Bei Annalena Baerbocks komplett schiefgehender Sprache handelt es sich um das Abbild eines ebenso flüchtigen wie denkbefreiten Politikstils.
Das deutsche Regierungspersonal wird von großen Teilen der (insbesondere internationalen) Öffentlichkeit mittlerweile als Panoptikum der Peinlichkeiten wahrgenommen. Trotz der Abstumpfungseffekte, die der politische Dilettantismus hervorruft, zieht Annalena Baerbock immer wieder in spezieller Weise die Aufmerksamkeit auf sich. Während die einen sie als Vorbildfrau schätzen, die sich mit den finstersten Gestalten der Weltpolitik anlegt, lauern die anderen auf neue Versprecher, um diese konsterniert oder schulmeisterlich zu kommentieren. Übersehen wird dabei, dass es sich bei ihrer ungenauen, nicht selten komplett schiefgehenden Sprache um das Abbild eines ebenso flüchtigen, also denkbefreiten Politikstils handelt.
Der Verlust jeden Sinnzusammenhangs im Politischen korrespondiert bei Baerbock mit einer syntaktischen, grammatischen, rhetorischen und sachlichen Konfusion, die mitunter an Aphasie grenzt, jedoch angemessen widerspiegelt, was Baerbock für Vernunft hält. Journalisten der Tagesschau, die Baerbock als authentisch aufbegehrende Verteidigerin des Westens schätzen, meinen es wohl als Kompliment, wenn sie ihr zugutehalten, manifeste Defizite mit viel Herz auszugleichen: „Zwar holpert gelegentlich die Grammatik, doch statt sich in diplomatischen Floskeln zu verlieren, versucht Baerbock oft, die Menschen in den Mittelpunkt zu stellen.“ (1)
Die Pseudohumanität hat im postmodernen Kapitalismus kompensatorischen Charakter: Anders als der Bürger ist der Mensch nichts als eben Mensch und dadurch Manövriermasse für die einen und Stoff für Propaganda für die anderen. Wenn der deutsche Mittelstand menschelt, meint er andere, nämlich die, die ein paar Stufen drunter bleiben sollen, wobei die Angst, es könnte einen selbst treffen, nicht vergeht. Das ruft die Außenministerin in Erinnerung, wenn sie über das Leid anderer spricht, wie etwa im Fall der von Russen begangenen Massaker in der ukrainischen Stadt Butscha: „Diese Opfer, auch das spürt man hier so eindringlich, diese Opfer könnten wir sein.“ Und wenn die berufsmäßig Ukrainesolidarischen sagen wollen, dass es unter den gegebenen Verhältnissen sinnvoll ist, die Bundeswehr nicht vollends abzuwracken, wird es ungewollt komisch: „Die Vorstellung, dass wir uns selbst nicht verteidigen müssen, hat Putin zerbombt.“ (2)
Eine neue harte globale Wirklichkeit
Der ewige Appell in der mobilisierten Gesellschaft, man selbst zu sein, begünstigt die Ausbreitung eines Sozialtypus, der dazu neigt, die eigenen kindischen Beglückungsfantasien der ganzen Welt aufzunötigen: Lauter prospektive Ethikrat-Vorsitzende, immer dem Guten verpflichtet, sendungsbewusst, schrill, emotional – nur auf Niederlagen nicht vorbereitet. Sinnbildlich sind etwa die aktuellen Reaktionen des grünen Personals nach Wahlniederlagen: Sie sehen nicht ein, dass es nicht hatte sein sollen, weinen und klagen an, bevor es dann weitergeht wie gehabt. Denn es existieren keine Zweifel mehr, am wenigsten in der natürlich stets progressiven Berufspolitik. Komplementär dazu hegen Leute mit Weltrettungsambitionen die Illusion, sie wären berufene Vollstrecker des halluzinierten Allgemeinen; daher die Neigung zum neudeutschen Universalismus, der eine Farce auf den westlichen ist.
