Wolfram Weimer / 17.07.2019 / 16:33 / Foto: Pixabay / 35 / Seite ausdrucken

Angela Merkel: gespaltene Geburtstagsgesellschaft

Donald Trump würde Cheerleader hüpfen lassen, bei Putin dürften die Kosaken auftanzen, Macron hätte eine Militärparade mit fliegender Geburtstagstorte parat. Angela Merkel hingegen feiert ihren 65. Geburtstag preußisch-protestantisch: Sie arbeitet. Es wird an diesem Mittwoch wie an jedem anderen Mittwoch eine Kabinettssitzung abgehalten und Merkel wird sie protokollgetreu leiten. Es wird ein Glas Sprudelwasser geben und eine Wiedervorlagemappe. Wie immer.

Dabei ist dieser 65. einer der letzten Geburtstage Merkels als Kanzlerin. Auch deshalb zieht halb Deutschland Bilanz, als ginge sie jetzt in Rente. Die Zitterauftritte der letzten Wochen, der Konjunktureinbruch, das Taumeln der Großen Koalition, die Selbstdemontage der SPD, der Brexit, das Auftrumpfen der AfD in Ostdeutschland – es scheint sich vieles zu einem Endzeitbild um Angela Merkel zu fügen. Das gefühlte Ende einer Ära rückt mit diesem Geburtstag näher. Und so fragen sich viele: Was war das eigentlich für eine Kanzlerschaft?

Die Merkel-Verfechter sagen, sie habe Deutschland anderthalb Jahrzehnte souverän geführt und das Ansehen des Landes gestärkt. Sie sei als erste Kanzlerin der Geschichte vielen Frauen in der ganzen Welt ein Vorbild geworden. Ihre ausgleichende Konzilianz, ihr leiser Pragmatismus und ihre uneitle Art gelten in einer Welt des dröhnenden Neo-Despotismus als wohltuend, ihre Tonlage freundlicher Dezenz wird rund um den Erdball geschätzt. Sie habe Deutschland damit ein sympathisches Gesicht verliehen. Auf der Habenseite ihres politischen Kontos liegt auch ein wirtschaftlich erfolgreiches Jahrzehnt für Deutschland. Die Arbeitslosigkeit ist drastisch verringert, die Staatshaushalte sind ausgeglichen, die Deutschen so wohlhabend wie noch nie.

Eine überhastete, undurchdachte Energiewende

Die Merkel-Kritiker verweisen dagegen auf ein schwer verunsichertes Deutschland, eine zusehends polarisierte Gesellschaft, zertrümmerte Volksparteien und den Aufstieg des Rechtspopulismus: alles Alarmzeichen einer erfolgsarmen Kanzlerschaft, die wirtschaftlich von den Agenda-Reformen ihres Vorgängers bloß profitiert habe. Ihre beiden größten politischen Fehler – die Energie- und Klimapolitik sowie das Migrationshandling – hätten reichlich Flurschäden angerichtet. Eine überhastete, undurchdachte Energiewende schwäche mit den höchsten Strompreisen der Welt den Standort Deutschland und habe doch die klimapolitischen Ziele verfehlt. Und die Alleingänge der Kanzlerin in der Zuwanderungsfrage hätten Deutschland wie Europa tief gespalten.

Beide Seiten haben Argumente auf ihrer Seite. Doch im großen Bild der Kanzlerschaft werden womöglich andere Kontraste sichtbar bleiben. Denn ausgerechnet die CDU-Kanzlerin hat Deutschland erstaunlich modernisiert. Von der Abschaffung der Wehrpflicht bis zur Homo-Ehe, von der Liberalisierung des Busfernverkehrs bis zum Einstieg in die Euro-Armee, vom Schub in Genderfragen bis zur wirtschaftlichen Internationalisierung und umfassenden Digitalisierung zieht sich eine tiefe Spur der Modernisierung durch die Merkel-Jahre. Der Kanzlerin ist es dabei gelungen, die jeweils umstrittenen Fortschritte so zu moderieren, dass sie sich geschmeidig anfühlten. Kurzum: Sie schaffte ein fruchtbares Klima des Modernisierungs-Biedermeiers. Selten gelangen Deutschland so viele Modernisierungen bei gleichzeitig so wenigen sozialen Konflikten wie unter ihrer Ägide. Erst die Migrationskrise und nun die Klimadebatte beenden dieses Biedermeier 2.0.

So mischen sich in die zwiespältigen Bilanzen dunkle Ahnungen und Mahnungen vom baldigen Zusammenbruch der Merkel-Macht. Ab September 2019 stehen drei Landtagswahlen an, bei denen es für die Volksparteien wohl zu weiteren Erschütterungen kommen wird. Dass die SPD dann politischen Selbstmord aus Angst vor dem Tod begeht, ist zusehends denkbar. Das Ende Merkels wäre dann recht nah.

