Den Antisemitismusbeauftragten geht die Arbeit nicht aus. Sie führen Strichlisten, erarbeiten Statistiken, organisieren Seminare, setzen Zeichen, geben Denkanstöße – und kommen doch nicht von der Stelle. Wie auch, wenn sie nur an den Symptomen des Problems herumdoktern.
Wie die Stuttgarter Nachrichten berichten, „wird in Baden-Württemberg im Schnitt fast jeden Tag eine antisemitische Straftat begangen“. Nach Angaben des Innenministeriums habe sich die Zahl der Straftaten in den vergangenen Jahren „mehr als verdreifacht“, von 99 im Jahre 2017 auf 337 im Jahre 2021. Die Zahlen für 2022 liegen noch nicht komplett vor. Die Polizei steht vor einem Rätsel. „Nicht immer sieht die Polizei ein politisches Motiv, nicht immer wird klar, was eigentlich dahintersteckt.“
Ja, was kann es nur sein? Ist es eine besondere Art der baden-württembergischen Willkommenskultur? Stecken mal wieder die Reichsbürger und Querdenker dahinter? Hat es etwas mit dem schönen Brauch der Kehrwoche zu tun? Der Innenminister von BW sagt, er habe sich getäuscht, „der Antisemitismus war nie weg, er ist da, im Netz und auch auf deutschen Straßen und Plätzen“. Die Stimmung gegen „Juden und Jüdinnen“ werde „durch die gesellschaftlichen Herausforderungen“ angetrieben. „Es wird ein Schuldiger gesucht für das Elend in der Welt.“
Das mag sogar stimmen, beantwortet aber nicht die Frage, warum es mal wieder die Juden sein müssen. Warum nicht mal zur Abwechslung die Montenegriner, die Vegetarier oder die Schrebergärtner? Warum sind immer die Juden für das Elend in der Welt zuständig? Auch die Erklärung, die der Antisemitismusbeauftragte von BW anbietet, geht am Kern der Sache vorbei. Er sagt, die Zahl der Antisemiten in BW sei zwar nicht angestiegen, „aber die digitale Radikalisierung der Verschwörungsgläubigen eskaliert“, ein kulturtheoretisch interessanter Ansatz, der so dünn ist wie ein ausgerollter Pfannkuchen beim Cannstatter Volksfest.
Wo kam der Antisemitismus vor der Digitalisierung her? Waren die analogen Tage frei vom Judenhass?
Keine Kausalität, aber doch eine Koinzidenz
Ebenso gut könnte man einen anderen Zusammenhang konstruieren. Seit Anfang 2018 hat BW einen „Antisemitismus-Beauftragten“. Es sieht aus, als würde die digitale Radikalisierung der Verschwörungsgläubigen mit seiner Ernennung zeitlich zusammenfallen. Das ergibt noch keine Kausalität, aber die Koinzidenz gibt doch zu denken. Wäre die Zahl der antisemitischen Vorfälle in BW rückläufig, würde der Antisemitismusbeauftragte nicht zögern, diese Entwicklung auf sein segensreiches Wirken seit 2018 zurückzuführen. Andersrum ist das nicht der Fall. Da ist es „die digitale Radikalisierung“.
Der Antisemitismus scheint ein relativ neues, kaum erforschtes Gelände zu sein, „Neuland“ würde Merkel sagen. Die Ursachen liegen im Dunkel, für die Folgen sind bundesweit zwei Dutzend Antisemitismus-Beauftragte zuständig, allein in Berlin sind es sechs: Der Beauftragte des Bundes, der Beauftragte des Landes, der Beauftragte der Polizei, der Beauftragte der Generalstaatsanwaltschaft, der Beauftragte für den Bezirk Lichtenberg und der Beauftragte der Jüdischen Gemeinde. Ein schlimmer Verdacht drängt sich auf – obwohl immer mehr Katzen auf Mäusejagd gehen, nimmt die Mäusepopulation eher zu als ab. Auch hier gilt offenbar das Gesetz von der Erhaltung der Masse.