Aufschlussreicher als das „Denken“ von Baerbock ist ihr Erfolg in den tonangebenden Medien, die mit den Vertretern „der demokratischen Parteien“ einen vertraulichen Umgang pflegen. Sie liefern die Begleitmusik zu einem autoritären Fürsorgestaat, in dem die Herrschenden in fast schon debiler Weise als freundliche Menschen präsentiert werden, derweil ihre Politik die Gesellschaft in eine Hölle der Ungeselligkeit und des Misstrauens verwandelt. Oder in den Worten des paralympischen Geistes:
„Besondere Auftritte der Außenministerin sind bei ihren Reisen keine Seltenheit. So spielte Baerbock in diesem Jahr bereits Fußball auf den Fidschi-Inseln. In der Vergangenheit sprang sie auch mal wie bei einem Kinderspiel durch einen finnischen Atombunker. Und nach ihrem letzten Besuch beim Wirtschaftsforum in Davos sprachen viele danach nur über ihre Uhr. Auch beim Sommerreise-Termin in Leverkusen lief es besonders ab. Baerbock war zu Besuch in einer Prothesenwerkstatt in Leverkusen. Diese hat ihren Sitz auf dem Gelände des TSV Bayer 04. Die Grünen-Ministerin tauschte sich vor Ort auch mit Orthopädietechnikern aus, die teils auch Athleten bei den Paralympics sind, welche dieses Jahr ebenfalls wie Olympia 2024 in Paris stattfinden. Auch ein T-Shirt bekam die Ministerin geschenkt. Wie die Rheinische Post von vor Ort berichtet, habe TSV-Para-Leichtathlet Markus Rehm im Gespräch mit Baerbock erzählt, dass die Para-Weitspringer auf dem großen Trampolin in der Halle ihr Verhalten in der Luft üben – und Baerbock angeboten, doch auch mal zu springen. Und die nahm tatsächlich an.“ (3)
Doch der Politik der Grünen wird bisweilen heftig widersprochen. Die Gegner der „wertegeleiteten“ Außenpolitik reklamieren für sich selbst, anders als die Gutmenschen einen wachen Sinn für Realismus zu haben. Sie beschwören eine neue harte globale Wirklichkeit, in der Rücksicht gefragt ist, die vor allem den Großmächten wie Russland oder China gelten soll. Die „großen Herausforderungen“, sei es in Sachen Handel, Frieden oder Klima, erforderten gemeinsames Anpacken. Komplett hirnrissig wird die Argumentation, wenn – wie beim Gegenstandpunkt oder in Konkret – den Deutschen ein ungebrochener Hang zum Militarismus angedichtet wird.
Deutschland macht nicht für den Krieg mobil, lediglich für den Wettbewerb auf dem Weltmarkt. In Krisenregionen sollen andere Länder zivilisierte Verkehrsformen durchsetzen, Deutschland steigt beim Wiederaufbau ein und schielt auf den Handel danach. In der Nato gilt Deutschland als Land der Bedenkenträger und Wegducker. Als Donald Trump es ihnen vorhielt, waren Politik und Feuilleton pikiert. (4) Dafür engagierte man sich während der vergangenen Jahre umso mehr in der Entwicklungspolitik und protegierte dabei den „globalen Süden“, überhaupt scheint man zu beabsichtigen, das Auswärtige Amt langfristig selbst in eine NGO umzuwandeln.
Mischung aus Despoten-Kritik und Amerikafreundlichkeit
Das bewährte Geschäftsmodell, das auch den Dialog mit Menschenschindern unbedingt miteinschließt, blamierte sich, als das zuvor im Eigeninteresse umworbene Russland in die Ukraine einmarschierte. Das haben die Grünen am schnellsten erkannt, die vor ein paar Jahren noch als NATO-Skeptiker aufgetreten waren. Keinesfalls provozieren sie damit einen Konflikt mit der Basis, denn der Pazifismus ist längst passé, überhaupt war der Konflikt zwischen „Fundis“ und „Realos“ vor allem die Simulation von Streitkultur. Im Nachhinein muss man den Nato-Krieg gegen Jugoslawien als Erweckungserlebnis begreifen: Mit Bomben auf Belgrad Auschwitz zu verhindern, ist eben noch herzerwärmender als in der Menschenkette Hand in Hand den Weltfrieden zu besingen. Eine schon zwei Jahre zurückliegende Befragung der Friedrich-Ebert-Stiftung ergab, dass die Wähler der Grünen militärische Menschenrechts-Interventionen Deutschlands eher befürworten als die Wähler der anderen Bundestagsparteien. (5) Für die Regierungsgrünen spricht ihre Absicht, das transatlantische Bündnis zu stärken.
