Gerald Wolf, Gastautor / 15.09.2024 / 16:00 / Foto: WikiCommons / 5 / Seite ausdrucken

Anleitung zur Gesichtserkennung

Wieso erkennt man das Gesicht eines Freundes auf einer voll besetzten Tribüne? Unter 8 Milliarden Menschen gibt es kein Zweites identisches Gesicht – Warum erkennen wir das einmalige, unverwechselbare? Und wo ist das noch von Nutzen?

In Dutzenden von Kinderreimen findet sich der Spruch, in Liedern und Malbüchern. Ganz einfach ist das mit dem Gesicht: Punkt, Punkt, Komma, Strich – von jedem Kind im Handumdrehen zu lernen. Noch einfacher die Mutter Erde: eine Kugel, und fertig. Zu einfach? Tatsächlich, schon auf den ersten oder zweiten Blick hin sind die Gesichter sehr unterschiedlich, ebenso, was die verschiedenen Regionen unserer Erde anbelangt. Die Unterschiede sind es, die den Reiz ausmachen. Schon die Suche danach ist reizvoll.

Zum Beispiel ein Blick auf die Menschen in einem voll besetzten Fußballstadion. Ist da irgendwo ein bekanntes Gesicht? Nein, keines. Kein einziges. – Oh … jawohl, der da, das muss Eberhard sein. Natürlich, er ist es! Kurz zurückgeblendet, das Grundmuster seines Gesichtes ist dasselbe wie bei uns allen – Punkt, Punkt, Komma, Strich –, und doch hat Eberhards Gesicht etwas Einmaliges, Unverwechselbares. Wieso eigentlich? Jetzt sieht Eberhard auch mich. Wie sich seine Miene aufhellt! Aufhellt, heller wird? Natürlich nicht, nichts leuchtet da, aber es scheint so. Jetzt flüstert er etwas in Richtung seines Nachbarn. Der nickt, seine Miene aber bleibt unberührt. Dann ein kurzes Aufhellen. Und wieder normal. Ein eher durchschnittliches Gesicht, das des Nachbarn: Punkt-Punkt-Komma-Strich. Und wiederum ist es anders als das der anderen. Keine Frage, unter den heute auf der Erde lebenden acht Milliarden Menschen gibt es kein zweites, völlig gleichartiges Gesicht. Abgesehen von dem eineiiger Zwillinge.

Unsere nächsten tierischen Verwandten haben ebenfalls Gesichter, die Affen also, zumal die Menschenaffen – Schimpansen, Gorillas und Utans. Auch die „Tier“affen, die Meerkatzen also, Paviane, Rhesusaffen. Mehr als die Gesichter von anderen Tieren folgen Affengesichter dem Punkt-Punkt-Komma-Strich-Prinzip. Je entfernter die verwandtschaftliche Beziehung, desto weniger kommen die Gesichter uns als „menschlich“ vor.

Äußerlichkeiten

Vor allem auf sie kommt es an, wenn wir nach Unterschieden fahnden. Zum Beispiel die von Blättern der verschiedenen Baumarten. Sie alle haben bestimmte Grundstrukturen, sind gezähnt, glattrandig, paarig gefiedert, unpaarig gefiedert, breit, schmal. So auch lässt sich anhand eines einzelnen Blattes die Artzugehörigkeit bestimmen. Gebuchtet sind die Blätter der meisten Eichenarten. Wer sich die Mühe macht, die Blätter einer Stieleiche miteinander genau zu vergleichen, wird feststellen, dass es von Blatt zu Blatt Unterschiede gibt. Trotz ein und derselben Grundstruktur. Und wirklich, nicht ein einziges Eichenblatt ist in der Form identisch mit dem eines x-beliebigen anderen.

Während die Unterschiede menschlicher Gesichter recht leicht zu merken sind, gelingt uns das bei dem der Blätter einer Eiche nicht. Warum nicht? Offenbar haben wir für die Unterschiede menschlicher Gesichter eine besondere Merkfähigkeit. Als soziale Wesen brauchen wir die, um die Anderen als Individuen zu erkennen und zu akzeptieren. Mehr noch, die Blätter der Bäume sind starr, sie haben kaum irgendwelche Eigenbeweglichkeit. Anders unser Gesicht.

