Henryk M. Broder / 30.10.2018 / 10:00 / 20 / Seite ausdrucken

Anleitung zum Judesein

Vor genau 20 Jahren, im Herbst 1998, erschien im Droemer Knaur Verlag ein 300 Seiten dickes Buch mit einem schrägen Titel: „Nicht durch Geburt allein. Übertritt zum Judentum", herausgegeben von Walter Homolka und Esther Seidel, eine Art Gebrauchsanweisung für angehende Konvertiten, die das Judentum für sich entdeckt hatten. 

Nun ist es so: Einige meiner besten Freunde sind Konvertiten. Ich mag sie als Individuen, als Kollektiv kann ich sie nicht leiden. Unter anderem deswegen, weil sie es mit dem Judentum so halten wie katholische Pfarrer mit dem Zölibat. Sie nehmen es auf eine Weise ernst, die dem Sinn und der Tradition des Judentums zuwiderläuft. Natürlich kann man Judesein "lernen", was man essen darf und was nicht, wann welche Gebete gesprochen werden und derlei Nebensächlichkeiten. Was man nicht lernen kann, ist das, was das Judentum ausmacht. Die Mischung aus gutem Essen und schlechten Manieren, aus Paranoia und Lebenserfahrung, die über das eigene Leben hinausgeht. Und wenn ein Konvertit anfängt zu jiddeln oder jüdische Witze zu erzählen, überkommt mich das gleiche Gefühl wie bei einer Achterbahnfahrt. Dabei bin ich noch nie Achterbahn gefahren. Aber ich kann es mir vorstellen.

Walter Homolka – auf den ich aufmerksam wurde, weil sein Name wie „Hawelka" klingt – hat das Judentum von der Pike auf gelernt. Und man muss zugeben: Der Ehrenbürger von New Orleans macht es gut, kaum ein Amt, das er noch nicht bekleidet hätte, kaum eine Ehre, die ihm noch nicht zuteil geworden wäre, bis hin zu der Auszeichnung als "Person des Judentums (Potsdam)". Letztes Jahr wurde er zum Vorsitzenden der Union Progressiver Juden in Deutschland gewählt. 

Ein Marathon ist kein 100-Meter-Lauf

Aber das ist noch nicht das Ende der Fahnenstange. Anfang November, als Auftakt der Festspiele zum 80. Jahrestag der "Reichspogromnacht", findet in Berlin ein "Jüdischer Zukunftskongress" statt, Motto: „Weil ich hier leben will…“ Dazu gab es neulich eine "Pressemitteilung", die mit den Worten anfängt: Die Renaissance jüdischen Lebens in Deutschland ist ein Marathon und kein 100-Meter-Lauf“, sagt Rabbiner Walter Homolka, Vorsitzender der Leo Baeck Foundation. Wir stehen in unserer Gesellschaft vor einer kritischen Wegmarke. Der Jüdische Zukunftskongress ist jetzt wichtig, weil er Orientierung bietet. Orientierung für junge Jüdinnen und Juden, die hier leben und arbeiten wollen. Trotz allem.

Der jüdische Zukunftskongress, der u.a. von der Beauftragten zum Thema „Antisemitismus" der EU-Kommission in Brüssel, der Landeszentrale für politische Bildung (Berlin) und dem Zentralrat der Juden in Deutschland gefördert wird, hat sich viel vorgenommen. In den vier Tagen sollen Perspektiven für ein neues Miteinander in Berlin, in Deutschland und in Europa im Spannungsfeld von zunehmendem Antisemitismus und dem 80. Jahrestag der Novemberpogrome entwickelt werden. Das klingt echt vielversprechend, wie die elementare Frage: Ist die Basis wirklich die Grundlage des Fundaments? Eröffnet wird der Kongress – aufgepasst! – mit einer Komposition, einer Filmvorführung sowie der Präsentation des Buchs „Weil ich hier leben will…“, das von Rabbiner Walter Homolka und zwei seiner Mitarbeiter herausgegeben wurde

Wunderbar! Ging es vor 20 Jahren darum, wie man Jude wird, geht es heute um ein neues Miteinander in Berlin, in Deutschland und in Europa. Einfacher ausgedrückt, für Menschen, die Perspektiven für ein Fensterputzmittel halten: Die sieche Diaspora soll reanimiert werden, als Alternative zu Israel. 

Masal tov, liebe Mitjuden und Jüdinnen, und nun nichts wie vorwärts in die Vergangenheit, Ihr Knalltüten.