Der amerikafreundliche Ton ist jedoch der Einsicht in die Notwendigkeit geschuldet, dass Deutschland, käme es härter, wenig auszurichten hätte. Ein bisschen Ehrgeiz muss dabei schon sein, denn aus Perspektive der USA zählt Deutschland zur Kategorie jener Länder, die nicht besonders ernstgenommen werden: „zu schwach, um den USA schaden zu können, und zu wenig hilfreich bei weltpolitischen Problemen, um sich um sie bemühen zu müssen.“ (6) Die gewünschte „Partnerschaft in Führung“ fällt auch deswegen leicht, weil es die woken Demokraten den ihnen ideologisch nahestehenden werteorientierten Deutschen wirklich schwer machen, auf Konfrontationskurs zu gehen.
Die recht neue Mischung aus Despoten-Kritik und Amerikafreundlichkeit gefällt hierzulande nicht jedem. In einem Interview mit der Zeit stellte der Soziologe Wolfgang Streeck die deutsche Außenministerin jüngst in die Tradition des bellizistischen Neokonservatismus und trug dabei ziemlich dick auf: „Des Weiteren glauben Rechtskonservative, dass es in dieser Welt keinen Frieden geben kann: Es gibt Schmittsche existenzielle Feinde, mit denen wir nur leben könne [!], wenn wir sie nicht am Leben lassen. Letzteres ist mittlerweile ein zentrales Thema der amerikanischen Neocons und der europäischen Nato-Konservativen, auch unserer Außenministerin.“ (7) Frieden setzt allerdings voraus, dass die betreffenden Parteien ihn wollen oder mit angedrohter oder ausgeübter Gewalt dazu gezwungen werden. Für die imperialistische russische Staatsmacht trifft wohl eher zu, dass sie – unabhängig von Beschwichtigungsversuchen – dann eskaliert, wenn sie es für angemessen hält. Streeck überschätzt aber zugleich die Angriffslust der Außenministerin.
„Feministische Außenpolitik“
Bei allem Gerede über das notwendige Niederzwingen Russlands unterscheidet sich die aktuelle Außenpolitik von den Neocons schon dadurch, dass ihr in Ermangelung einer Strategie oder gar einer informierten, konsistenten politischen Theorie schon die einfache Feindbestimmung missglückt und ihr grundsätzlich jede Bereitschaft zur Konsequenz fehlt. Bedingung des Gekeifes ist gerade die eingeplante Folgenlosigkeit. Eine Kriegsbeteiligung kommt für Deutschland nicht infrage, man knausert ja schon beim Liefern der Waffen; Krieg ist in Deutschland ein diffuses Szenario zur moralischen Erpressung der eigenen Bevölkerung und anderer Staaten, keine politische Möglichkeit. Auch hat man außenpolitisch insgesamt keine womöglich destabilisierenden Umwälzungen im Sinn; es würde reichen, wenn unliebsame Machthaber den Jargon anpassen und auf Überfälle verzichten. Das gilt für das aktivistische Politikmachen, das mit der außerdiskursiven Wirklichkeit wenig zu tun hat, überhaupt: „Wo diese Illusion umgeht, hört der Widerstand auf, Symbol zu sein. Er wird zur Sache selbst – aber als deren Karikatur, die zugleich der Verzicht auf die Sache ist.“ (8)
Politische Feindanalysen würden voraussetzen, dass die Regierung auf moralische Bewertungen strikt verzichtet. Abgesehen davon, dass man trotz aller militärischen Ertüchtigungsrhetorik gegen Russland nicht selbst kämpft, sondern nur die Ukraine anfeuert, verzichtet man zugunsten einer infantilen Dämonisierung von Putin auf eine – der Öffentlichkeit vermittelten – angemessene Einschätzung der russischen Ziele, der polit-ökonomischen Dynamiken im Innern, der damit zusammenhängenden Subjektdeformation in einer auf Gewalt basierenden Gesellschaft.
Um all das müsste es gehen, wenn Russland laut einhelliger Meinung die größte Bedrohung für Deutschlands Sicherheit ist. So verschaffen sich in der richtigen Entscheidung, die Ukraine zu unterstützen, Bedürfnisse Ausdruck, die mit diesem Krieg nichts zu tun haben. Keiner kann sagen, um was es genau geht, außer dass Russland nicht gewinnen darf. Weswegen es grundsätzlich und je nach Lageänderung auch jederzeit möglich ist, die Werte, die Feinde, die Verbündeten, die Fronten zu wechseln.
