Jesko Matthes / 04.03.2017 / 05:56 / Foto: Benjamin B. Hampton / 0 / Seite ausdrucken

Antike politische Lyrik –  und was sie uns heute sagt

Von Jesko Matthes

Wir werden nicht alles anders, doch vieles besser machen.“ (Bundeskanzler Gerhard Schröder, 1998)

Sappho schrieb ein wunderbares Gedicht (Übersetzung: Hermann Fränkel):

Mancher sagt, ein Wagenheer sei das Schönste

auf der schwarzen Erde, und mancher: Fußvolk,

mancher: eine Flotte; ich aber sage:           

das, was man lieb hat./

Einem jeden Menschen dies klar zu machen

ist sehr leicht. Es hat ja die schönste aller

Menschenfrauen, Helena, einst den besten

Gatten verlassen,/

und sie stieg ins Schiff für die Fahrt nach Troja,

und vergaß ihr Kind, und der lieben Eltern

dachte sie nicht mehr; es entführte (Kypris  

sie durch die Liebe.)/

(In der Göttin Hand ist das Herz geschmeidig

jedes Menschen, unsre Gedanken lenksam.)

So hat sie auch mich an das ferne Mädchen

eben erinnert,/

deren holdes Schreiten ich lieber sähe

und des Lichtes Spiel auf dem blanken Antlitz

als der Lyder Wagen und hoch in den Waffen

kämpfende Krieger.

Dieses Gedicht ist als ein politisches Liebesgedicht aufgefasst worden, und das ist es auch. Sappho zählt zuerst Waffengattungen auf: "Panzertruppe", Infanterie, Marine. Danach wechselt sie zur Liebe, über eine causa belli, die schöne Helena. An ihr macht Sappho den damals maximal vorstellbaren Einfluss der Frau auf die Politik fest, nämlich zum Objekt des Streits zu werden und die Männer zum Krieg zu (ver)führen. Dann wendet sich Sappho zu dem Mädchen, das sie vermisst, und so setzt sie sich selbst und das Mädchen gleich mit Helena, die auch nicht an den Krieg dachte, sondern an die Liebe – und kehrt gerade deshalb parabolisch zum militaristischen Anfang zurück.

Kulturell geforderter „Gender-Pazifismus“

Auf den homoerotischen wie auf den pazifistischen Subtext ist natürlich längst hingewiesen worden. Die "Gender-Frage", wie ernst der homoerotische Subtext war, wird sich über das von Sappho selbst dazu Gesagte hinaus nie ganz klären lassen; sicher ist, dass Sappho ihre Schülerinnen auf die Ehe vorbereitete, denn ginge es nur um lesbische Liebe, ergäbe ihr Gedicht politisch wenig Sinn. Die Frage, wie es mit dem angeblich pazifistischem Subtext war, ist daher leichter zu beantworten. Er ist viel unbedeutender, als man heute herauslesen möchte. Es ging Sappho auch in diesem Gedicht um einen pädagogischen Effekt auf die Mädchen und jungen Frauen ihres thiasos, dem sie als Lehrerin und eine Art Priesterin der Aphrodite vorstand.

Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf hat, für heutige Ohren ironisch, von einem „Mädchenpensionat“ gesprochen - so abwegig ist der Vergleich zu seiner Zeit gar nicht: In einem "viktorianischen", hierzulande kaiserzeitlichen Mädchenpensionat ging es auch um Religion, Kunst, Kultur, Musik, Tanz, Mode, Hauswirtschaft, Handarbeit, Kochen; und selbstverständlich schwärmte man ganz patriotisch für vorbeimarschierende Soldaten. Die homoerotischen Schwärmereien und Neigungen innerhalb der „Institution“ werden, nach außen weniger offen geäußert, manches Mal nicht geringer gewesen sein, zumal es vor 150 wie vor 2500 Jahren klar war, dass dies die letzte halbwegs freie Zeit im Leben einer jungen Frau bedeutete, die Loslösung von der Familie – zur Vorbereitung auf eine oft genug nicht aus Liebe geschlossene Ehe.

„Pazifistisch“ ist eine solche Konstellation allenfalls durch die Zuweisung des Militärischen in den Bereich der Männer, es ist also ein kulturell geforderter „Gender-Pazifismus“ der Frauen, mehr nicht. Politisch sind die wunderbaren Worte der Sappho nur insofern, als dass sie Frauen und Männern jene festgefügten Rollen zuteilen, die die polis eben für sie bereit hielt. - Und dennoch stimmt es noch heute „romantisch“, wie sie die Freuden der Liebe höher preist als die Ruhmestaten des Krieges. Das gilt es durchaus mitzulesen.

Eigenes Leben statt Heldentod

Den Frauen ergeht es heute natürlich ganz anders als damals. Angeblich sind sie frei. Angesichts aktueller Entwicklungen fürchte ich allerdings, die Zeit der Emanzipation habe aufgehört, die der Rückschritte längst begonnen – Kölner Domplatte, Erfolgsdruck, „Gender-Mainstreaming“, Zwangsehen, anything goes gegen die Frauen in diesem Land. - Wir werden vieles besser machen?

