Da waren die acht Mädchen des Viktoria-Heims, die sich zusammen mit der Heimleiterin erhängten, nachdem sie von einem Bataillon vergewaltigt worden waren. Da war die Dame im noblen Zehlendorf: „Dreiundzwanzig Soldaten hintereinander. Ich musste im Krankenhaus genäht werden.“ Da waren die Jüdinnen, die zuerst befreit und dann geschändet wurden. Da gibt es das Tagebuch der Brigitte Braukhage, die sich um ihre drei kranken Kinder kümmern muss und fast täglich Einträge wie diese macht: „Nachts vier Mann vergewaltigen mich … Ganze Nacht ruhrartigen Durchfall und Erbrechen. Dazu Russenbesuch….“ Und so weiter. Und das zweimillionenfach. So viele deutsche Frauen, schätzt man, wurden von Soldaten der Roten Armee 1945 vergewaltigt.
Daran ist zu erinnern, weil der Film „Anonyma – eine Frau in Berlin“ das vergessen machen könnte. Regisseur Max Färberböck („Aimée und Jaguar“) ist so bemüht, politisch korrektes Verständnis für die Täter aufzubringen, so sehr darauf bedacht, feministisch korrekt die Frauen nicht nur als Opfer, sondern auch als Überlebenskünstlerinnen zu schildern, dass der Horror dieses Masseneinsatzes von Sex als Waffe nach den ersten Filmminuten beinahe verschwindet.
Sicher, das liegt auch an der Vorlage. „Anonyma“, erschienen 1959, erzählt die Geschichte einer jungen Berlinerin, die sich nach den ersten schrecklichen Tagen eine besondere Strategie ausdenkt, um der wiederholten „Schändung“, wie sie es nennt, zu entgehen. Sie sucht und findet einen sowjetischen Offizier, dessen Mätresse sie wird. Das wird hundert-, ja tausend- oder zehntausendfach so vorgekommen sein. Repräsentativ ist es sicherlich nicht.
Die Lakonie, ja Schnodderigkeit, mit der „Anonyma“ ihre schlimmen Erlebnisse in den Maitagen 1945 festhält, die Kälte, mit der sie ihre Selbstprostituierung beschreibt, die Verachtung, die sie den heimkehrenden Männern entgegenbringt, die mit der „Entehrung“ ihrer Frauen nicht zurecht kommen – all das war ein Schlag ins Gesicht der westdeutschen Öffentlichkeit Ende der 1950er Jahre. Denn obwohl es in fast jeder Familie, die 1945 östlich der Elbe gelebt hatte, solche Fälle gab, war das Thema noch mehr tabu als der Holocaust. (In der DDR wurde es ohnehin offiziell beschwiegen.) Das Buch aber setzte das tabuisierte Wissen voraus – Erfahrungen, Gerüchte, Geschichten, die inzwischen mit der Kriegsgeneration für immer verloren gegangen sind.
Ein Film aber, der sich heute auf die Gestalt der Anonyma konzentriert, legt das Missverständnis nahe, alle Frauen seien so – relativ – glimpflich davongekommen. Dieses Missverständnis wird verstärkt durch eine Filmszene, in der sich eine Frauengruppe über ihre Erfahrungen austauscht. Die Vergewaltigten machen sich lustig über die erotischen Unzulänglichkeiten ihrer Peiniger, und die etwa siebzigjährige Wohnungsinhaberin erklärt nicht ohne Stolz, ihr Vergewaltiger habe die Enge ihrer Vagina vorteilhaft mit der Weite der gebärfreudigen ukrainischen Frauen verglichen. Es ist, als wollte Färberböck dem sowjetischen Diktator Stalin Recht geben, der auf die Beschwerden des jugoslawischen Kommunisten Milovan Djilas über Plünderungen und Vergewaltigungen sagte: „Was ist schon dabei, wenn sich ein Soldat mit einer Frau amüsiert, nach all den Schrecknissen?“
Hinzu kommt, dass der von Nina Hoss gespielten Anonyma ein Liebesverhältnis mit „ihrem“ Major Andrej (Evgeny Sidikhin) angedichtet wird – eine Liebe, für die es im Originaltagebuch keinen Beleg gibt. Von einem „Taumel der Gefühle“ spricht das Presseheft, und die Frauenromansprache passt gut zum Kitsch dieser deutsch-russischen Beziehungskiste.
Man mag hierin eine späte Rache der Frauen für die unzähligen Geschichten der heimkehrenden deutschen Soldaten und Kriegsgefangenen über schöne und willige Russinnen erblicken; oder aber in jenen Männergeschichten einen Schutzmechanismus der durch die russischen Vergewaltiger Gedemütigten. Aber Kitsch bleibt Kitsch. Und bei dem, was am Ende des Krieges passierte – die ethnische Säuberung der deutschen Ostgebiete und der Versuch einer genetischen Russifizierung, die der kulturellen Russifizierung Ostdeutschlands voranging –, ist Kitsch schlimmer als Schweigen.
Dass Benedict Neuenfels’ Kamera vom schönen Gesicht der Hoss allenfalls dann lässt, wenn sie in Massenszenen mit sympathischen russischen Soldaten schwelgt, tut ein Übriges, um den Eindruck zu verstärken, hier habe die Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft Regie geführt. Über sechzig Jahre nach den Ereignissen müsste eine größere Ehrlichkeit möglich sein.