Monika Maron, Gastautor / 05.10.2015 / 17:58 / 5 / Seite ausdrucken

Angela Merkels Zumutung für alle Europäer

Monika Maron

Jetzt reicht’s mir aber – mit diesem Satz im Kopf begann bisher jeder Artikel, in dem ich mich zu aktuellen politischen Themen zu Wort gemeldet habe. In der Debatte um den Flüchtlingsstrom kam er mir bislang nicht in den Sinn, weil ich viele kluge Beiträge zu den Ereignissen gelesen habe, die offenbar an dem unheimlichen Geschehen nichts zu ändern vermochten. Warum also noch einen wirkungslosen Text mehr schreiben?

Nun hat mir Thomas Schmid mit einem Beitrag in der WELT doch noch zu dem Reflex verholfen, eigentlich nur mit einem Satz, in dem er Angela Merkels Politik und Politikstil erklärt. Thomas Schmid unterstellt Angela Merkel den großen Entwurf. Sie wolle Europa zu einem politischen Subjekt vereinigen und den Islam demokratisieren. Und das alles könne sie, weil sie als Migrantin den Vorteil besäße, “der Migranten schon immer ausgezeichnet hat: An der neuen Welt hängt nicht ihr Herz, sie können daher funktionaler mit ihr umgehen“.

Es beginnt mit der unsinnigen Behauptung, alle Ostdeutschen wären Migranten, wie auch der Vergleich der ostdeutschen Flüchtlinge und später der von Ost nach West ziehenden Arbeitssuchenden mit der heutigen Migration von Millionen arabischer Muslime unlauter und absurd ist.

Nur zur Erinnerung: Die deutsche Teilung war das Ergebnis gemeinsamer Kriegsschuld, die nur von den Ostdeutschen mit jahrzehntelanger Unfreiheit bezahlt wurde, was nichts daran änderte, daß sie Deutsche waren, der deutschen Sprache mächtig, gut ausgebildet, sie hatten nicht weniger Goethe und Schiller gelesen, Bach, Beethoven und Mozart gehört als die Westdeutschen. Und die ostdeutschen Frauen waren, wenn auch eher praktisch als ideologisch, emanzipierter als viele westdeutsche. Daß vierzig Jahre Diktatur ihre Spuren in der kollektiven Psyche hinterlassen hatten, läßt sich nicht bestreiten, aber es waren Spuren nicht in irgendeiner, sondern in der deutschen Seele.

Angela Merkel ist also keine Migrantin, ganz abgesehen davon, daß sie nicht aus der DDR ausgereist und in die Bundesrepublik eingereist ist. Sie wurde wiedervereinigt, blieb, wie die meisten Ostdeutschen, in ihrer Stadt, sogar in ihrer Wohnung; nur die Verhältnisse hatten sich geändert. Niemand würde behaupten, daß die Polen, Tschechen, Ungarn, Slowaken heute alle Migranten im eigenen Land sind. Warum dann die Ostdeutschen?

Schlimmer als diese Entnationalisierung der Ostdeutschen ist die Behauptung, Angela Merkels Herz, und damit ja auch unsere ostdeutschen Herzen hingen nicht an dieser neuen Welt, weshalb wir funktionaler mit ihr umgehen könnten.

Vielleicht ist es ja gerade umgekehrt und die Herzen derer, die sich 1989 befreit und nicht erobert fühlten – und das waren die meisten Ostdeutschen –, hängen an dieser neuen Welt inniger als jene, denen die persönliche Freiheit eine Selbstverständlichkeit ist. Ich, lieber Thomas Schmid, hänge an der verbürgten Freiheit des Wortes, an der Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, am Rechtsstaat und an der Demokratie, und ich leide, wenn auf diese Freiheit freiwillig verzichtet wird. Ich leide, wenn ich Argumente hören muß, die mir aus meiner alten Welt noch in den Ohren klingen: Man dürfe dieses und jenes nicht sagen, weil es den falschen Leuten nütze. Diese „neue Welt“ war den meisten Ostdeutschen vertraut als Ort ihrer Sehnsucht nach einem freien Leben, und sie sind empfindlich, wenn diese gewonnene Freiheit durch eine reglementierte Sprache und mediale Erziehungsprogramme geschrumpft und entstellt wird.

Angela Merkel ist nicht so machtversessen, weil sie aus dem Osten ist, sondern weil sie Angela Merkel ist und weil ihre Partei es ihr erlaubt hat, was wiederum an Merkels unerschütterlicher Beliebtheit liegt, jedenfalls bis vor kurzem lag. Warum sie so beliebt ist oder war, erklärt nun wieder die gemeinsame deutsche Seele, die in dem Unspektakulären, Uneleganten, sogar in der bescheidenen Rhetorik mehr Seriosität zu erkennen glaubt als in einer entschiedenen Politik, die es wagt, den Bürgern die Wahrheit zuzumuten.

Daß ausgerechnet Angela Merkel nun für die größte Zumutung, nicht nur für die Deutschen, sondern für alle Europäer, gesorgt hat, schreckt uns auf aus der deutschen Gemütlichkeit. Eine Million Menschen, vorwiegend junge, muslimische Männer, und das nur in diesem Jahr, strömen unkontrolliert nach Deutschland und werden, wie uns Rot, Grün und Schwarz einmütig versichern, unser Land verändern, und zwar zum Besseren, wie gern hinzugefügt wird. An ihnen wird sich Thomas Schmids Diagnose der Migrantenseele vermutlich bewahrheiten. Ihr Herz hängt nicht an der neuen Welt, und sie können darum funktionaler mit ihr umgehen.