Die Arbeit der Antisemitismus-Beauftragten würde Sisyphos alle Ehre machen. Wie schon Albert Camus wusste, muss man sich Sisyphos als einen „glücklichen Menschen“ vorstellen. Auch wenn der Stein, den er einen Berg hinaufrollt, immer wieder ins Tal zurückrollt. Oder gerade deswegen. Den Beauftragten geht die Arbeit nicht aus. Sie führen Strichlisten, erarbeiten Statistiken, organisieren Seminare, setzen Zeichen, geben Denkanstöße – und kommen doch nicht von der Stelle. Offiziell sind sie „Ansprechpartner“ für jüdische Menschen und jüdische Gemeinden, die nicht wissen, an wen sie sich im Falle eines antisemitischen Übergriffs verbaler oder brachialer Art wenden sollen. In solchen Momenten oder Notlagen betritt der Antisemitismusbeauftrage die Bühne, wobei er nicht nur an den Symptomen herumdoktert, sondern „mutig und couragiert“ (Merkel) die Ursachen angeht.
Treitschke muss weg!
Ende 2021 legte der Berliner Antisemitismus-Beauftragte Samuel Salzborn ein Dossier mit 290 Berliner Straßen und Plätzen vor, die Namen von historischen Persönlichkeiten tragen, „die heute als Antisemiten gelten, sich antisemitisch geäußert oder judenfeindliche Ressentiments vertreten haben“.
Diese Orte sollten „umbenannt“ oder „kontextualisiert“, also in einen historischen Zusammenhang gestellt werden. Unter den Namensgebern ist auch der Historiker und Staatsrechtler Heinrich Gotthard von Treitschke (1834–1896), der den Satz „Die Juden sind unser Unglück“ in die Welt gesetzt hatte, das Glaubensbekenntnis aller Antisemiten der Neuzeit.
Das Dossier ruht inzwischen in irgendeiner Ablage der Senatsverwaltung für Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung und zieht Staub an. Dass es jemals umgesetzt wird, ist so wahrscheinlich wie die Hoffnung, die Olympischen Spiele von 1936 könnten in einer politisch korrekten Form wiederholt werden, mit jüdischen Sportlern und Sportlerinnen, People of Colour und Vertretern der LGBTQIA+Szene.
Tatsächlich gibt es derzeit Wichtigeres als die Umbenennung oder Kontextualisierung von Straßen, die Namen von Antisemiten tragen. In Berlin häufen sich antisemitische Vorfälle, an Schulen, in Fußballvereinen und im Straßenleben. Nur wer lebensmüde oder komplett irre ist, würde es wagen, mit einer Kippa auf dem Kopf in Neukölln zu flanieren. (Nicht weniger gefährlich ist das offene Tragen eines Kreuzes.)
Prävention, Intervention und Repression
Und was macht der Berliner Antisemitismus-Beauftragte in einer solchen Situation? Er nimmt Haltung an und gibt dem RBB ein Interview (hier ab 3:10), in dem er mit keinem Wort die Quelle erwähnt, aus der der Judenhass sprudelt. Das ist schon eine beachtliche Leistung, vor allem, wenn man hört und sieht, wie penibel er gendert, nicht nur gegenüber den „Jüdinnen und Juden“, den „Beamtinnen und Beamten“, sondern auch den „Antisemitinnen und Antisemiten“.
Auf die Frage der Moderatorin „Haben wir Judenhass auf Sportplätzen in Berlin?“ antwortet der Antisemitismus-Beauftragte der Stadt Berlin: „Nicht nur in Berlin, sondern bundesweit“, und beruft sich auf „Forschungen, die zeigen, dass gerade im Amateursportbereich, im Amateurfußball, Antisemitismus allgegenwärtig ist und im Prinzip jedes Wochenende stattfindet“. Deswegen müsse man „nicht nur über Prävention reden, sondern auch über Intervention und Repression“.
Aber das kann nicht alles sein! Wir brauchen vor allem mehr Antisemitismus-Beauftragte, die keine Hemmungen haben, die Täter beim Namen zu nennen: „Antisemitinnen und Antisemiten“.
Gut, dass wir das klargestellt haben!