Zu Unrecht wird die russische Operndiva der Nähe zu Putin geziehen. Bei vielen Veranstaltern fiel sie in Ungnade, durfte nicht mehr auftreten. Bei den Wiesbadener Maifestspielen ist sie dabei, dank Intendant Uwe Eric Laufenberg, der wegen seiner Courage in der Corona-Zeit 2024 gehen muss.
Merkwürdige Zeiten, in denen die Kulturministerin eines deutschen Bundeslandes wenige Stunden vor dem Auftritt einer weltberühmten Sängerin per Twitter den verantwortlichen Intendanten darum „bittet“, auf das Konzert zu verzichten, wohl wissend, dass sie damit nicht nur gegen die Kunstfreiheit verstößt, sondern auch zum Vertragsbruch auffordert. Zeiten, in denen der Kulturminister eines osteuropäischen Staates sich in gleicher Sache an seine Berliner Kollegin wendet und mit Boykott droht, sollte seinem Wunsch nicht umgehend Folge geleistet werden. Zeiten, in denen Demonstranten von der Polizei daran gehindert werden müssen, den Veranstaltungsort zu besetzen und sich Besucher, die nur gute Musik hören wollen, als Sympathisanten eines Unrechtsregimes und „Nazis“ beschimpfen lassen müssen.
So geschehen bei den diesjährigen Internationalen Wiesbadener Maifestspielen, zu denen der Intendant des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden und Ausrichter des Festivals, Uwe Eric Laufenberg, auch Anna Netrebko eingeladen hatte, und zwar für ihr Rollendebüt als Abigaille in einer konzertanten Aufführung von Giuseppe Verdis „Nabucco“. Die Oper mit dem berühmten Gefangenenchor handelt vom Befreiungskampf der Hebräer gegen die Babylonier, mit dem sich die Italiener in der Zeit ihrer eigenen Unabhängigkeitsbestrebungen gegen Österreich Mitte des 19. Jahrhunderts identifizierten, was dem Werk zu bis heute ungebrochener Popularität verhalf. Zumindest künstlerisch war es vergangenes Wochenende nach Aussage professioneller Musikkritiker ein Hochgenuss, Netrebko „auf der Höhe ihres Könnens erleben zu dürfen.“
Die russische Diva, deren derzeitiger Rang wohl nur mit einer Maria Callas zu vergleichen ist, als Kriegstreiberin zu bezeichnen, entbehrt jeder Grundlage. Mit politischen Statements hatte sie sich immer zurückgehalten. Anders als im Falle Waleri Gergijews kann man ihr auch schwerlich eine besondere Nähe zum russischen Präsidenten Wladimir Putin attestieren. Trotzdem fiel sie nach Beginn des Ukraine-Krieges bei zahlreichen westlichen Veranstaltern in Ungnade. Der Münchner Staatsopernintendant Serge Dorny beispielsweise kündigte ihre Verträge, ebenso Peter Gelb, Chef der New Yorker Met, der außer ihrer offiziellen Distanzierung von Krieg und Kreml verlangte, dass sie Putin explizit als Diktator benennen solle.
Gegen alle Widerstände an Netrebko festgehalten
Nachdem sie den Krieg gegen die Ukraine schließlich doch noch mehr oder weniger deutlich verurteilte, wurden sie in ihrer russischen Heimat gecancelt. Die große Künstlerin, die neben der russischen auch eine österreichische Staatsbürgerschaft und einen Wohnsitz in Wien hat, fand sich auf einmal in der denkbar unbequemsten Position – zwischen allen Stühlen. Ausgerechnet bei Netrebko soll es sich nach den Worten des ukrainischen Generalkonsuls in Frankfurt, Vadym Kostiuk, um die „toxischste russische Sängerin der Gegenwart“ handeln; es sei „menschenverachtend“, wenn man sie „trotz Widerstandes aus Politik, (Wiesbadener) Stadtverwaltung und Zivilgesellschaft“ noch auftreten lasse. Wer ist hier eigentlich menschenverachtend?
Zum Glück gib es Intendanten wie Laufenberg, der gegen alle Widerstände an Netrebkos Engagement in Wiesbaden festgehalten hat. Schon während der Corona-Pandemie zeigte er Rückgrat. In mehreren Solo-Auftritten auf dem YouTube-Kanal des Wiesbadener Staatstheaters hatte er unter anderem die Freiheitsbeschränkungen und Grundrechtseingriffe im Zuge der Corona-Politik kritisiert. Staatsnahe Medien wie die FAZ rückten seine Ausführungen sogleich in die Nähe von Verschwörungstheorien, ein Stereotyp, mit dem Kritiker mundtot gemacht werden sollen. Dabei gelang es ihm, am 19. Mai 2020 angeblich als erstes Theater in Europa unter Einhaltung aller behördlichen Hygiene-Vorschriften wieder zu spielen.