Ähnliches gilt für die „feministische Außenpolitik“, die als neue Prämisse ausgegeben wurde: Schon das kurrente Islam-Appeasement widerlegt hinreichend die Behauptung, man wolle gegen Frauenfeindlichkeit und Frauenunterdrückung entschieden vorgehen. Man toppt die Albernheit aber noch, wenn man mit dem Iran trotz aller Ermahnungen personell und diplomatisch im kritischen Dauerdialog bleibt und dadurch eine Politik zugunsten der Opposition untergräbt. Deutschland hält eines der frauenfeindlichsten Regime im Sattel, dafür gibt es mehr Quotenjobs in Auslandsvertretungen, die der eigenen Klientel behagen. Und das ist wohl auch das, was zählt.
Nie wieder Regime Change
Weltpolitisch interessierte Zeitgenossen sind sich sicher, dass die von den USA angeführten Kriege der Welt in diesem Jahrtausend nichts als Unheil gebracht haben. Die Interventionen in Afghanistan 2001 und im Irak 2003 gelten nicht nur als Fehlentscheidung, sondern als katastrophaler Ausdruck amerikanischer Arroganz. Abgesehen davon, dass die mitgelieferten Vorwürfe damals wie heute antiamerikanisch kontaminiert sind, gab es vernünftige Gründe für den Krieg, die den Deutschen schon damals nicht beizubringen waren. Die Vereinigten Staaten hatten erkennen müssen, dass ihre Bürger den Vernichtungswillen eines Feindes auf sich ziehen, dessen Einfluss kontinuierlich wächst. Die Terroranschläge am 11. September 2001 forderten 2996 Todesopfer, die die Terrorbanden und ihre Fans als ihren bisher größten Triumph im Weltkrieg gegen die Ungläubigen begriffen. Das Umfeld der Täter, vom Handlanger bis zum Sympathisanten, agierte weltweit und war in einigen Ländern, unter anderem in den später angegriffenen, bereits dominant. Es musste mit weiteren Attacken gerechnet werden und man traf im wohlverstandenen nationalen Interesse die Entscheidung, in angemessener Weise zurückzuschlagen.
Unvergessen sind die Bilder von George W. Bush und dem Anfang dieses Jahres verstorbenen Feuerwehrmann Robert Beckwith vor dem zerstörten World Trade Center. Sie zeigen den Präsidenten mit einem Megafon in der rechten Hand, den linken Arm über den Schultern des Feuerwehrmanns. Bushs nicht nur an die versammelten Feuerwehrmänner gerichtete Botschaft, die in den Trümmern nach Überlebenden suchten: „Ich kann euch hören, die ganze Welt hört euch, und die Menschen, die diese Türme zum Einsturz gebracht haben, werden alle bald von uns hören.“ Es ging um Vergeltung, vor allem aber um die Verteidigung von freiheitlichen Errungenschaften, auf welche die Bürger der Vereinigten Staaten aus guten Gründen stolz sind. Anlässlich seiner Rede zur zweiten Amtseinführung am 20. Januar 2005 bekräftigte George W. Bush die Ziele des Krieges:
„So lange ganze Regionen dieser Erde unter der Tyrannei leiden und ihr Ressentiment nähren – so lange werden die Menschen Ideologien anheimfallen, die den Hass predigen und den Mord entschuldigen, wird die Gewalt breiter und zerstörerischer werden, selbst die sicherste Grenze überqueren und uns tödlich bedrohen. Es gibt nur eine historische Kraft, die das Regime von Hass und Ressentiment brechen, die Täuschungen der Tyrannen offenbaren und die Hoffnungen der Anständigen und Toleranten erfüllen kann: die Kraft der Freiheit. Die Ereignisse und der gesunde Menschenverstand lassen nur eine Schlussfolgerung zu: Das Überleben der Freiheit in unserem Land hängt zunehmend vom Erfolg der Freiheit in anderen Ländern ab.“
So pathetisch ließe sich heute auch im Westen nicht mehr von der „Kraft der Freiheit“ sprechen. Die Strategie war riskant, die Begründung doppeldeutig. Dass die damalige US-Regierung als tatsächliche Weltmacht den Zustand der Welt ausnahmslos dem Feind zuschrieb, war natürlich nur die halbe Wahrheit. Der mörderische Wahnsinn ist nicht identisch mit dem Kapitalverhältnis, hat aber polit-ökonomische Voraussetzungen, von denen weder die Liberalen noch die Konservativen etwas wissen wollen. Bushs Feindbestimmung ließ seine defätistischen Partner in Deutschland indes auf Abstand gehen. Rot-Grün sah die Zeit gekommen, antiamerikanisch aufzumucken. Es passte gut, mithilfe neu erwachter antiamerikanischer Gemeinschaftsgefühle konnte von der rot-grünen Politik des Sozialabbaus abgelenkt werden.