Dafür sorgen etwa zwanzig ungewöhnlich flache Muskeln sowie Gruppen feinster Muskelfasern, die unter der Gesichtshaut liegen. Sie entspringen am Schädel oder an bindegewebigen Strukturen, und sie enden mit elastischen Sehnenfasern in der Haut oder den Weichteilen des Gesichtes. Ziehen sich diese Muskeln und Muskelchen zusammen, verschieben sie die darüber liegenden Portionen der Haut. Furchen, Falten oder Grübchen entstehen. Und das in Abhängigkeit von der jeweiligen emotionalen Stimmung. Von der Mimik also ist die Rede und von der mimischen Muskulatur. Selbst allerfeinste Nuancen der Stimmung spiegelt sie in unserem Gesicht wider.

Mimik und Spiegelneuronen

Lachen, weinen, schmunzeln, lieb gucken, zynisch oder böse gucken, enttäuscht, freudig, hoffend, hochmütig – unser Gesicht soll mit mehr als 250.000 verschiedenen Ausdrücken arbeiten. Die Botschaften, die wir dabei übermitteln, erfolgen meistenteils unbeabsichtigt, können aber gut und gern auch absichtlicher Art sein. Schauspieler sind darin besonders geübt, manche dafür auch besonders begabt. Denn einfach ist es nicht, mimisch glaubhaft Freude oder Trauer oder Interesse zu spiegeln, wenn einem nicht danach zumute ist. Oder eher im Gegenteil. Schauspieler müssen das können. Auch Betrüger.

Der US-amerikanische Psychologe Paul Ekman erkannte in den 1960er Jahren, dass bestimmte Gesichtsausdrücke überall auf der Welt gleich sind und von jedem Menschen verstanden werden. Ekman sprach von sieben Basisemotionen, die jeder Mensch auf der Welt bei jedem anderen an dessen Mimik zu deuten weiß, egal welchem Gebiet der Erde er entstammt und wie gut man den anderen Menschen kennt: Freude, Wut, Angst, Ekel, Trauer, Überraschung und Verachtung. Bei Wut sind die Augenbrauen typischerweise heruntergezogen, die Augen zusammengekniffen, die Nasenflügel stehen auseinander, und die Lippen werden mit Druck geschlossen. Bei Freude ist die Stirn entspannt, es bilden sich Lachfältchen, die Wangen sind angehoben, die Nasenflügel auseinandergezogen, die Mundwinkel gehen nach oben.

Punkt, Punkt – die Augen seien die Fenster zur Seele, heißt es. Menschen blicken sich bei der Kontaktnahme in die Augen und signalisieren dabei Akzeptanz, Interesse oder Sympathie. Auch Antipathie. Beim Blickwechsel erkennen wir, inwieweit unserem Gegenüber zu vertrauen ist. Ob beim Flirten, im Job oder Vorstellungsgespräch: Die optimale Blickdauer sollte nicht länger als 3,3 Sekunden betragen, heißt es. Darüber hinaus wird aus dem Blick ein Starren. Interessanterweise sind an emotional bedingten mimischen Reaktionen ganze Gruppen von Nervenzellen beteiligt. Sie entsprechen in der Art ihrer Verteilung im Gehirn in etwa denen, die auch bei bloßer Beobachtung der Mimik eines Gegenübers aktiviert sind.

Man nennt sie daher „Spiegelneuronen“. Selbst dann entstehen diese Aktivitätsmuster, wenn man über den Gemütszustand oder die Handlungsabsichten eines Anderen nur nachdenkt! Seit der Entdeckung des Spiegelneuron-Prinzips im Jahre 1992 gibt es eine schier unüberblickbare Flut an Fachpublikationen. Diese „mirror neurons“ spielen für soziale Lebewesen eine große Rolle. Menschen erfahren anhand der Mimik etwas über die Emotionen ihrer Sozialpartner. Durch bloße Beobachtung können sie sich in deren Handlungsabsichten hineinversetzen und ihre Handlungsweisen schließlich auch nachvollziehen.

