Thomas Rietzschel / 02.04.2022 / 14:00 / Foto: achgut.com / 32 / Seite ausdrucken

Anstand oder Wohlstand? Die Moral der Quantität

Zu Beginn der Woche sollten uns gute Nachrichten über den Krieg der Russen gegen die Ukraine überraschen. Vorausgegangen waren Verhandlungen der Gegner in der Türkei, die zugleich das Treffen moderierte. Auf der einen Seite die Russen, auf der anderen die Ukrainer, in der Mitte die Türkei, ein Land, dessen Präsident mit Wladimir Putins offen sympathisiert.

Das Ergebnis der Gespräche wurde fast schon als erster Schritt zum Frieden gewertet. Die Ukraine, hieß es, sei bereit, den Status eines neutralen Staates zu akzeptieren und habe überdies ihre Bereitschaft erklärt, den Donbass und die Krim vorerst unter russischer Kontrolle zu belassen. Im Gegenzug hätten die Russen versprochen, „ihre Kampfhandlungen teilweise zu drosseln“. 

Bei Lichte besehen, waren die Nachrichten, was die russische Seite anlangt, allerdings weniger überraschend, als ihre Ankündigung glauben machen sollte. Man kennt die Taktik aus den Zeiten des Kalten Krieges im vorigen Jahrhundert. Wo immer das Sowjetreich in militärische Auseinandersetzungen verwickelt war, gaben sich seine Unterhändler friedensbemüht, um zugleich ungestört aus dem Hinterhalt anzugreifen. Insofern nichts Neues im Osten. Kein Grund, verwundert aufzuhorchen, beruhigter oder besorgter zu sein als vorher. 

Es geschieht, was von Putin zu erwarten war

Wenn überhaupt, so haben sich die Russen jetzt nicht, wie sie behaupten, „freiwillig“ zurückgezogen, vielmehr wurden ihre Truppen am Boden von ukrainischen Einheiten verdrängt. Aus der Luft indessen liegen Kiew und Mariupol unverändert unter massivem Beschuss. Nochmals: Es geschieht, was immer von Putin zu erwarten war. Wer das mit ängstlichem Erstaunen wahrnimmt, hat bisher mit Scheuklappen auf Gegenwart und Geschichte geblickt. 

Tatsächlich erschreckend ist dagegen, wie euphorisch die Ankündigung, ein paar Panzer weniger beim Beschuss ziviler Ziele in der Ukraine einzusetzen, im Westen aufgenommen wurde – gerade so, als ob es ein Akt der Humanität sei, von hundert Panzern zehn zurückzuhalten, während die restlichen neunzig ihre Kanonen weiterhin auf Wohnviertel, Schulen, Kindergärten und Krankenhäuser richten. Wer dennoch die bloße Aussage der Russen, ihre Angriffe „drosseln“ zu wollen, wie einen Sieg der Vernunft vermeldet, spielt nolens volens dem Aggressor in die Hände. Erweckt wird der Eindruck, Putin sei vom Friedensengel erleuchtet worden, er habe sich vom Paulus zum Saulus gewandelt. 

Bemisst sich die Moral also an der Quantität der Verbrechen? Sind insbesondere Kriegsverbrechen erst als solche anzusehen, wenn sie eine gewisse Größenordnung erreichen? Ist die Zerstörung einer Stadt hinzunehmen, wenn bloß hundert Häuser und eine Klinik zertrümmert wurden; bedarf es der Ermordung tausender Zivilsten, um den Tatbestand eines Kriegsverbrechers zu konstatieren, während sich hundert Tote noch als Kollateralschaden verbuchen lassen?  

Freispruch für Hitler?

Wäre Hitler historisch vom Genozid und den Verbrechen gegen die Menschlichkeit freizusprechen, hätte er statt sechs Millionen „nur“ 600.000 Juden umgebracht? Könnten wir das islamische Recht anerkennen, wenn nach der Scharia verurteilten Dieben nicht mehr die ganze Hand, sondern nur noch die Finger abgehackt würden? Sind die Saudis Ehrenmänner, weil sie den Internet-Aktivisten Raif Badawi aus der Haft entließen, obwohl er bisher nur einmal öffentlich ausgepeitscht wurde, erst 20 der 1.000 Peitschenhiebe erhielt, zu denen er 2013 wegen „Beleidigung des Islam“ verteilt worden war? 