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Leserpost

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Thomas Taterka / 30.10.2018

Der Subtext bei solchen Verlautbarungen ist immer der gleiche: Wiedereinführung des Sozialismus mit anderen rhetorischen Mitteln. Wenn ich “Neues Miteinander, Neuanfang höre, als Gesprächsangebot , krieg’ ich gleich schlechte Laune. Überall , wo die ihre Vereine,Kieze etc. aufmachen, stinkt’s . Neulich ging ich an einem Plakat vorbei: Jugend gegen Faschismus.Also 100% DDR. Bringen sie das unter Freunden und Bekannten zur Sprache, fangen viele an zu theoretisieren. Die Leute sind naiv wie Kinder . Das ist -wirklich -schlimm! Absolut kein Instinkt für Gefahr.

Martin Lederer / 30.10.2018

Es gibt “Festspiele” zur Reichsprogromnacht? Was soll gefeiert werden?

Volker Kleinophorst / 30.10.2018

Bin etwas verwundert. Mir haben schon mehrfach Juden erklärt, man könne nicht konvertieren. Als Jude wird man geboren oder nicht.  Und zwar von einer jüdischen Mutter. Leo Baeck Foundation hat doch schon Merkel ausgezeichnet. Die hat sich ja um das jüdische Leben in deutschland unglaublich verdient gemacht. ;)

Heinrich Rabe / 30.10.2018

“Orientierung für junge Jüdinnen und Juden, die hier leben und arbeiten wollen. Trotz allem.” Die letzten beiden Worte bringen die ohnehin schräge Absicht vollends zu Fall. Wer irgendwo leben und arbeiten will, tut das, weil er bzw. sie sich von irgendetwas für die Zukunft angezogen fühlt, etwas für die Zukunft mag, schätzt oder gar bis zum Platzen geil findet. Wer diesen Diskurs per “Trotz allem.” in der Vergangenheit festnagelt und am Holocaust festbindet, macht ihn von vornherein sinnlos: vor dem Hintergrund des Holocaust muß jede persönliche Sympathie und Lust am Deutschland von heute, jeder persönliche Antrieb verblassen. Jüdisches Leben in Deutschland wird so auf das stellvertretende Weiterleiden und Mahnen reduziert und bleibt in ihm gefangen. Wie traurig, langweilig und ängstlich angesichts der Möglichkeit, daß es vielleicht auch eine Zukunft gibt, in der Juden in Deutschland primär einfach nur leben, weil sie das wollen, so wie es alle anderen auch tun, ohne von gutmeinenden Dritten ständig ihr Judesein und die Geschichte von vor fünfundsiebzig Jahren an die Stirn genagelt zu bekommen. Daß Herr Homolka das offenbar grundständig nicht begreift, macht ihn als Gesprächspartner für die Zukunft entbehrlich.

Wolfgang Kaufmann / 30.10.2018

Derartige Kongresse würden auch vier Wochen über die Frage diskutieren, wie sie mit ihrem überlegenen Wissen die Welt in nur anderthalb Tagen erschaffen hätten, und dann einen halben Tag frei bei vollem Lohnausgleich. – Müssen Linke immer Labertaschen sein? Irgendwie sollten wir da echt mal drüber reden…

Frank Stricker / 30.10.2018

Jüdisches Leben hat Deutschland seit jeher bereichert und ist Gott sei Dank fester Bestandteil unseres Zusammenlebens in Deutschland. Aber die Juden in Deutschland haben sicherlich einen besseren Präsidenten verdient als den blassen Herrn Schuster .  2015 Hat er noch mutig eine Obergrenze gefordert , heute gefällt er sich im Mainstream-Bashing der AFD zusammen mit Frau Knobloch , der Schönheitskönigin der Ü 100 .  Fehlt nur noch dass Michel Friedmann irgendwann der Nachfolger wird , dann wird aber eine Massenflucht Richtung Israel einsetzen !

Wilfried Cremer / 30.10.2018

Wer sagt denn, dass es aus ist mit dem Judentum, wenn der Messias kommt? Es ist ja auch nicht aus mit dem Sex, wenn der Orgasmus kommt.

Frank Burmester / 30.10.2018

Der 9. November - Jahrestag der Reichsprogromnacht und Tag der dicken Krokodilstränen. Dann werden wieder alle, die ansonsten den Antisemitismus in ihrem Umfeld konsequent schönreden, mit heiserer Stimme “wehret den Anfängen” rufen. Im Osten echauffiert man sich über den muslimischen Judenhass - dort, wo kaum Muslime leben. In den westdeutschen Metropolen demonstriert man gegen den Antisemitismus der Rechtsextremen - dort, wo es kaum Nazis gibt Der linke “Antizionismus” wird allerdings kaum thematisiert - weil er als “Israelkritk” inzwischen nahezu allgegenwärtig ist. Kurz : Der Kampf gegen Antisemitismus ist oft reine Spiegelfechterei und dient primär der eigenen Profilierung - sobald jedoch Widerstände zu erwarten sind, wird das Problem unter den Teppich gekehrt.

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