Joschka Fischer, der damals den deutschen Kurs etwas vorsichtiger als Kanzler Schröder mitbestimmte, ist rückblickend der Meinung, richtig gelegen zu haben. Die Amerikaner hätten das Vertrauen in der islamischen Welt zerstört und seien deswegen verantwortlich für die fortwährenden Verwüstungen – als ob sie das nicht allein könnten: „Eine neue, bessere Welt schien plötzlich möglich geworden zu sein, eine Welt, in der Diktatoren und blutrünstigen Kriegsherren das üble Handwerk gelegt werden konnte, und zwar dank modernster Waffentechnologie mit minimalen menschlichen und materiellen Kosten. Tatsächlich lief diese Strategie auf nichts anderes hinaus als auf einen weiteren Versuch jener Weltverbesserungsutopien, die versprechen, die Welt besser zu machen, indem man sie erst einmal schlechter macht.“ (9)
Die USA haben gleichwohl die eigenen Möglichkeiten überschätzt, sie haben nicht mit dem Widerstand in den westlichen Ländern gerechnet. Es war zu optimistisch, anzunehmen, dass die Mehrheit der Bewohner der Interventionszonen mehr Freiheiten und weniger Koran wollen und deswegen die amerikanischen Initialschläge als Anfang neuer Macht- und Lebensverhältnisse begrüßen. Der Fanatismus der Selbstmord-Krieger war infolgedessen imstande, eine reguläre Armee auf Dauer zu demoralisieren. Doch Fischer kritisiert gerade das Sympathischste, nämlich die Absicht, die brutale Menschenschinderei gemeinsam mit den vom Regime Unterdrückten zu überwinden. Entgegen anderslautenden Beteuerungen sind die Grünen, sei es in altfriedensbewegter Gestalt oder als wertegeleitete Technokraten zwar für das Recht auf Folklore, nicht aber für die Abschaffung unhaltbarer Zustände.
Reaktionäre Offenbarungen
Von Nietzsche stammt der Gedanke, dass die hochgesinnten Moralverkünder nach dem Bösen suchten, um sich selbst als das glatte Gegenteil darzubieten. (10) Jene „Guten“, und darin hat sich wenig geändert, zeigen im gegenseitig überwachten Verhalten zueinander aufs Erfinderischste Rücksicht, Selbstbeherrschung und Zartsinn. Doch sie können auch anders – in der Gegenwart etwa dann zu beobachten, wenn die Gemeinschaft der Demokraten den fremd gebliebenen Ossis am liebsten wieder die Mauer hochziehen würde: „[…] sie sind nach außen hin, wo das Fremde, die Fremde beginnt, nicht viel besser als losgelassene Raubtiere. Sie genießen da die Freiheit von allem sozialen Zwang, sie halten sich in der Wildnis schadlos für die Spannung, welche eine lange Einschließung und Einfrierung in den Frieden der Gemeinschaft gibt.“ (11)
Die an Nietzsche anknüpfende Moralkritik will – von Moral befreit – über die wirklichen Machtverhältnisse sprechen, so auch Carl Schmitt, der seinen Fans eine schonungslose Sicht auf die Welt verspricht. Viele ehemalige Linke, die die Schmitt-Lektüre aus dem theoretischen Loch gezogen hat, in das sie irgendwo zwischen Studienende und Berufsanfang gefallen waren, reizt genau das, die an sich selbst neu entdeckte Tapferkeit beim kühnen, und vor allem unsentimentalen Nachvollzug der harten Wirklichkeit, in der es vor Konflikt, Feindschaft und Entscheidung nur so wimmelt.