Im Falle der Verachtung seitens Anderer resultiert im eigenen Spiegelneuronsystem ein Aktivitätsmuster, das in etwa dem entspricht, wenn wir jemand anderes verachten. Nur eben dass der Grund dafür auf sich selbst bezogen wird. Scham, Reue, schlechtes Gewissen entstehen. Starke Gefühle sind das, solche mit Bestrafungscharakter. Umgekehrt, wenn die Mimik des Gegenübers Anerkennung signalisiert, erfüllt uns das mit Freude, vielleicht sogar mit Stolz. Das wiederum bestärkt uns in unserem Verhalten. Der Vorteil für die Sozietät liegt auf der Hand.

Null-Acht/Fünfzehn

Nur eine Ziffernfolge ist es, aber auch sie signalisiert weit mehr als seitenlange verbale Beurteilungen. Woher kommt dieser Ausdruck? Mit der Typenbezeichnung 08/15 wurde im Ersten Weltkrieg ein Maschinengewehr eingeführt, das wohl schon zu Beginn ein wenig veraltet war. Tagtägliches, eintöniges Training erwartete die Soldaten, und bald hatten sie das ganze Drumherum gründlich satt. Im Jahr 1954 erschien dazu unter dem Titel „08/15“ eine Roman-Trilogie, die wesentlich zur Verbreitung des Begriffs beitrug. Er steht heute für banal, belanglos, langweilig, gewöhnlich, alltäglich, mittelmäßig. Vorträge, Filme können Null-Acht/Fünfzehn sein, so die Nachbarn, die Unterhaltung mit ihnen oder mit Kollegen, das Essen, die Kleidung. Ein wenig boshaft heißt es, auch für das deutsche Beamtentum würde der Begriff gebraucht – für „Null Ahnung, 8 Stunden Anwesenheit, A 15 Besoldung“.

Wer auf der Suche nach etwas Interessantem allabendlich das Fernseh-Angebot durchcheckt, wird es bald überdrüssig sein. Alles so oder so schon mal gesehen. Gleich ob Krimis, Liebesfilme oder Naturfilme – immerzu gleiche oder ähnliche Muster. Wenn Natur, dann nicht lange hin und ihre Gefährdung wird zum Thema. Kaum jemals wegen der Überbevölkerung, sondern fast immer wegen des Klimawandels. Gern auch wegen des ansteigenden Meeresspiegels. Ohne Hinweis auf die Plattentektonik, der zufolge sich das Land dort und da senkt, dafür anderswo aber hebt. Und alles so gut wie diskursfrei. Sogar an den Hochschulen und Universitäten fehlt mittlerweile die Debattenkultur, allüberall Duckmäuser. Denken wir an die Facetten der politischen Macht und Ohnmacht, an die auf Kenntnis und schiere Unkenntnis fußenden Argumente und Entscheidungen, an Beweggründe, die auf Egoismus und eher selten auf wahren Patriotismus fußen – all das ist alles andere als 08/15, es schreit nach Öffentlichkeit und Darstellung in den Medien.

Null-Acht-Fünfzehn gilt sogar für die tagespolitischen Sendungen, sofern sie von staatlichen oder staatsnahen Anstalten ausgestrahlt werden. Die für den Pepp zuständige Opposition – die eigentliche, also nicht die rötlichgrünlich gefärbten Unionsparteien – kommt dabei entweder gar nicht vor oder, wenn doch, in der üblichen diffamierenden Weise. Abend für Abend wäre eine Fülle an brisanten Nachrichten zu berichten. Allein schon die Frage, sollten die Deutschen weiterhin ihr Deutschland opfern, um die Welt zu retten? Ersatzweise wartet man dem – Zwangsgebühren zahlenden – Konsumenten mit Details aus Ländern auf, die er nicht oder kaum kennt und die ihn daher auch nicht oder kaum interessieren. Ein Wetterbericht ohne Hinweis auf den Klimawandel oder auf Unwetter oder unwetterartige Ereignisse ist kaum noch denkbar. Wenn nicht in unseren Breiten, dann sonst wo auf der Welt. Null-Acht-Fünfzehn eben. Was mit derartigen Vereinseitigungen angerichtet wird, hat jüngst die Corona-Politik gezeigt. Gegenwärtig sollen es die Affenpocken richten.

