Israels Kulturszene hadert mit der neuen Regierung, während der neue Hörfunkkorrespondent der ARD in Tel Aviv keine Sekunde damit hadert, dass er keine Ahnung von dem Land hat, in das er durch einen Losentscheid abkommandiert wurde.
Jeder deutsche Journalist, der nach Israel entsandt wird, bekommt eine Liste von Themen mit, die er dort abarbeiten muss. Ganz oben auf dieser Liste steht: „Wie Israels Regierung eine friedliche Lösung des Konflikts sabotiert, indem sie die Palästinenser so lange provoziert, bis diese die Geduld verlieren und ausrasten, was die israelische Regierung wiederum zum Anlass nimmt, die Lage weiter zu eskalieren.“ Gleich danach kommt der Evergreen: „Wie regierungskritische israelische Künstler von der Regierung abgestraft werden, die ihnen die Subventionen streicht, um sie gefügig zu machen.“ Dieses Thema geht immer, egal wer gerade regiert. Für diese Berichte muss es einen Entwurf geben, der nur aus der Schublade geholt und aktualisiert werden muss.
Der neue ARD-DLF-Hörfunk-Korrespondent in Tel Aviv, Jan-Christoph Kitzler, ist erst wenige Wochen im Land, hat sich aber bereits gut eingearbeitet. Ein Anschlag mit sieben Toten – nicht der erste seiner Art – wird von ihm dahingehend evaluiert, dass in der israelischen Regierung „rechtsextreme und ultrareligiöse Pyromanen“ sitzen die, „den israelischen Staat grundlegend umkrempeln und die Besatzung palästinensischer Gebiete immer weiter vorantreiben wollen – vor allem auch aus radikal jüdischen Motiven“. Sie nutzen die Gelegenheit, um „das Westjordanland de facto zu annektieren. Ihr Mittel der Wahl: freie Fahrt für alles, was jüdisch ist“.
Das ist mehr als eine Behauptung, es ist eine Anklage. In einem aktuellen Bericht – „Israels Kulturszene hadert mit der neuen Regierung“ – heißt es in der Anmoderation, die „kritische Kulturszene in Israel“ fürchte seit dem Amtsantritt von Netanyahu „stärker unter Druck zu geraten“, mit „kleinen, aber wirkungsvollen Maßnahmen“, z.B. „Auftrittserschwernissen“. Projekten, die sich kritisch mit der Besetzung im Westjordanland auseinandersetzen, werde „die Förderung entzogen“. Deswegen habe Jan-Christoph Kitzler Künstler und Darsteller getroffen, „die sich durchaus auch mit dem Gedanken tragen, das Land zu verlassen“.
Was das liberale Israel ausmacht
Es gibt von diesem Beitrag kein Transkript, dafür aber den kompletten O-Ton. Was wir darin über die Lage der Künstler und Darsteller erfahren, würde sogar Claudia Roth zu Tränen rühren. Regierungskritische Künstler klagen darüber, dass sie von der Regierung nicht genug gefördert werden. (Das ist in Deutschland natürlich ganz anders. Künstler und Darsteller, die sich kritisch mit der Corona-Politik der Bundesregierung auseinandergesetzt haben, werden von der Regierung gepampert und gefördert, vor allem aus dem Programm „Demokratie leben!“.)
Als ersten Zeugen für den Verlust der künstlerischen Freiheiten in Israel lässt Kollege Kitzler einen Künstler zu Wort kommen, der für „vieles steht, was das liberale Israel ausmacht, er ist homosexuell und Vater eines Kindes, seine Familie stammt aus dem Jemen und – er ist links“. Damit ist schon mal gesagt, welche Kriterien ein Israeli erfüllen muss, um als liberal gelten zu können, zumindest in den Augen eines deutschen Korrespondenten. Der Proto-Liberale „arbeitet sich an der neuen israelischen Regierung ab“, offenbar hindert ihn niemand daran, aber: Nach der Vorstellung berichtet er, dass das Klima für Künstler wie ihn „schon seit einiger Zeit schlechter wird“, woraus man schließen könnte, der Klimawechsel falle nicht in Bibis Zuständigkeit.