Schmitt störte, dass die Werte dort ubiquitär vorkommen, wo sie seiner Meinung nach nicht hingehören, nämlich im Recht. In seinem Text Die Tyrannei der Werte, der auf einem im Jahr 1959 im Rahmen der von Ernst Forsthoff initiierten „Ebracher Ferienseminare“ gehaltenen Vortrag basiert, exemplifiziert Schmitt die Differenz zwischen Werten und Rechten. Die Hochkonjunktur des Wertegedankens führt er auf eine nachchristliche, mithin anti-katholische Selbstvergottung des Menschen zurück.
Im Gegensatz zur bundesrepublikanischen normativen Verfassungsdeutung sei es die Aufgabe des Gesetzgebers und der von ihm erlassenen Gesetze, „die Vermittlung durch berechenbare und vollziehbare Regeln zu bestimmen und den Terror des unmittelbaren und automatischen Wertvollzugs zu verhindern.“ Der Kampf der Werteverfechter laufe aufs Gegenteil hinaus und habe mit zwingender Notwendigkeit etwas Aktivistisches: „Tugenden übt man aus; Normen wendet man an; Befehle werden vollzogen; aber die Werte werden gesetzt und durchgesetzt. Wer ihre Geltung behauptet, muß sie geltend machen.“ (12) Das ist nicht nur wahr, sondern auch aktuell, was ein Blick auf das „Demokratiefördergesetz“ ebenso bezeugt wie die nach den letzten Wahlschlappen von den Grünen erhobene Forderung, eine „Task Force zum Schutz der Demokratie“ einzusetzen. Längst beschäftigt sich der Verfassungsschutz nicht nur mit gewaltbereiten oder bereits delinquenten Feinden des Staates, sondern mit unliebsamen politischen Gegnern überhaupt.
Die Hölle als Paradies der Werte
Der ehemalige Nazi-Jurist Schmitt, dessen Staat dem Feind 1945 unterlag, skandalisierte, dass überhaupt moralisch gewertet und politisch geurteilt wird: „In der Hierarchie der Werte dagegen gelten andere Relationen, die es rechtfertigen, daß der Wert den Unwert vernichtet und der höhere Wert den niederen Wert als minderwertig behandelt.“ Dadurch, dass „Böses mit Bösem“ vergolten werde, verwandele sich „unsere Erde in eine Hölle, die Hölle aber in ein Paradies der Werte“.(13) Die Geschichte hat das Gegenteil bewiesen. Es ist keine Kraftmeierei, sondern eine vernünftige Einsicht, dass es dem absoluten Bösen verpflichtete Menschen gibt, die – solange sie auf den Sieg hoffen dürfen –, weitermachen und dabei nur unter Einsatz der zur Verfügung stehenden Mittel ohne Sentimentalität aufzuhalten sind; bisweilen heilt sie nur der Tod. Schmitt attackiert die frühe BRD und meint das universelle Völkerrechtsverständnis der USA, kurz: die Siegerjustiz. Selbst einigen seiner Schüler ist aufgefallen, dass er ähnliche Urteile über die NS-Werteordnung nicht fertiggebracht hat. Was bleibt, ist Larmoyanz: „Jede Rücksicht auf den Gegner entfällt, ja sie wird zum Unwert, wenn der Kampf gegen diesen Gegner ein Kampf für die höchsten Werte ist.“ (14) Der Moralkritik fällt bisweilen nicht auf, dass der eigene moralische Impetus, „der Entlarvungsgestus, mit dem Schmitt der Unlauterkeit entgegentritt“, (15) dem befehdeten Moralismus in nichts nachsteht. Eberhard Straub hat vor einigen Jahren die Gedanken Schmitts aktualisiert:
„Für die US-Amerikaner ist das Böse immer außerhalb ihrer glücklichen Insel tätig, die Nato schließt sich dieser Vermutung an und erhebt sich selbst damit zum Reich der Guten und Edlen, die berufen sind, auf der Welt das Böse zu vertreiben. Die Selbstermächtigung führt unvermeidlich zur Selbstgerechtigkeit der von den Vereinigten Staaten angeführten Werthüter.“ (16)
Straub mokierte sich schon über das in den Gesellschaften Europas noch bestehende Befremden gegenüber islamischen Gepflogenheiten, als der Begriff antimuslimischer Rassismus noch nicht erfunden war. Überhaupt scheint die anti-universalistische Rechte auf den Westen so allergisch zu reagieren wie sonst nur die post-koloniale Psycholinke.
