Michal Kornblum, Gastautorin / 12.10.2019 / 11:00 / Foto: Pixabay / 67 / Seite ausdrucken

Anschlag in Halle – Die Einsamkeit danach

Von Michal Kornblum.  

Ganz Deutschland blickt auf Halle. Die Tat, bei der zwei Menschen brutal aus dem Leben gerissen wurden und versucht wurde, die Synagoge der Stadt zu stürmen, schockt das ganze Land. Seit dem Nachmittag des Tattages finden in der ganzen Republik Mahnwachen, Gedenkveranstaltungen und Solidaritätsbekundungen statt. Ich habe den größten Respekt vor diesen Bürgern, die solche Kundgebungen organisieren und vor denen, die sich dort versammeln, um Anteilnahme zu zeigen. 

Es gehört auch in der deutschen Politik zum guten Ton, dass politische Vertreter sowie Mitglieder der Bundesregierung bei derartigen Gewalttaten ebenfalls eine Gedenkveranstaltung abhalten und den Ort des Verbrechens besuchen. Auch in diesem Fall war das so. Es werden Gedenkkerzen angezündet, Kränze und Blumen niedergelegt und Reden gehalten. Momente der Trauer und der Solidarität. Danach fahren alle zum Teil mit mehreren Leibwächtern und Sicherheitspersonal wieder in ihre Städte zurück. Einige Tage später holt die Müllabfuhr die verwelkten Blumen und vertrockneten Kränze ab, die erloschenen Kerzen werden entsorgt, als würden Requisiten nach Aufführungsende abgeräumt werden, und nichts erinnert mehr an die Taten, die sich dort ereigneten. Die Stadt, das Land und die Gesellschaft kehren zur Normalität zurück, man lebt sein Leben weiter, und das Passierte gerät in Vergessenheit. Nach einem Jahr und von da an immer wieder zu runden „Jubiläen“ treffen sich Politiker und andere geladene Gäste zu einer Gedenkveranstaltung bei üppigem, dekadentem Buffet und gedenken der damaligen Vorfälle. Nur noch eine Randnotiz im täglichen Leben.

Für die Gläubigen der Synagoge von Halle, die Kunden und Mitarbeiter des Dönerladens und die Angehörigen der beiden Opfer ist diese Randnotiz mit sofortiger Wirkung die Schlagzeile in ihren Leben. Welche Gedanken und Gefühle werden die Synagogenbesucher aus Halle in Zukunft beim Besuch einer Synagoge, sofern sie sich überhaupt trauen, diese zu besuchen, wohl haben? Welche Gedankenkette spielt sich wohl bei den älteren Gläubigen, die die Shoa erlebt haben, nach dieser Situation ab? Wie wird sich der Mitarbeiter des Dönerladens fühlen, wenn er den nächsten Döner zubereitet, und wie die Kunden, wenn sie auf der Straße einen Dönerstand sehen?

Diese Menschen werden mit ihren Gedanken, ihren Traumata, mit ihren Fragen allein und ohne Antworten gelassen. Kaum jemand aus dem politischen und öffentlichen Leben wird sich in einigen Wochen für die weiteren Folgen dieser Tat interessieren. Eventuell werden Gelder für weitere Beratungsstellen oder Initiativen „gegen Rechts“ freigegeben und es wird hoffentlich auch die dringend notwenige Diskussion über Sicherheitsmaßnahmen vor Synagogen und jüdischen Einrichtungen geführt, aber die direkt Betroffenen werden mit ihren Schicksalen auf sich allein gestellt sein.

Wir mussten unsere Wohnung verlassen

Woher ich das weiß? Als ich viereinhalb Jahre alt war – zu dem Zeitpunkt wohnten meine Familie und ich in einer Wohnung im Synagogengebäude in Lübeck – wurde am Abend im Garten ein Koffer mit blinkender Lampe und sichtbaren Kabeln gefunden. Wie meine Eltern mir später erzählt haben, gab es bereits am Tag Drohungen, dass die Synagoge in die Luft gesprengt wird. Ich erlebte die Evakuierungsmaßnahmen der Polizei. Wir mussten unsere Wohnung verlassen. Meine Eltern packten routiniert ein paar notwendige Sachen, wichtige Unterlagen und meine Schwester unseren Hund und mich ein, und wir wurden ins Nachbargebäude gebracht, wo meine Großeltern gewohnt haben. Ich hatte wahnsinnige Angst. Meine Eltern haben versucht, mich abzulenken und wirkten sehr „cool“ dabei. Sie hatten Erfahrung mit solchen Situationen, da sie die beiden Brandanschläge auf die Lübecker Synagoge erlebt haben. Ich konnte sehr lange nicht schlafen. Nach einer kontrollierten Sprengung spät in der Nacht stellte sich die Bombe glücklicherweise als Attrappe heraus. Damit war die Angelegenheit beendet, Ermittlungen führten ins Leere.

