv und mehr oder minder die ganze Zeit: Unsere komplette Debattenkultur leidet unter der umfassenden Dramatisierung und der grotesken Zuspitzung in nahezu allen Themenbereichen! Hinter jedem langen Gewand, Bart oder Schleier, hinter jeder Deutschlandfahne oder jedem kahlgeschorenen Kopf, hinter jedem heißen Sommertag oder Asylantrag, hinter jedem Banker und jedem Bettler – überall lauert der sofortige und unabwendbare Untergang. Wir können ja die Welt kaum noch anders sehen als in Extremen, geschweige denn anders über sie debattieren als im Duelliermodus auf Leben und Tod. Abstufungen und Grautöne sind verkappte Dammbrüche und Rückzugsräume der Feinde, und die Gegner der Schwarz-Weiß-Sicht auf die Welt sind Kollaborateure der schwarzen Macht!

Unsere Obsession mit dem Ausnahmezustand

Unsere Obsession mit dem Ausnahmezustand kommt daher, dass wir verzweifelt versuchen, unser Verhalten wenigstens in Grenzfällen und an den tiefsten Abgründen klar zu regeln und abzusichern. Wir tun dies nicht, weil wir mutig robust und selbstbewusst die Gestade unseres Landes verteidigen wollen, sondern, weil wir verlernt haben, uns im Alltag darüber zu verständigen und gegenseitig zu vergewissern, was richtig und was falsch ist. Auf der verzweifelten Suche nach gesellschaftlicher Werte-Orientierung organisieren wir uns um konstruierte Ausnahmezustände – ganz gleich, wie unregulierbar diese auch sein mögen – und merken dabei gar nicht, dass gerade diese Blickrichtung unsere Kurzsichtigkeit weiter verschärft.

Für eine funktionierende Gesellschaft, in der Menschlichkeit, Selbstverantwortung und Toleranz eine zentrale Rolle spielen sollen, bieten das Extrem und der Abgrund keine Leitlinien, im Gegenteil: Wer beim Autofahren fortwährend ängstlich die Leitplanke fixiert, verliert das Gespür für die tatsächliche Breite der Fahrbahn, für die eigene Manövierfähigkeit und die eigene Sicherheit – und wird somit zum Verkehrsrisiko.

Matthias Heitmann ist freier Publizist und Autor des Buches „Zeitgeisterjagd. Auf Safari durch das Dickicht des modernen politischen Denkens“ (TvR Medienverlag, Jena 2015, 197 S., EUR 19,90). Im Dezember erscheint sein neues E-Book „Zeitgeisterjagd Spezial: Essays gegen enges Denken“. Informationen über seine Publikationen, Seminare und Vorträge finden sich unter www.zeitgeisterjagd.de.

Foto: Tim Maxeiner

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Leserpost

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Engelbert Gartner / 21.10.2016

Ich finde sowohl das Theaterstück wie auch den Film und die “Abstimmung” sehr interessant. Ein Beispiel für den Diskussionsbedarf unserer Gesellschaft.

Astrid Boers / 21.10.2016

Volksentscheide wären eine Alternative…

Gisela Müller / 21.10.2016

Das ist - Verzeihung - “Ablenkung, nun ja, sagen wir, auf “höherem Niveau”. Warum werden dem “Zuschauer, dem Bürger” nicht Fragen zu relevanten, alltäglichen, immanenten Themen gestellt? Warum stimmen wir nicht - natürlich nur im TV - darüber ab, wieviele weitere Migranten wir wollen? Was wir gegen deren offensichtliche Kriminalität tun können, müssen? Was wir gegen den Islam und all seine negativen Auswirkungen in unserem Land tun müssen? Was wir von der “selektiven” Berichterstattung der Mainstreammedien halten? Was wir davon halten, dass Frau BK Merkel anscheinend hier in unserem Land macht, was sie will, dass sie Gesetze bricht, die Bürger dieses Landes verkauft und verrät? Diese Diskussion mag einen rechtsimmanenten Bezug haben, aber sie ist zur Zeit völlig neben dem, was uns Deutsche wirklich beschäftigt, was unsere Zukunft, unser weiteres Leben bestimmen wird! Solche Sendungen sind derart hanebüchener Unsinn! Wir haben ganz andere Probleme. Und die werden wir nicht “lösen” mit solchen Diskussionen. Aber das ist wohl so beabsichtigt.

Oliver Förstl / 20.10.2016

Mit dieser Schattenfechterei will uns die ARD nur davon ablenken, dass wir immer weniger Einflußmöglichkeiten auf die Politik haben und wir von der Regierung und den öffentlich-rechtlichen Sendern fast nur noch als Ärgernis betrachtet werden. Es ist ein gefährliches Zeichen unser Zeit, dass den Bürgern Mitspracherecht nur noch bei einer Fiktion zugestanden wird.

Herbert Dietl / 20.10.2016

Wie würden Sie abstimmen: Einrichtung einer Flugverbindung von der Türkei und von Lybien nach Europa oder den illegalen Seeweg übers Mittelmeer?

JF Lupus / 20.10.2016

Ich finde sowohl das Theaterstück wie auch den Film und die “Abstimmung” völlig daneben. Ein Beispiel für die Perversion und Dekadenz unserer Gesellschaft.

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