Die militärischen Versuche, die islamische Barbarei in einigen besonders verhetzten Ländern zu überwinden, sind gescheitert. Innerhalb der westlichen Staaten sorgen blanker Selbsthass und Untergangslust für Verdruss und Missgunst. Angeheizt vom globalen Konkurrenzkampf entstehen Regelungstechniken, die jene für den Westen einst substantiellen Freiheiten liquidieren, die selbst Kommunisten als Bedingungen des Besseren stets verteidigt haben.
Gleichzeitig bildet sich die allenthalben angepriesene „multipolare Weltordnung“ tatsächlich heraus. In ihr tritt der einstige Welt-Hegemon, die USA, den Rückzug an, derweil neue Machtblöcke entstehen und die ökonomische Abhängigkeit vom Westen schwindet. Die nachamerikanische Welt ist auch der Wunschtraum aller Anti-Westler im Westen, die getrennt marschieren, aber vereint zuschlagen, als internationale Fronde von kriseninspirierter Bescheidwisserei, die sich Verhältnisse wünschen, in denen das Kollektiv den Einzelnen an seinen rechten Platz verweist. Und wer so tickt, hat keine Berührungsängste mit den russischen oder chinesischen, gar islamischen Verhältnissen, die Wittfogel nicht von ungefähr unterm kritischen Begriff einer „orientalischen“ bzw. „asiatischen Despotie“ zusammenfasste. (17)
Organisierte Verwirrung
Es spricht für einen besorgniserregenden Verlust der politischen Urteilskraft, dass niemandem auffällt, wie die diversitäts- und vielfaltsvernarrte alltägliche Förderung obskur identitärer Stammesideologien auf das genaue Gegenteil einer universellen Idee der Menschheit hinausläuft, die man in der Außenpolitik zu verteidigen vorgibt. Der re-archaisierende Zerfall der Gattung in identitäre Gemeinschaften, die allesamt Respekt für allerlei Marotten einfordern, hat für die herrschende Klasse den Vorteil, dass Leute, die auf Hautfarbe, Religion, Geschlecht oder ähnliches vollfixiert sind, nicht die Klassenfrage stellen. Daher das Vielfaltsspektakel, die Antidiskriminierungsberichte als adäquate Zeitdokumente der Verwandlung von Politik in Anomie.
Die deutsche Flüchtlings- und Migrationspolitik hat mehr zu Ausbreitung des Antisemitismus beigetragen als irgendwelche Syltschnösel oder Seminarzusammenhänge aus dem Umfeld der AfD. Die Debatten nach islamischen Anschlägen zeigen vor allem eines: ein feiges Einknicken vorm politischen Islam und seinen Vollstreckern, denen man unter dem Deckmantel neourbaner Coolness zu verstehen gibt, dass man längst kapituliert hat. Fernab der staatstragenden tonangebenden Milieus ist die Meinung über den Islam in den europäischen Ländern überwiegend schlecht.
Dennoch kommt man bisher damit durch, die kurrente Islamisierung zu leugnen oder als Vielfaltsgewinn schönzureden, den es gegen rechten Populismus bedingungslos zu verteidigen gilt. Und es gilt hüben wie drüben, für das woke wie fürs rechte Islam-Appeasement: In der Weigerung, den Unterschied zwischen marktvermittelter Konkurrenz und unmittelbarem Terror gegen die Individuen zu benennen, ist die Kollaboration mit der bandenförmigen Menschenschinderei bereits vollzogen.