Die Bereitschaft westlicher Moralapostel, schon die Einschränkung des Grauens, aktuell die russische Ansage „gedrosselter“ Angriff auf zivile Ziele in der Ukraine, als eine Abkehr der Barbarei zu vermelden, offenbart nicht mehr und nicht weniger als die moralische Verkommenheit der urteilenden Gesellschaften, allen voran der deutschen. Wo sich die positive oder negative Bewertung der Dinge, Phänomene und Taten nur mehr an der Quantität bemisst, verlieren die Werte ihren Wert. Die rhetorisch hochgehaltene Moral mutiert zu Unmoral. Die im Talar des Staates handelnden Wächter der Ethik werden zu Handlangern der staatlich agierenden Kriegsverbrecher anderswo. Ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht, tut nichts zur Sache. Bar aller humanistischen Erziehung und Bildung halten sie Putin mit der Anerkennung seiner Täuschungsmanöver den Rücken frei. 

Haben die Erbsenzähler des Grauens das Sagen, bleibt die Menschlichkeit auf der Strecke. Mord und Totschlag verlieren ihren Schrecken, solange die eigenen Fleischtöpfe voll sind. Um das zu garantieren, wird schon mal ein Auge zugedrückt. Anstand oder Wohlstand? lautet die alles entscheidende Frage, wo es um die Moral der Quantität geht. 

Foto: achgut.com

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Petra Wilhelmi / 02.04.2022

So kann man das natürlich auch sehen. Ich für mein Teil frage mich immer, wo denn die Stimmen geblieben sind, als der Donbass terrorisiert worden ist, deren Bevölkerung von diesen ominösen Gruppen gemordet wurden, die dazu noch Wolfsangeln und Ähnliches an ihren Uniformen oder Fahnen tragen. Wo waren denn die Stimmen, als die dort lebenden Russen zu Bürgern 2. Klasse wurden und nicht nur die; es betraf auch die anderen ethnischen Minderheiten. Aber sicherlich. Der Russe ist der Böse und dieser Schauspieler ist der Held, der als Einziges nur fordern kann und sich sogar in die Wahl in Ungarn einmischt. Diese westliche Marionette richtet die Ukraine noch ganz zu Grunde. Mir tun nur die armen Leute dort leid, egal welche Ethnie es ist. Die sind die Leidtragenden. Vergessen wir dabei nicht, dass im Donbass die Russen, Ungarn, Rumänen und andere dies schon seit 2014 durch die ukrainische Armee und deren wie oben gesagt, ominösen Truppen erdulden müssen. Deutschland sollte sich aus diesen Krieg heraushalten. Die Vorgeschichte dieses Krieges, ist nicht dazu angetan, das Feuer durch Waffenlieferungen und mehr, am Brennen zu halten.

Günter Schlag / 02.04.2022

Wer Hitler als Maßstab nimmt, kann Putin schon mal nicht mit dem gleichsetzen. Er verharmlost dann Hitler.

Gerhard Hotz / 02.04.2022

Bemerkenswert ist doch etwas anderes, nämlich, dass sich die russische Führung zu Verhandlungen mit der ukrainischen Regierung an den gleichen Tisch setzen musste, mit der Regierung also, die sie eigentlich hatte davonjagen wollen. Tja, dumm gelaufen. Ehrlich gesagt, ich kann mir da eine “klammheimliche Freude nicht verhehlen”.

Klaus Keller / 02.04.2022

Ist die Zerstörung einer Stadt hinzunehmen, wenn bloß hundert Häuser und eine Klinik zertrümmert wurde… Diese Frage ist einfach zu beantworten wenn sie sich an die Deutschen richtet. Zunächst einmal ja, da wir es nicht verhindern können. Wer ist nun zu verurteilen. In diesem Krieg gibt es dem Prinzip nach 2 wichtige Akteure. Die russische Armee und die der Ukraine und einzelne zT militärisch organisierte Gruppen die zum Teil eher eigenständig handeln und unterstützende dritte die nicht selbst Kriegspartei sind. Wenn sich Soldaten in einer Stadt verschanzen sind sie ein legitimes Ziel. Die Zerstörung der Städte wird u.a. auch von den Verteidigern der Städte in kauf genommen. Wenn ich mich mit einer Waffe in ein Krankenhaus begebe darf ich beschossen werden. Es genügt ein einziger Scharfschütze auf dem Dach eines Klinikums. Man könnte noch sagen das es hier nicht um Moral sondern um Völkerrechtsfragen. Genauer Kriegsvölkerrecht. Menschlich zu handeln ist nicht nur sich lieb zu haben sondern auch sich in Konflikten wechselseitig umzubringen. Die Waffenlieferungen des Westens führen nicht zum Ende der Gewalt. Sie verlängern den Krieg. Mit mehr Panzerfäusten aus Deutschland kann man sich länger in der Stadt verteidigen. Der militärische Gegner nutzt dann eine Waffe mit größerer Reichweite, z.B. Artillerie. Es geht hier nicht um Moral sondern um politische Interessen. Paris und Rom wurden im WWII mehr oder weniger kampflos übergeben. Ob Kiew und Odessa am Ende aussehen wie Berlin oder wie Paris 1945 hängt von der Handlungsweise beider ab. Russland kann sich eine Niederlage aus politischen Gründen m.E. nicht leisten. Wenn das die politisch Verantwortlichen der Ukraine für sich ähnlich sehen wird es noch viele Tote geben. In der Ukraine redet man im Moment eher über Kampfmoral. Sich nicht zu verteidigen wäre aber vernünftiger wenn man die Zerstörung des Landes verhindern will.