Der trügerische Schein der Merkel-Dämmerung

Doch andererseits hat der Schein der vermeintlichen Merkel-Dämmerung schon manches Mal getrogen. Denn trotz aller Verwerfungen und Schleifspuren einer langen Regentschaft ist Angela Merkel auch an ihrem 65. Geburtstag mit immer noch hohen Beliebtheitswerten verwöhnt. Sie rühren aus dem politischen Nimbus der Bescheidenheit und Selbstlosigkeit, die aus einer Politikerin eine “Mutti” haben werden lassen. Diese Akzeptanz ist nicht nur ihr höchstes Kapital, sie ist auch ihr schönstes Geburtstagsgeschenk.

Mit fast 14 Dienstjahren überholt Angela Merkel jedenfalls die Bundeskanzler Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger, Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder an Amtsdauer. Nun dringt sie in die Gefilde der beiden Kanzlerlegenden Konrad Adenauer und Helmut Kohl vor. Und sie scheint entschlossen, beide einzuholen und die letzten beiden Jahre ihrer Amtszeit preußisch diszipliniert zu Ende zu bringen. Mit Wasser und Wiedervorlagemappe.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf The European

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Leserpost

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Christian Feider / 17.07.2019

noch ein CDU Speichellecker,der eine Geburtstagskerze anzündet….sollte mal durch jede beliebige Kreisstadt vormittags gehen und zählen,wieviele “deutsche” Menschen er dort noch antreffen wird! Honnecker’s Rache hat zugeschlagen und Ihresgleichen hat das bis heute zugelassen

Hein Tiede / 17.07.2019

Auf diese Modernisierung hätte ich gerne verzichtet. “Denn ausgerechnet die CDU-Kanzlerin hat Deutschland erstaunlich modernisiert. Von der Abschaffung der Wehrpflicht bis zur Homo-Ehe, von der Liberalisierung des Busfernverkehrs bis zum Einstieg in die Euro-Armee, vom Schub in Genderfragen bis zur wirtschaftlichen Internationalisierung und umfassenden Digitalisierung zieht sich eine tiefe Spur der Modernisierung durch die Merkel-Jahre.” Die Abschaffung der Wehrpflicht hat die Personalprobleme der Bundeswehr verschärft. Eine Ehe ist eine Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau und wird durch das Grundgesetz geschützt. Erotische Verhältnisse beliebiger Art stehen nicht unter seinem Schutz. Busfernverkehr lasse ich gelten. Euro-Armee? Wo, wie, wer? Gender ist eine ganz schlimme Ideologie und von einer umfassenden Digitalisierung sehe ich nichts. Wenn, ist sie eher Google, Amazon, Facebook und Co zu verdanken als dieser Kanzlerin.

S.Niemeyer / 17.07.2019

Dafür gibt’s jetzt Bienchen ins Mutti-Heft!

Rainer Niersberger / 17.07.2019

Ein erstaunlicher Befund, einer Eloge gleich, der natürlich voraussetzt, die mehr als offenkundigen schwersten Probleme dieses Landes, der Euro würde glatt vergessen, erfolgreich zu verdrängen. „Vergessen“ wurden desaströse Infrastruktur, höchste Abgaben, miserable Bildung, ungelöste Rentenproblematik, ausufernde Staatsquote, zensierte Meinungsfreiheit, belastete Sozialkassen, abgesehen davon, dass die Digitalisierung ( was macht eigentlich die zuständige Ministerin ?) bestenfalls auf der Höhe Burundis liegt. Ob Wehrpflichtabschaffung,, Genderismus mit Quotenregelungen und das zweifellos „wichtigste“ Thema, die Homoehe, zu den „ Erfolgen“ zählen, bleibt mindestens abzuwarten, Zweifel sind angebracht,  und die Euroarmee kann ich nicht erkennen, von vielen ungelösten Fragen dazu ganz abgesehen. Frau Merkel, sehr geehrter Herr Weimer, hat zwar jede Probleme geschaffen, ist jedoch keines auch nur angegangen oder hat es zumindest einer Lösung nähergebracht. Und den von ihr verursachten Zustand der Gesellschaft, der „Demokratie“( Abschaffung der Gewaltenkontrolle zugunsten der Exekutive )und des Rechts sowie der Sicherheit sollten wir nicht ganz vergessen. Hier geht es an das Eingemachte. Ich wundere mich sehr, wie man bei einer derart desaströsen Bilanz, die uns noch mächtig( er)  auf die Füße fallen wird, über eine derart lange Zeit tatsächlich noch etwas ( oder sogar viel )Positives findet. Das protestantische Pflichtbewusstsein reicht nicht nur nicht aus, gerade der ( ( Luther)Protestantismus, Herr Weimer, ist ein wichtiger Teil des ( deutschen) Problems. Gehen Sie bitte davon aus, dass Frau Merkel die sozialistische Volksrepublik Deutschland im Visier hat. Elogen sind hier völlig deplatziert.

Hans Walter Müller / 17.07.2019

Ist Josef Ackermann eingeladen? Er soll sich ja mit Geburtstagsfeiern im Kanzleramt auskennen!

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