Das Problem des Pseudo-Universalismus
Diese Abstumpfung ist auch der Grund, warum man Israel in den Rücken gefallen ist, obwohl der weltweite Bürgerkrieg für Palästina auch auf deutschen Straßen tobt. Zu verhindern, dass der 7. Oktober 2023, wie es Henryk M. Broders jüngst formulierte, der Anfang vom Ende Israels sein könnte, muss im Zentrum einer wirklich westlichen Außenpolitik stehen, die von dem, was innenpolitisch gemacht wird, nicht getrennt werden kann. Man fragt sich schon, warum das Pathos und die bekundete Kampfwilligkeit gegen Russland möglich ist, nicht aber gegen die Hamas, den Iran und ihre Unterstützer und deren Freunde. Auf jeden Fall ist zu reflektieren, dass der selbstdemontierte Westen nicht kann und nicht will – genau darüber täuscht der Werte-Schwachsinn hinweg.
Bei der Verteidigung der im Bestehenden – trotz allem – präsenten Verheißungen geht es aber nicht um Sentimentalität. Den Einzelnen als Angehörigen derselben Menschheit zu betrachten, heißt auch, ihm abzuverlangen, dass die Wahrheit jedem zumutbar ist und dass Entscheidungen Konsequenzen haben können. Weder Religion noch Kultur rechtfertigen es, den niedersten Instinkten gegen Andere freien Lauf zu lassen. Selbstverständlich gehören menschenunwürdiges Dahinvegetieren sowie „die Beschwörung wilder, zielloser, hemmungsloser Kräfte der Zerstörung“ aus der Welt geschafft. (18)
Das Problem des Pseudo-Universalismus ist heute, dass in seinem Namen alle Versuche denunziert werden, wenigstens im Partikularen die Vernunft zu verteidigen, sei es im Namen einer nun globalisierten Sachzwanglogik oder unter dem Diktum eines Primats der Außenpolitik. Mehr denn je käme es auf richtig gesetzte Prioritäten und Klartext an. Die Moralheuchelei ist in Deutschland aber derart in die Gesamtgesellschaft diffundiert, dass es viele für normal halten, wenn ihnen phantasiereich gepredigt wird, bis ihnen Hören und Sehen vergeht. Die jüngere Geschichte lehrt nicht viel, aber doch, dass stets mit allem zu rechnen ist.
Den ersten Teil dieses Beitrages finden Sie hier. Der Text erschien zuerst in casa|blanca.Texte zur falschen Zeit (2/2024). Das Heft kann hier bestellt werden.
David Schneider ist Autor der Zeitschrift BAHAMAS.
Anmerkungen/Quellen:
(1) Markus Sambale, Christian Feld: Wie Baerbock die Außenpolitik prägt, tagesschau.de, 13.5.2022.
(2) Zit. n. Alena Kammer: „Die Vorstellung, dass wir uns selbst nicht verteidigen müssen, hat Putin zerbombt“, zeit.de, 26.7.2024.
(3) Hannes Niemeyer: „Darf ich mal, wie ich das von früher kenne?“ Plötzlich schlägt Baerbock Salti auf dem Trampolin, merkur.de, 5.8.2024.
(4) Vgl. Stephan Bierling: Vormacht wider Willen, München 2014.
(5) Vgl. Catrina Schläger: In der Moralfalle, ipg-journal.de, 12.7.2022.
(6) Bierling: Vormacht wider Willen, 243.
(7) Lars Weisbrod: „Der Kapitalismus muss domestiziert werden“, zeit.de, 3.9.2024.
(8) Christoph Tücke: Gewalt und Tabu, Springe 2012, 20.
(9) Joschka Fischer: „I am not convinced“. Der Irak-Krieg und die rot-grünen Jahre, Köln 2022, 86.
(10) Vgl. Beatrix Himmelmann: Nietzsches Kritik der Moral, in: Christian Neuhäuser und Christian Seide: Kritik des Moralismus, Berlin 2020, 243-273.
(11) Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, in: ders.: Werke in zwei Bänden, Bd. 2, München 1990, 196.
(12) Carl Schmitt: Die Tyrannei der Werte, Berlin 2011, 54.
(13) Ebd., 51.
(14) Ebd.
(15) Heinrich Meier: Die Lehre Carl Schmitts, Stuttgart 2004, 40 f.
(16) Eberhard Straub: Zur
Tyrannei der Werte, Dresden 2019, 169.
(17) Vgl. Karl August Wittfogel: Die orientalische Despotie. Eine vergleichende Untersuchung totaler Macht [1957], Frankfurt a. M. 1981.
(18) Vgl. Karl Marx: Die britische Herrschaft in Indien, in: MEW, Bd. 9, 127–133.