rolf schwarz / 02.04.2022

Selbst nach dem zweiten Leseversuch bleibt es mir verborgen, an welche Lesergruppe der Autor sein Stück und diese hypothetischen Fragen richtet. Klar scheint nur eines: Herr Rietzschel hat sich schon für den Wohlstand entschieden. Warum nur, werde ich den Eindruck nicht los, dass uns gerade eh keiner mehr fragt?

Rainer Niersberger / 02.04.2022

Ganz aktuell ist auf TE ein interessanter Artikel zum Thema russ.“Gaslieferung” und den entsprechenden Verträgen zu lesen. Leider gibt es auf TE und Achgut zwei offenbar nicht veraenderliche Phaenomene, das eine der kognitiven Dissonanz, das andere der Schlussfolgerung aus einem Befund.  Das erste betrifft die Merkwuerdigkeit des Ineinanderfallens von Verstehen und Verständnis, was die Aktionen von Wlad I betrifft, zu dem sich das ” ja, aber” gesellt. Man findet den Krieg, den der Herr fuehrt, zwar nicht “gut”, kommt aber fast zwanghaft zum ” aber, er kann nicht anders, weil der Westen oder das Regime der Ukraine dies oder jenes” privoziert” habe”.  Dass es hier nicht um das Verstehen geht, sondern um das, was Wlad I tatsaechlich will, nicht das, was er behauptet, ist das eine. Dass dieses “Verstehen” den Krieg, auch gegen die Zivilbevoelkerung, die hier von ihm in Geiselhaft genommen wird, nicht einmal ansatzweise rechtfertigt, das andere.  Der Grundsatz der nationalen Unberuehrtheit gilt offenbar fuer jeden Staat, egal unter welchem kriminellen Regime, aber nicht fuer die Ukraine.  Darum geht es.  Und offenbar wollen die Putinaffinen nicht zwischen der Beurteilung des Krieges selbst und der Frage unterscheiden, welche konkreten Folgerungen das Regime hierzulande aus rein deutschem Interesse, und darum es geht es primär, daraus zieht.  Der aktuelle Artikel auf TE weist hier auf Interessantes hin. Uebrigens interessiert mich die “moralische” Frage nicht im Geringste n. Fuer die Außenpolitik geht es um die Interessen dieses Landes und seiner Buerger und das Voelkerrecht, das hier massiv verletzt wird, was auch nicht durch vorherige Verletzungen durch die USA gerechtfertigt wird. Wenn jede Aggression mit einer frueheren Handlung eines anderen “gerechtfertigt” werden kann, ist der weitere Verlauf klar.  Das kann niemand ernsthaft wollen, der nicht selbst irgendwann fuer “sein Regime” den Kopf hinhalten will. Und das gilt auch fuer das ukrainische Volk.

N.Lehmann / 02.04.2022

Wow, messerscharfe Kriegsbericht-erstattung! Die deutschen Aufklärer von der aktuellen Kamera bis Ach Weh sind mit Anstand am besten. Seit dem Merkelsozialismus ist Ideologie der neue Wohlstand. Kann man hier mitsingen?!

Hans Buschmann / 02.04.2022

Wenn man nur das liest, was Peter School-Latour 2007 in seinem Buch “Russland im Zangengriff” geschrieben hat, und sich weiterhin aus vielen Quellen über die Geschichte der Ukraine bis 2022 informiert, dann wundert man sich, wie der Autor dieses Artikels die Ursachen und Handlungen der Beteiligten verzerrt darstellt, frei nach dem Motto: “Moral klappt immer!” Aber sie ist kein Ersatz für historische Kenntnisse.

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