Georg Etscheit / 18.03.2021 / 10:00 / Foto: Krugerr / 21 / Seite ausdrucken

Anleitung zum Ungehorsam (2): Solidarność

Von Zeit zu Zeit gelingt es Menschen, sich quasi aus dem Nichts zu Bewegern der Geschichte aufzuschwingen. Einer von ihnen war Lech Wałęsa, einfacher Elektriker auf einer Werft an der polnischen Ostsee. Er wurde zur Schlüsselfigur einer Entwicklung, die ein die halbe Welt beherrschendes Machtsystem aus den Angeln heben sollte. Geboren wurde er am 29. September 1943 in einem Ort namens Popowo im „Reichsgau Danzig-Westpreußen“ im von Nazi-Deutschland mit brüderlicher Hilfe Sowjetrusslands zerstückelten, besetzten und malträtierten Polen. Der Vater, Tischler, starb 1945 in einem Außenlager des Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig. Warum er dorthin verschleppt worden war, ist unklar, vielleicht besaß auch er jenes Widerstandsgen und jenen Mut, der später seinen Sohn in die Weltgeschichte eingehen ließ.

Lech Wałęsa war ein unruhiger Geist an einem unruhigen Ort. Schon 1970 war es an der Lenin-Werft in Danzig, der größten des Landes, zu einer sozialen Eruption gekommen. Wegen der notorischen Ineffektivität der kommunistischen Planwirtschaft und der allgegenwärtigen Korruption steckte das Land unter Partei- und Regierungschef Władysław Gomułka in einer wirtschaftlichen Krise; kurz vor Weihnachten, ausgerechnet, wurden die Preise für Konsumgüter drastisch erhöht. Es kam zu Streiks und Aufständen und Wałęsa wurde Mitglied des Streikkomitees an der Lenin-Werft. Hilflos musste er mitansehen, wie der Aufstand von der Polizei blutig niedergeschlagen wurde. Er wurde verhaftet und zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt. Doch er ließ nicht locker. Als er 1976 Stimmen für eine Petition zur Errichtung eines Denkmals für die „gefallenen“ Werftarbeiter sammelte, verlor er seine Arbeit. Die zehnköpfige Familie lebte fortan von Zuwendungen seiner Freunde.

Wałęsa war ein Freiheitskämpfer par excellence und ließ sich durch staatliche Repression nicht entmutigen. 1978 gründete er eine polnische Untergrundgewerkschaft, ein Sakrileg in einem „realsozialistischen“ Staat, in dem der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit als aufgehoben gilt und echte Arbeitervertretungen mit Ausnahme der von der Partei gesteuerten „Einheitsgewerkschaft“ nicht vorgesehen sind. Erneut wurde er verhaftet, kam jedoch bald wieder frei.

Die Gründung der Solidarność fordert das kommunistische Regime heraus

Wieder war es eine akute Wirtschaftskrise, verbunden mit Preiserhöhungen für Lebensmittel, die 1980 in der Lenin-Werft und in anderen Werften entlang der polnischen Ostseeküste zu Unruhen führte. Die Streikenden in Danzig, dem Zentrum des Widerstandes, erhoben neben einer Gehaltserhöhung auch politische Forderungen: die Wiedereinstellung Lech Wałęsas sowie eine ebenfalls wegen ihres politischen Engagements entlassenen Kranführerin. Im weiteren Sinne ging es den Streikenden um die Schaffung eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, verbunden vor allem mit einer Verbesserung der Lebensbedingungen des „kleinen Mannes“. Diesmal griffen die Streiks aufs ganze Land über und die Regierung schreckte davor zurück, erneut Gewalt anzuwenden, die womöglich einen Bürgerkrieg heraufbeschworen hätte.

Der 31. August 1980 war die Stunde Null der neuen polnischen Arbeiterbewegung und des demokratischen Wandels im gesamten Ostblock. Die Direktoren der Lenin-Werft hatten sich zwei Wochen zuvor zwar dem Druck der Arbeiter teilweise gebeugt und Gehaltserhöhungen zugestimmt, doch der Streik ging weiter – bis zur Unterzeichnung des sogenannten Danziger Abkommens durch Polens Vize-Premier Mieczysław Jagielski und Lech Wałęsa, das erstmals in einem Land des sowjetischen Herrschaftsbereichs die Gründung systemunabhängiger Gewerkschaften zuließ. Es war die Magna Charta des neuen polnischen Freiheitskampfes.

Da der Damm damit gebrochen war, ging alles rasend schnell. Wałęsa gründete mit seinen Getreuen die Gewerkschaft Solidarität (Solidarność), der innerhalb kurzer Zeit fast zehn Millionen Polen beitraten, mehr als ein Viertel der polnischen Bevölkerung. Es war eine unerhörte Herausforderung für die polnischen Kommunisten und vor allem für deren vor Waffen strotzende Schutzmacht, die Sowjetunion, die um nahezu jeden Preis verhindern musste, dass Polen aus dem Kreis der Satellitenstaaten ausscheren und womöglich einen Dominoeffekt auslösen könnte, der das gesamte Herrschaftssystem des Warschauer Paktes schon damals hätte kollabieren lassen.