Als nun die Ukraine am Beispiel der Wiesbadener Maifestspiele auch in Deutschland ihre Politik eines Totalboykotts russischer Kunst und russischer Künstler durchzusetzen versuchte und dabei von der (hessischen) Politik unterstützt wurde, wehrte sich Laufenberg abermals. Gleichzeitig versuchte er, vielleicht etwas unbeholfen, seinen Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem er nach der Absage der Teilnahme ukrainischer Ensembles an den Maifestspielen wegen seines Festhaltens an Netrebko die oppositionelle russische Punkrockband „Pussy Riot“ engagieren wollte. Die sagten aus Solidarität zur Ukraine ihrerseits ab und treten nun Ende Mai an einem anderen Ort in Wiesbaden außerhalb der Festspiele auf.
„Keine politischen Bekenntnisse von Künstler:innen“ verlangt
Ähnlich couragiert wie Laufenberg sind sonst wohl nur Nikolaus Bachler, Intendant der Osterfestspiele Salzburg, der Netrebko für 2024 nach Salzburg eingeladen hat, sowie Markus Hinterhäuser, Chef der Salzburger Sommerfestspiele, mit seinem Festhalten an dem in Russland beheimateten griechischen Dirigenten Teodor Currentzis. Die Mehrzahl der deutschen Opern- und Theaterimpresarios versucht sich durchzulavieren wie Serge Dorny in München. Auf seinem Haus in München weht zwar brav die ukrainische Flagge, doch unter dem Radarschirm einer „kritischen Öffentlichkeit“, die jeden russischen Namen auf einem Programm oder Besetzungszettel skandalisiert, herrscht im Großen und Ganzen business as usual.
So tummelten sich bei der jüngsten Neuproduktion von Sergej Prokofjews Oper „Krieg und Frieden“ nach Leo Tolstoi Sängerinnen und Sänger aus allen Teilen der früheren Sowjetunion, wobei man im Detail schwer sagen kann, wer von ihnen vielleicht dauerhaft im Westen lebt. Die Bayerische Staatsoper verlange „selbstverständlich keine regelmäßigen politischen Bekenntnisse von Künstler:innen“, teilte Dornys Sprecher auf Anfrage und gendermäßig korrekt mit. Der Standpunkt des Hauses zum Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine dürfe dabei als öffentlich bekannt vorausgesetzt werden. Zu der Frage, ob das Haus an dem geplanten Auftritt des großen russischen Bassisten Ildar Abdrazakow bei den kommenden Münchner Opernfestspielen festhalte, gab der Sprecher eine vielsagende Antwort: gar keine.
Auch Abdrazakow wird von Kulturjournalisten wie Axel Brüggemann eine nicht tolerierbare Nähe zum Kreml und zu russischen Geldgebern unterstellt. Er habe sich, so heißt es, für Propagandazwecke hergegeben. Von der russischen Mezzosopranistin Ekaterina Semenchuk wurde dergleichen noch nicht kolportiert. An der kommenden „Parsifal“-Neuproduktion der Bayreuther Festspiele jedenfalls wird sie nicht teilnehmen. Steckt hinter den offiziell verlautbarten „privaten Gründen“ die Absage vielleicht die bekannte Regierungsnähe und Hasenfüßigkeit von Festspielchefin Katharina Wagner, die bis heute von der Coronamaske nicht lassen kann?
Deutschland ist mal wieder besonders rigide
In anderen europäischen Ländern ist der Bann gegen Netrebko und andere russische Künstler und Ensembles deutlich weniger rigide als etwa in Deutschland und den USA. Netrebko tritt regelmäßig an der Wiener Staatsoper und der Mailänder Scala auf und wird im Juni die Saison der Arena von Verona eröffnen. Teodor Currentis startet bald eine Spanien-Tournee mit seinem russischen Originalklang-Orchester musicAeterna, das in Deutschland nicht mehr gelitten ist, seit sich einzelne Musiker mit dem russischen Vorgehen in der Ukraine solidarisierten. Ansonsten tourt er mit seinem neuen Utopia-Orchester, mit dem er im Sommer auch bei den Salzburger Festspielen zu hören sein wird.
Es gibt sogar westeuropäische Musiker vornehmlich aus der zweiten und dritten Reihe, die weiter in Russland arbeiten. Darunter der junge Spanier Jordi Benaser, der aktuell im Moskauer Bolschoi-Theater dirigiert, sowie der britische Pianist Freddy Kempf, Sohn eines Deutschen und einer Japanerin. Anlässlich eines Auftritts im russischen Omsk wird er mit den Worten zitiert, Russland sei für ihn „zu wichtig, um das Land der Cancel Culture zu opfern“. Laufenberg wird nach Ende der Spielzeit 2023/24 das Hessische Staatstheater verlassen und einer weiblichen „Doppelspitze“ Platz machen.
Dass die Landesregierung in Wiesbaden wohl als Reaktion auf seinen Widerstand gegen die Coronapolitik an einer Vertragsverlängerung nicht interessiert war, wurde schon im September 2021 bekannt. Seine dadurch gewonnene Freiheit nutzte er, um in Sachen Netrebko ein Zeichen zu setzen: für die Freiheit der Kunst auch und gerade in Zeiten des Krieges.
Georg Etscheit ist Autor und Journalist in München. Fast zehn Jahre arbeitete er für die Agentur dpa, schreibt seit 2000 aber lieber „frei“ über Umweltthemen sowie über Wirtschaft, Feinschmeckerei, Oper und klassische Musik u.a. für die Süddeutsche Zeitung.