Das Reich der Mitte hat es Angela Merkel angetan. Gern reist sie in den Fernen Osten. Regelmäßig berät sie sich mit den Genossen der chinesischen Partei- und Staatsführung. Man versteht einander seit langem. 2012 ließ es sich die Bundeskanzlerin nicht nehmen, dem scheidenden Regierungschef Wen Jiabao noch einmal mit dem halben Ministertross ihre Aufwartung zu machen.
Den neuen, Xi Jimping, empfing sie im Frühling dieses Jahres in Berlin – wie es sich gehört nach altkommunistischem Ritual. Die Straßen, die der Gast mit seiner Eskorte passierte, waren sorgsam abgesperrt, gesäumt von fröhlich lachenden Menschen, die ihm mit bunten Fähnchen zuwinkten. Der Gegenbesuch, zu dem Angele Merkel gerade eben für vier Tage in China weilte, war der siebte seit ihrem Amtsantritt.
Die Beziehungen könnten besser nicht sein. Die Wirtschaft vermag kaum noch Schritt zu halten. Bei der Vielzahl der Regierungstreffen, befürchtete die FAZ dieser Tage, könnte „es schlichtweg nicht genügend neue Projekte“ geben, deren Zustandekommen sich als Resultate des politischen Handelns verbuchen lassen. In der Tat ist die Bilanz diesmal eher mager ausgefallen: zwei neue VW-Werke mit einer Investitionssumme von zwei Milliarden, die Lieferung von 123 Hubschraubern für ein paar Hundert Millionen, eine verstärkte Kooperation der Lufthansa mit Air China und die Einladung Chinas als Gastland der Cebit, das alles ist business as usual, wenn man bedenkt, dass sich das Handelsvolumen zwischen Deutschland und China 2013 auf rund 140 Milliarden Euro belief. Die vermeldeten Erfolge wirken zusammengekratzt, Peanuts angesichts der Unsummen, die ansonsten politisch verschoben werden.
Dass es dazu der Verhandlungen auf höchster staatlicher Ebene bedürfe, mag annehmen, wer auch noch glaubt, dass es ohne den Weihnachtsmann keine Weihnachtsgeschenke gäbe. Angele Merkel wäre nicht die Machtpolitikerin, als die sie viele bewundern, verehren oder fürchten, wenn es ihr nicht um sehr viel mehr ginge: um einen politischen Perspektivwechsel, den marktkonformen Umbau der bürgerlichen Gesellschaft.
Bisher galt es ausgemachte Sache, dass sich der Kapitalismus nur in einem freien, demokratisch gestalteten Gemeinwesen auf Dauer erfolgreich entfalten kann. In den autokratisch regierten Ländern krankte die Wirtschaft allemal, bis zum Bankrott in den kommunistisch geführten. Nun aber zeigen uns die chinesischen Kommunisten mit überwältigendem Erfolg, dass kapitalistisches Wachstum und steigender Wohlstand keineswegs mit der Entfaltung demokratischer Verhältnisse einhergehen müssen. Das von den Mao-Erben beherrschte Großreich ist zum glitzernden Modell einer politisch entmündigten Konsumgesellschaft geworden. Die Einkommen wachsen. Viele sind vom Fahrrad auf den BMW umgestiegen. Es geht den Menschen gut, solange sie sich aus der Politik heraushalten, deren Überlegenheit anerkennen und keinen Anspruch auf die Bürgerrechte erheben, der Führung nicht ins Handwerk pfuschen.
Dem westlichen als dem hergebrachten steht das neue östliche Kapitalismusmodell gegenüber. Eine große Versuchung für alle Politiker, die sich ihre Macht durch Wachstum um jeden Preis erkaufen müssen, weil sie dem Volk nicht mehr als steigenden materiellen Wohlstand zu bieten wissen. Auf dieser Ebene verstehen sich die chinesische Staatschef Xi Jimping und die deutsche Bundeskanzlerin offenbar ganz prima. Hat doch auch sie im letzten Wahlkampf, während eines Fernsehduells mit ihrem Herausforderer Peer Steinbrück, erklärt, entscheidend sei einzig und allein, dass „die Menschen mehr Geld in der Tasche“ haben.
Auf verlorenem Posten steht sie mit dieser Haltung keineswegs, weder national noch international. Auch Putin, mit dem Angela Merkel bekanntlich einen guten Faden spinnt, hat diesen Weg eingeschlagen. Auch er festigt seine autokratische Herrschaft, indem er den Lebensstandard seines Volkes anhebt.
Dass er das mit fester Hand tut, ohne Rücksicht auf Umwelt oder Demokratie, wird ihm nicht zuletzt hierzulande hoch angerechnet. Der starke Mann beindruckt die Verunsicherten. Ungeachtet der Ukrainekrise und der Annexion der Krim wünschen sich 40 Prozent der Deutschen eine engere Zusammenarbeit mit Russland, während 57 Prozent für eine deutliche Abkehr von Amerika votieren.
Die Tore zum Osten sind aufgestoßen. Die freiheitlichen Ideale des Westens scheinen an Zugkraft zu verlieren. Das Reich der Mitte hat es nicht bloß Angela Merkel angetan. Sie geht nur beherzt voran. Auf der ersten Station ihrer letzten Chinareise, in Chengdu, hat sie schon einmal Gong Bao Jiding gekostet, scharfes Hühnchen mit Bambus.