Tatsächlich beschwert sich der Künstler darüber, dass er „heute weniger Auftritte“ hat „als vor zwei, drei Jahren“, was oberflächlich betrachtet etwas mit der Pandemie zu tun haben könnte, von der nicht nur Künstler in Israel gebeutelt wurden. Aber diese Erklärung wäre zu einfach und für einen Korrespondenten aus Germanistan unterkomplex. Jossi Zabari, so heißt der Stand-up-Artist, „spürt, dass der Raum für Künstler wie ihn immer enger wird“, u.a. auch deswegen, „weil er über den Rassismus in der israelischen Gesellschaft spricht“. Jedenfalls „spürt“ er es so. Jeden Morgen, wenn er aufsteht, stößt er an „eine gläserne Decke“ direkt über ihm. Und das sei „echt frustrierend“.
Ist das nicht eine „Contradictio in adiecto“?
Und so geht es weiter. Next Stop ist ein Theater in Jaffa, wo gerade das Stück einer israelischen Autorin aufgeführt wird, „das von der Unmöglichkeit handelt, als Israelin zusammen mit einem Palästinenser aus dem Westjordanland ein Theaterstück zu schreiben“. Der Co-Autor lebt in Hebron und kann nicht „einfach so nach Jaffa kommen“. Warum er es nicht kann, bleibt ungesagt. Möglich, dass Bibi interveniert hat, oder einer seiner Pyromanen. Aber wie kann es dann sein, dass in Jaffa ein Stück zur Aufführung kommt, das von der Unmöglichkeit handelt, so ein Stück zu schreiben? Ist das nicht eine Contradictio in adiecto?
Es kommt noch besser. Ein israelischer Palästinenser und Hip-Hopper berichtet, die „Unterdrückung palästinensischer Künstler“ sei nichts Neues, er erlebe sie „schon lange am eigenen Leib“. Der Grund dafür sei nicht die jetzige Regierung, sondern die Tatsache, dass „Israel schon 1948 auf rassistischen Gesetzen gegründet“ wurde, also vom ersten Moment seiner Existenz an ein rassistisches Gebilde war. „Israel hat als schlechter Ort angefangen, für Menschen, die keine Juden sind.“
Gut möglich, dass der Hip-Hopper das „Rückkehrgesetz“ aus dem Jahre 1950 meint, „das Personen jüdischer Herkunft oder jüdischen Glaubens sowie deren Ehepartnern die Einwanderung nach Israel sowie die Erlangung der israelischen Staatsbürgerschaft erlaubt“. In der Tat werden mit diesem Gesetz die Juden gegenüber Nichtjuden bevorzugt, ähnlich wie die Banater Schwaben oder Angehörige anderer deutschsprachiger Minderheiten bei der Einbürgerung in der Bundesrepublik bevorzugt wurden. Nach den schlechten Erfahrungen, die Juden in den Kriegsjahren in Europa gemacht hatten, sollte es ein Land geben, in das jeder Jude jederzeit einwandern kann. Israel ist eine Art Rettungsboot für den Fall des Falles. Das Land hat nicht nur Überlebende des Holocaust aufgenommen, sondern auch einige hunderttausend von Juden, die aus arabischen Staaten vertrieben wurden.
Ein israelischer Palästinenser kann sich durch das „Rückkehrgsetz“ natürlich diskriminiert fühlen, obwohl auch er ein israelischer Staatsbrüger ist. Die Frage, welche Rechte Nicht-Muslime in muslimischen Gesellschaften genießen, muss ihn nicht umtreiben. Und wenn er einem deutschen Korrespondenten ins Mikrofon sagt, dass Israel „auf rassistischen Gesetzen gegründet“ wurde, dann könnte der Korrespondent eine kritische Nachfrage stellen, vorausgesetzt, er hätte von dem „Rückkehrgesetz“ schon mal etwas gehört. So aber bleibt der Rassismus-Vorwurf im Raum stehen, als die Erbsünde des Judenstaates, dessen Regierung „freie Fahrt“ gibt, „für alles, was jüdisch ist“. Und das nicht seit Kurzem, sondern schon immer.
Zum Schluss seines Beitrags, der mehrmals im DLF gespielt und von vielen ARD-Sendern recycelt wurde, stellt Kitzler fest: „Kritische Künstler in Israel haben es schwer, denn sie sind auf Förderung angewiesen, und die ist offenbar von der Politik nicht gewollt. Und die, die diesen Kampf nicht kämpfen wollen, wechseln den Beruf, machen Unterhaltung oder gehen ins Ausland.“
Und so hadert Israels Kulturszene mit der neuen Regierung, während der neue Hörfunkkorrespondent der ARD in Tel Aviv keine Sekunde damit hadert, dass er keine Ahnung von dem Land hat, in das er durch einen Losentscheid abkommandiert wurde.