Punkt-Punkt-Komma-Strich – am Ende sollte sich jeder selbst fragen, ob es Banales überhaupt gibt. Was auch immer es sei, genauer betrachtet, werden sogar die banalsten Banalitäten interessant. Man muss es nur wollen, das genauere Betrachten! Metaphorisch schon ist es der Blick in den Wassertropfen. Und ein zweiter dann in die Redaktionsstuben einer großen Zeitung.

 

Gerald Wolf hat Biologie und Medizin in Leipzig studiert und ist emeritierter Magdeburger Universitätsprofessor, Hirnforscher und Institutsdirektor. Neben zahlreichen Fachpublikationen und Fach- und Sachbüchern stammen von ihm drei Wissenschaftsromane. In seinen Vorträgen und Publikationen widmet sich Wolf der Natur des Menschen, vorzugsweise dem Gehirn und dem, was es aus uns macht. Mehr als 140 seiner Essays sind in seinem Buch Hirn-Geschnetzeltes zusammengefasst.

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Leserpost

netiquette:

Ralf Pöhling / 15.09.2024

P.S.: Ich ziehe Gesichtserkennung durch Personal der Gesichtserkennung durch KI + Kamera vor,  denn die Kamera zeichnet dabei auch Verhaltensweisen der überprüften Personen auf, die im Falle einer Unschuld derselbigen niemanden etwas angehen.

Ralf Pöhling / 15.09.2024

Gesichter sind wie Fingerabdrücke. Bisweilen sehr unterschiedlich, manchmal sehr ähnlich. Stichwort: Zwillinge. Aber sie sind doch immer irgendwie anders. Die berühmte analoge Unschärfe, die der digitalen Welt fehlt. Kein Gesicht ist 100% symmetrisch. Wer die eine Hälfte eines Gesichtes mit einem Spiegel spiegelt, der erkennt das sofort. Es sieht unecht aus. Die Nähe des Betrachters zum Objekt lässt die vielen verschiedenen Details wie das Verhältnis der Augen zu Ohren und Nase zu Mund und Kinn, sowie spezifische Narben, Falten und Muttermale oder Hautunreinheiten erkennen und die Personen so unterscheiden. Wer das nicht kann, dem fehlt einfach das Training. Oder eine Brille. Trainieren kann man eigentlich alles, sofern das Gehirn und die Sinne gesund sind und man genug Zeit hat, das Corpus Delicti zu betrachten.

finn waidjuk / 15.09.2024

Aber was ist mit Menschen wie mir, die große Probleme damit haben, Gesichter wiederzuerkennen? Selbst gute Freunde und Verwandte erkenne ich eher an ihrer Kleidung als an ihrem Gesicht. Und wenn ich sie in einer ungewohnten Umgebung antreffe, gehe ich an ihnen vorbei ohne sie zu grüßen. Das wurde und wird mir regelmäßig als Arroganz ausgelegt. Schön ist das nicht, aber noch schlimmer ist es, wenn ich Menschen, die ich auf den Tod nicht ausstehen kann (und umgekehrt), auf der Straße freundlich grüße. Meine Frau fragt mich dann immer, ob ich wüsste, wer das eben war. Ich sage nein, sie rollt mit den Augen und atmet heftig aus. Wenigstens erkenne ich sie immer. Na gut, meistens.

Sam Lowry / 15.09.2024

QAlfred Hitchcock hat uns das mit “Fenster zum Hof” sehr eindeutig vorgeführt… je nach “Vorurteil” und Zusammenhang verändert sich exakt dieselbe Szene mit James Stewart in etwas anderes, ohne das erstmal selbst zu bemerken… genial.

sybille eden / 15.09.2024

Sehr schön geschrieben. Gääääääähn. Ich dachte bisher, die Achse ist eine POLITISCHE Zeitung und keine populärwissenschaftliche.

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