Allerdings war für meine Familie und mich danach nicht alles beendet. Ich hatte Angst. Ich hatte Angst zu schlafen, ich hatte Angst, im Garten zu sein, ich konnte nicht verstehen, warum jemand meine Familie und mich umbringen will, nur weil wir jüdisch sind. Einige Bekannte haben uns ihre Unterstützung angeboten, die für meine Eltern zu diesem Zeitpunkt ein großes Zeichen von Solidarität waren. Umso enttäuschender war es, dass es keine Unterstützung oder auch nur Nachfrage von politischer oder öffentlicher Seite gab. Der Bürgermeister gab ein Interview, das war’s. 

Ich frage mich, für wen die Politiker – von Lokalpolitik bis Bundesregierung – diese Gedenkveranstaltungen abhalten. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, dass diese „Events“ als politische Bühne zur Selbstdarstellung missbraucht werden, dass es um gute Presse und potenzielle Wähler geht. Dass dieser Moment des Gedenkens zu einem Moment der Diskreditierungen von politischen Gegnern pervertiert wird. Dass man keine politische Haltung hat, wenn man überall dort Kränze niederlegt, wo ausreichend Journalisten und Fotografen zugegen sind; sei es Arafats Grab oder die Synagoge von Halle. 

Ich wäre sehr froh, wenn ich mit meinen Vermutungen falsch läge und es in diesem Fall anders laufen wird. Ansonsten sehen wir die politischen Akteure wie gewohnt in einem Jahr bei der einjährigen Gedenkveranstaltung zum Anschlag auf die Synagoge in Halle.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Jugend- und Schülerblog Apollo-News.

 

Michal Kornblum, 22, ist Studentin aus Lübeck.

Foto: Pixabay

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Wolfgang Nirada / 12.10.2019

Liebe Frau Kornblum Für mich ist “Halle” genauso unbegreiflich wie alle Verbrechen die gegen die jüdische Gemeinschaft begangen wurden und werden. Mir fällt es auch schwer Worte zu finden für die Wut die ich empfinde. Aber eines kann ich versprechen: Ich werde so lange ich lebe auf Ihrer Seite und der Ihrer jüdischen Mitmenschen stehen. Ich wünsche Ihnen ein friedvolles glückliches und langes Leben. Und ich wünsche Israel Frieden und Wohlstand für ewige Zeiten.

Leo Hohensee / 12.10.2019

Liebe Frau Kornblum, natürlich haben Sie Recht: - „Man könnte fast den Eindruck gewinnen, dass diese „Events“ als politische Bühne zur Selbstdarstellung missbraucht werden, dass es um gute Presse und potentielle Wähler geht“. - Und auch liegt eine Tragik darin, denn die besten Selbstdarsteller und Ränkespieler dominieren die wenigen wahrhaftigen Politiker, nur – eine „gute Presse“ brauchen sie alle. Die Presse macht Volkesmeinung und ist somit wahlentscheidend. Die Presse ist kein Nachrichten-/ Informationsmittel mehr sondern SIE FORMT unsere Welt. Wir Wähler dürfen aber auch nicht übersehen, dass wir mit Kritik an Politikern sorgsam umgehen müssen, sonst findet sich schlussendlich niemand mehr mit Fähigkeiten und Verantwortungsbewusstsein für ein politisches Amt. Am Ende ständen gar nur noch Nichtsnutze zur Wahl nämlich solche, die im Leben zu GAR NICHTS Nutze sind und die Fähigkeiten nicht haben, verantwortlich und kompetent zu arbeiten. Das könnte dann überwiegend Personen nach oben spülen, die wenig fähig sind oder auch solche, die es nur auf die Salärs und die, wie Sie schreiben, dekadenten Buffets abgesehen haben. Die Frage stelle ich allerdings: “ist da überhaupt noch ein Fundament vorhanden für einen aufrichtigen, fähigen und kompetenten Menschen in diesem Regimestaat, Politik für Volkeswohl zu machen? Das ginge dann gegen ein Heer von hochfahrenden Meinungsdiktatoren, Machtmenschen und Geschwätzakrobaten. - schwierig - es gibt einfach zu viele davon und ihre Seilschaften -