Noch spannender und auf paradoxe Weise moderner wird es im Hinblick auf die Männer. Wenden wir uns einem Gedicht des Archilochos zu. Er ist zwei Generationen älter als Sappho, und dennoch erhebt er seine Stimme oft genug in nicht sehr traditioneller Weise. Sein lyrisches Ich ist das des vielleicht ersten echten Individuums im Gegensatz zu den Konventionen seiner polis. Und, anders als bei Sappho, ist man bei Archilochos gezwungen, seine freche Kritik an den Konventionen anzuerkennen. Die drastisch-zotigen Vergleiche, die er gern benutzt, sind dabei noch der kleinste Skandal in antiken Gesellschaften, die zwar die Ehe heiligten, ansonsten aber mit Erotik offener umgingen als wir. Der eigentliche, der politische Verstoß des Achilochos liegt in einem seiner Gedichte, das erneut in der militärischen Sphäre spielt (Übersetzung: Raoul Schrott):

Jetzt gibt wohl ein Thraker mit meinem schild an

den ich – welch heroisch' waffengang -

in das gebüsch warf . ich nahm reißaus und kam

mit meinem leben noch einmal davon

Was also soll mich nun ein schild groß scheren?

Zum teufel damit – ich kauf mir

einen neuen: er wird auch nicht schlechter sein!

Archilochos flüchtet, er desertiert, er lässt seine Ausrüstung zurück – und schätzt damit das eigene Leben höher als den Heldentod für seine polis und ihre Sache. Ein Vorgang, den man bis heute in Armeen sanktioniert und, je nach politischem Standpunkt, skandalös finden kann. Damals war er ein Sakrileg. Und dennoch betont Archilochos mutig seine eigene Vernunft gegenüber der Unvernunft eines Staates, der seine Mitbürger ihrer Pflicht gemäß zu „Kanonenfutter“ machen will, jene also, die doch gemeinsam diesen Staat erst bilden – ein demokratischer Ansatz. Er erwächst nicht aus Liebe zu einer fernen Person, sondern aus Liebe zu sich selbst. Archilochos war, wie Sappho, kein Pazifist; angeblich liebte, trank und prügelte er sich gern und maß noch öfter seine intellektuellen Kräfte. Mit alledem brüstet er sich - ein ferner Vorfahre des Francois Villon.

Das Individuum in Lebensgefahr

Sappho bewundere ich, doch ich liebe Archilochos, auch deshalb, weil mein Vater es ihm gleichtat. Ich zweifle daran… nein, ich weiß, dass auch Vater kein geborener Demokrat war. Er warf dennoch im April 1945 seinen „Karabiner 98“ von der Schulter und wandte sich auf einer Brücke zur Flucht. Die „Russen“ schossen ihm ins Gesäß (er formulierte es, wie gern auch Archilochos, drastischer) und trafen nur sein Kochgeschirr. Einen Splitter nahm er mit ins Grab; ich besitze ein Röntgenbild, das den Splitter zeigt. Die Brücke aber wurde sofort von Flusspionieren gesprengt. Ein Häufchen Soldaten sammelte sich am diesseitigen Ufer, darunter ein Offizier, der eine kurze und flammende Rede hielt: durchhalten, fürs Vaterland sterben! Er erntete Lachen und Kopfschütteln. Darauf soll er geflucht haben: „Dann macht doch, was ihr wollt!“ - Genau das tat mein Vater. Er begab sich per Anhalter in ein englisches Lazarett bei Lübeck, denn diesseits der gesprengten Brücke existierte bereits keine „Front“ mehr.

Wenig später trat Vater in eine der großen Parteien ein, die die Bundesrepublik bis heute regieren, heiratete als Witwer ein zweites Mal, zeugte mich, kam später oft nachts von Parteisitzungen nach Hause, rezitierte am nächsten Tag Gedichte auswendig und sagte mir ebenso offen wie betreten, vom „Holocaust“ habe jedermann wissen können. Auch er habe weggesehen. Denke ich an Vater, dann ist auch Archilochos mir plötzlich ganz nah. Beide hatten erst in Lebensgefahr begriffen, was das Individuum wert ist. Spät genug vielleicht in der Biographie, Archilochos in der Geistesgeschichte aber sehr früh, hatten sie demokratische Erkenntnisse gewonnen: Wehrhaftigkeit ohne Liebe und ohne Demokratie bedeutet die pure Aggression, den Untergang des Individuums. - Wir werden vieles besser machen?

Alles hat seine Zeit. Wir Heutigen dürfen darüber nachdenken, wohin die Demokratie ohne Liebe und Wehrhaftigkeit uns führt. Für die individuelle Freiheit streiten, auch für den anderen, gar den Andersdenkenden - und mit ihm, das kann man wohl nur wie Archilochos (Übersetzung: Raoul Schrott): Mit dir zu kämpfen habe ich lust/ wie man wasser schluckt gegen den durst

Jesko Matthes ist Arzt und lebt in Deutsch Evern.

Foto: Benjamin B. Hampton historyofmovies via Wikimedia Commons

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