Was das für Deutschland und Europa bedeutet, wird sich bald zeigen.

Zuerst erschienen in der Print-WELT von heute

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Leserpost

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Johannes Schölzel / 06.10.2015

“...Politik, die es wagt, den Bürgern die Wahrheit zuzumuten.” Was ist Wahrheit? Und vor allem, was ist in dieser Krise die Wahrheit? Es gibt viele Wahrheiten. Eine lautet, wenn die Flüchtlingsströme schnell gestoppt würden, ginge das nur mit brachialen Methoden, die dem schon vorhandenen menschlichen Leid,  den Wasserwerfer, Zahndrähte und Knüppel hinzufügen würden. (Man will sich die Bilder nicht ausmalen.) Eine weitere Wahrheit lautet: Auch wir in Europa haben Anteil an dem Dilemma im Nahen Osten. Noch eine Wahrheit: die Bewältigung der Krise wird lange dauern und nicht ohne Opfer, finanziellen und sozialen Belastungen abgehen. Wahr ist auch: in jeder Krise tauchen nationalistische, fremdenfeindliche Reflexe, die schon überwunden geglaubt waren, auf. Wahr ist auch Deutschland kann die Krise nicht alleine bewältigen. Wahr ist, das Land wird sich verändern. Wahr ist, dass in Europa kaum ein gemeinsames Denken und gemeinsame europäische Identität existieren. So könnte man das fortführen. Was mich wirklich entsetzt an diesem Artikel, den ja eine Autorin von Rang schreibt, (und man deshalb davon ausgehen muss, dass sie weiß was sie tut) ist dieser raunend warnende Unterton, der im letzten Satz kulminiert: “Was das für Deutschland und Europa bedeutet, wird sich bald zeigen.” Ansonsten fällt mir auf, dass viele ostdeutsche Intellektuelle, den Begriff Freiheit vor allem nationalstaatlich sehen, und nicht gelernt haben, dass die Unterscheidung DIE und WIR nur Unrecht hervorbringt.

Burkhart Berthold / 06.10.2015

Vielen Dank, Frau Maron! Herr Schmid verpasst gerade den Zug, wie es ausschaut: Viele andere Einwanderungsförderer beginnen offenbar schon, sich von ihrem Engagement zu distanzieren. Die Äußerungen des Herrn Bundespräsidenten sind ein sicheres Indiz. Woran das Herz der Einwanderer hängt, werden wir im Verlauf der Intifada von 2020 lernen; woran das Herz der Frau Bundeskanzlerin hängt, wird uns ewig verborgen bleiben. Vermutlich hat sie - im übertragenen Sinne - gar keines.

Roland Müller / 06.10.2015

Alle Entscheidungen Merkels, von der Energiewende bis zur Öffnung der Grenzen für die Invasoren, deuten für mich darauf hin, dass sie den Untergang ihrer geliebten DDR nie verwunden hat. Sie ergreift jegliche Chance, die sich ihr bietet, die BRD an die Wand zu fahren. Damit möchte sie beweisen, dass unser demokratisch, kapitalistisches System dem kommunistischen keineswegs überlegen ist, und genauso wie dieses scheitern kann. Die größte Ironie ist, hätte die DDR weitere 25 Jahre durchgehalten und wie China einen marktliberalen Staatskapitalismus eingeführt, würden heute Wessis versuchen die Mauer zu überwinden, um dem Chaos hier zu entfliehen.

Peter Zeller / 06.10.2015

Frau Maron! Schreiben Sie doch mal, wie Sie es besser gemacht hätten. Das fehlt in all diesen bescheidenen Jammerkommentaren über die Kanzlerin. Sie langweilen.

Hinrich Mock / 05.10.2015

Schön, daß mal jemand die europäische Dimension des merkel’schen Wahnsinns zur Sprache bringt. Von außen betrachtet wirkt dieses beispiellose deutsche Staatsversagen, das nun nach langer Entwicklung vollkommen offenbar wird, wie die endgültige und unkontrollierbare Entfesselung eines autistischen Furors. Den Schaden für uns durch den Schaden in das Vertrauen in uns kann man sich leicht vorstellen vergleicht man nur die Normalität in anderen Ländern mit dem Zustand hierzulande, wo der inzwischen hundertausendfache Bruch des Art. 16 a (2) des GG kaum jemanden zu interessieren scheint. Ganz im Gegenteil, von der Schmierpresse bis zu den Bischöfen sind alle ganz einverstanden und treten dabei den Rechtsstaat in seinem Kernbereich mit Füßen. Das geht über “Flüchtlingshilfe” weit hinaus direkt in den kollektiven Wahnsinn und wieder versagen die Eliten nicht nur fast vollständig, sondern führen ihn in ihrer Verblendung lautstark an, als hätten sie nicht längst schon zuviel falsch gemacht in Bezug auf die Einwanderungspolitik (die man gar nicht so nennen kann).

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