Walter Neumann / 12.10.2019

Alle Politiker halten jetzt salbungsvolle Reden und legen Kränze hin, die schnell verwelken. Aber: 1) Hat der MP von Sachsen-Anhalt in den letzten Monaten einmal seine Kabinettsitzung genutzt um zu fragen: Liebe Kollegen/innen, wir wissen, dass der Antisemitismus hierzulande zunimmt. Haben wir alle Anstrengungen unternommen, um das Leben unserr jüdischen Mitbürger bestmöglich zu schützen, z.B. rund um die Synagogen, wenn sie sich dort zum Beten zusammenfinden ? Herr Innenminister, bitte legen Sie uns bis zur nächsten Sitzung ein entsprechendes Sicherheitskonzept vor! 2) Hat der Bundesinnenminister, der sich routinemäßig alle x-Monate mit seinen Kollegen aus den Ländern trifft, in den letzten Monaten eine ähnliche Frage gestellt ? Jetzt plötzlich wird er aktiv und legt er einen Maßnahmenkatalog vor. 3) Hat der frühere Justizminister, der ja wegen Ausschwitz in die Politik gegangen ist, sich einmal überlegt, ob unsere Gesetze ausreichend sind, um solche Schandurteile wie die jüngste Freilassung des Berliner Messerstechers zu vermeiden ? 4) Hat Frau Merkel im Bundeskabinett mal eine solche Frage gestellt ? 5) Haben die großen Medien vor Halle ähnliche Fragen gestellt ? Haben sie sich überhaupt über die bedrohte Sicherheitslage der Juden hierzulande ernsthaft interessiert ?

Sebastian Gumbach / 12.10.2019

“Es gehört auch in der deutschen Politik zum guten Ton, dass politische Vertreter sowie Mitglieder der Bundesregierung bei derartigen Gewalttaten ebenfalls eine Gedenkveranstaltung abhalten und den Ort des Verbrechens besuchen.” Nein, das stimmt so nicht. Es muss sich um die richtigigen (potenziellen) Opfer und die richtigen Täter handeln. Die mittlerweile unzähligen muslimischen Attentäter und die deutschen Opfer interessieren die Politik nicht.

Andreas Rochow / 12.10.2019

“Ich frage mich, für wen die Politiker von Lokalpolitik bis Bundesregierung diese Gedenkveranstaltungen abhalten. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, dass diese ‘Events’ als politische Bühne zur Selbstdarstellung missbraucht werden, dass es um gute Presse und potentielle Wähler geht.” Ich stimme Ihnen vorbehaltlos zu. Die aufgeregten Lippenbekenntnisse der polititmedialen “ersten Reihe” widern mich geradezu an, und sind mit maßlos peinlich.

Rolf Schreiber / 12.10.2019

Über die beiden Toten und Verletzten spricht man nicht mehr! Sind Kollaterlaschäden des Anschlages auf die Synagoge.

Andrèe Bauer / 12.10.2019

Hallo Herr Kornblum, Ihre Anmerkungen und Beobachtungen sind absolut zutreffend. Für wen und auch kirchliche Würdenträger öffentlichkeitswirksam Krokodilstränen vergießen, kerzchen anzünden und an Menschenketten teilnehmen ? - Für sich selbst, ihr eigenes Ego, Wahl- und Stimmungsbarometer und natürlich die allgegenwärtigen Medien. Sie verschwinden in dem Moment in einem großen Loch in dem es keine Medien mehr interessiert wie die Betroffenen mit dem erlebten Schrecken umgehen, wo es keine Prozente auf der Skala mehr bringt ob man sich zeigt oder nicht. Schließlich lehnt sich jeder wohlig kuschelig mit dem Gefühl zurück - ich habe “ Gesicht gezeigt “ mit den “ Guten “ , 3 Phrasen in die Menge gedroschen- jetzt ist es aber auch gut. Mehr geht gar nicht.

Reiner Gerlach / 12.10.2019

Liebe Michal, leider liegst Du mit Deinen Vermutungen nicht falsch. Die ersten Interviews zeigten schon, dass an dem versuchten Überfall auf die Synagoge (von den zwei deutschen Todesopfern redete kaum jemand) auf jeden Fall die AfD Schuld hat. Beweise blieb man schuldig, aber es reicht ja schon, dass es sie gibt. Das muss als Beweis reichen. Und man sollte nicht ganz vergessen, dass es in dieser Woche schon einen Versuch gab, in eine Synagoge einzudringen. Da es sich aber um einen arabisch sprechenden Mitbürger handelte, wurde er kurze Zeit in der Psychiatrie geparkt und dann wieder entlassen. Eine Verbindung zur AfD konnte beim besten Willen nicht herbeigezaubert werden. Ausgesprochen Schade. Nun wieder zu Deinem Artikel zurück. Wie Recht Du hast, sieht man wohl am Besten am Attentat auf den Berliner Weihnachtsmarkt. Erst braucht Frau M. ein ganzes Jahr Bedenkzeit, um den Hinterbliebenen ihr Beileid auszusprechen. Um die Familie des polnischen LKW-Fahrers mussten sich seine Trucker-Kollegen kümmern. Und dann gibt es einen Text an der Gedenkstätte, der an Beliebigkeit kaum zu übertreffen ist.

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