Lech Wałęsa: verhaftet, im Untergrund, schließlich Präsident

Am 13. Dezember 1981 erschien die Gestalt eines Uniformträgers mit einer getönten Brille auf den Mattscheiben des Landes: General Wojciech Jaruzelski, der im Februar des Jahres Ministerpräsident und im Oktober auch Parteichef geworden war, verkündete das Kriegsrecht, angeblich um eine Invasion von Truppen des Warschauer Paktes wie in der Tschechoslowakei oder Ungarn zu verhindern. Damit zerstob einstweilen der Traum von Freiheit und Demokratie. Die Gewerkschaft Solidarność wurde verboten, führende Mitglieder interniert, darunter Wałęsa selbst. Sie konnte fortan nur unter Gefahren im Untergrund agieren, hatte jedoch in Papst Johannes Paul II., der seit 1978 als erster Slawe auf dem Stuhl Petri saß, einen mächtigen Verbündeten. Kein Wunder, dass unmittelbar nach seinem Tod im April 2005 vor allem seine Landsleute den Ruf „Santo Subito“ für seine sofortige Heiligsprechung erschallen ließen. 2014 erfüllte Papst Franziskus den polnischen Gläubigen diesen sehnlichen Wunsch.

Zwei Jahre dauerte die bleierne Zeit, doch auch nach Aufhebung des Kriegsrechts 1983 blieb Solidarność verboten und trat erst im Sommer 1988 wieder offiziell in Erscheinung, als erneut Streiks ausbrachen, die am 6. Februar 1989 zum Beginn von Gesprächen am „Runden Tisch“ führten. Dessen Ergebnis waren wirtschaftliche Reformen, Gewerkschaftspluralismus und sogar teilweise freie Wahlen. Langsam hob sich der Eiserne Vorhang…

Wałęsa erhielt 1983 den Friedensnobelpreis; 1990 wurde der frühere Werftarbeiter, den polnische Intellektuelle wegen seiner derben Sprache oft belächelten, bei der ersten Volkswahl des polnischen Staatspräsidenten zum obersten Repräsentanten seines Landes gewählt. Derweil tobte der Streit um sein Vermächtnis, vor allem nachdem bekannt geworden war, dass er in den 70er Jahren unter dem Decknamen „Bolek“ eine Verpflichtungserklärung für den polnischen Staatssicherheitsdienst abgegeben hatte. War Wałęsa gar ein Verräter, der faule Kompromisse mit den damals Herrschenden einging und das kommunistische System mit seinen offenen oder verdeckt agierenden Seilschaften gewissermaßen in die postkommunistische Zeit hinüberrettete?

Heute scheint der Mann mit dem weißen Schnauzbart und dem ungeschlachten Äußeren, der viel dazu beitrug, ein menschenverachtendes System ohne Blutvergießen zum Einsturz zu bringen, zwischen allen Stühlen zu sitzen. Aber ist das nicht der beste Platz für einen Freiheitskämpfer?

Weitere Teile dieser Reihe:

Die EDSA-Revolution auf den Philippinen

Die Nelkenrevolution

Der arabische Frühling

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Fred Burig / 18.03.2021

Ach ja, die edlen Kämpfer*innen für das Gute. Sicher, ohne sie hätte es bestimmte Veränderungen nicht gegeben. Doch schaut man hinter die “Fassade” der Kämpfer*innen, schwindet oft der schöne Schein. “Wasser predigen und Wein saufen” - das ist fast all diesen Typen gemein. Schon bei Karl Marx war erkennbar, dass es zwischen seinen niedergeschriebenen Worten und seinen “Vorlieben” für’s “Bürgerliche” wohl einige Diskrepanzen gab. Lenin benahm sich auch nicht viel anders. Vielleicht ist halt der Mensch so, - sei’s drum. Nur sollte er sich dann eben beim “Moralisieren” etwas zurücknehmen. MfG

Erwin Koriander / 18.03.2021

Ich möchte einen Besuch der Danziger Werft empfehlen. Vor dem Werktor, auf einem runden Platz, steht das eindrucksvolle Denkmal für die gefallenen Werftarbeiter von 1970. Ein Stück weiter, auf dem ehemaligen Werftgelände, steht die denkmalgeschützte Arbeitsschutzhalle der Danziger Werft. Sie war Tagungsort und Stützpunkt des Streikkomitees. Das darin befindliche Museum gibt einen guten Eindruck von den damaligen Vorgängen und der Situation, in der sich das Streikkomitee befand. Man kann es geradezu spüren. Für interessierte Leser noch eine Buchempfehlung: Vielleicht auf Knien, aber vorwärts! Gespräche mit Lech Walesa von Jule Gatter-Klenk. Im antiquarischen Buchhandel erhältlich.

Hennig Velten / 18.03.2021

Alles schön und gut, aber die “Solidarität” des “Großen Elektrikers”, wie ihn die Polen heute spöttisch nennen, wurde überwiegend mit Geldern aus den USA finanziert. Das nimmt ihr die politische Unschuld. Parallelen zu den NGO von Soros drängen sich da geradezu auf. Man sollte auch immer das Zitat aus dem Erstlingswerk des bekannten polnischen Autors Stanislaw Lem im Ohr haben: “Als es gegen die Sowjetunion ging (im 2. Weltkrieg), haben wir den Deutschen die Schienen mit Butter geschmiert”.

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