Wolfram Weimer / 07.05.2020 / 06:29 / Foto: Frankie Fouganthin / 105 / Seite ausdrucken

Anders Tegnell: Der Stachel im Fleisch der Corona-Politik

Schwedens Staatsepidemiologe Anders Tegnell spaltet die Gemüter. Er trägt weder Anzüge noch Medizinerkittel. Er vermeidet jedes Pathos und Wissenschaftlergehabe. Im Strickpullover erklärt er mit lässiger Onkelhaftigkeit den Schweden seit Wochen seine Strategie zur Pandemie-Bekämpfung. Und die hat es in sich. Denn Tegnell hat in Schweden einen mutigen Sonderweg durchgesetzt.

Anders als fast alle westlichen Staaten hält man im Tegnell-Schweden nichts von radikalen Massen-Quarantänen mit wochenlangen Ausgangssperren und Kontaktverboten. Shutdowns mit extremen Freiheitsbeschränkungen und einer ruinösen Vollbremsung der Volkswirtschaft kritisiert Tegnell offen als Fehler. Eine „Pumpbromsa“-Strategie wie in Deutschland sei der falsche Weg. Pumpbromsa heißt im Schwedischen die Stotterbremse – man könne ganze Gesellschaften nicht erst voll bremsen, dann wieder anfahren und möglichweise nochmal vollbremsen. Tegnell hält pauschale Abschottungen an Grenzen oder Schulschließungen sogar für „völlig sinnlose Maßnahmen“.

Tegnells Strategie, mit offenen Schulen, Geschäften, Restaurants und einer weiter laufenden Wirtschaft lieber einer intelligenten Selbstkontrolle der Bürger zu vertrauen, ist hoch umstritten. Kritiker werfen ihm vor, Schweden habe damit einen hohen Opferzoll zu zahlen. Sie verweisen darauf, dass in Schweden schon 2.770 Menschen an Corona gestorben seien. Das sind 274 Todesopfer pro Million Einwohner. Zum Vergleich: In Deutschland (82), Dänemark (85) und Norwegen (sogar nur 39) sind es viel weniger Todesopfer.

Die Verteidiger Tegnells führen ins Feld, dass er die Kollateralschäden Schwedens viel kleiner gehalten habe. Nicht nur die Wirtschaft komme viel besser durch die Krise als die in vielen Lockdown-Staaten. Auch bei medizinischen (die Unterversorgung anderer Krankheiten in der Pandemie) und sozialen Nebenschäden (von häuslicher Gewalt bis zu Selbstmorden) sei Schweden nicht so negativ betroffen. Trotz der liberalen Strategie sei im Übrigen die Opferquote in Schweden viel niedriger als in strengen Lockdown-Staaten wie Italien (481 Tote je Million Einwohner), Spanien (544), Belgien (684) oder Frankreich (381). Das Offenhalten von Gesellschaft und Wirtschaft habe also nicht – wie von Kontaktsperren-Befürwortern mahnend vorhergesagt – zu einer Katastrophe geführt.

Tatsächlich fallen seit Ostern die Neuinfektions- und Todeszahlen auch in Schweden. „Die Pandemie ebbt allmählich ab“, erklärt Tegnell dem Sender SVT. Die Gesundheitsbehörde in Stockholm meldet, dass seit dem 10. April der R-Wert relativ stabil bei rund 1,0 gelegen habe. Inzwischen soll dieser bei 0,85 liegen. Ähnlich wie in Deutschland – nur eben mit offenen Schulen und Restaurants.

Zwischen den Lagern in der Schweden-Debatte verweisen Mittler darauf, dass die Schweden zwar ein freiwilliges, aber doch auch aktives „Social distancing“ praktiziert hätten. Insofern handele es sich nur um einen halben Sonderweg.

Die Legitimation für den Lockdown wankt

Die Bewertung von Schwedens liberalem Weg ist gleichwohl für die politischen Öffnungsdebatten in vielen anderen Staaten – auch in Deutschland – von großer Bedeutung. Denn wenn Schweden es mit weiträumiger Offenheit relativ gut durch die Krise schafft, dann fehlt mancher Regierung nicht bloß die Legitimation für fortgesetzte Kontaktsperren, Grenz- und Geschäftsschließungen. Auch rückblickend erscheint dann die Lockdown-Strategie als falsch, fordert sie doch vielerorts einen sehr hohen Preis wirtschaftlichen und sozialen Schadens. Dass nun die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den schwedischen Weg ausdrücklich lobt, ist daher politisch für viele Regierungen Europas brisant.

Vor allem mit Blick auf das zweite Halbjahr werden manche Berater in Berlin, Rom, Paris und Madrid zusehends nervös. Denn in allen Lockdown-Staaten herrscht große Sorge vor einer möglichen zweiten Infektionswelle. In Schweden hingegen hat Tegnell von Anfang an damit argumentiert, dass man eine offene Gesellschaft besser sanft und gezielt immunisiert, als sie streng und nutzlos zu isolieren. Massenhafte Kontaktsperren führten nur dazu, dass der Erreger im Herbst wiederkehren werde, mahnte Tegnell bereits im März. In Schweden seien heute viel mehr Menschen bereits immunisiert als in Deutschland. Damit sinke das Risiko einer zweiten Welle. Die sogenannte „Flockimmunitet“ (Herdenimmunität) könnte am Ende dazu führen, dass Schweden zwar im März etwas schlechtere Zahlen hatte als in Deutschland und Dänemark. Im Herbst aber könnte sich das dann gewaltig drehen.

Tegnell ruft daher in dieser Woche seinen Kritikern zu: „Wir sind noch lange nicht am Ende der Straße angekommen, deshalb wissen wir nicht, wie das Endergebnis aussehen wird.“ Der gerne gescholtene, liberale Mann mit den Strickpullovern könnte dann die vielen strengen Herren in weißen Kitteln und Krawatten eines Besseren belehrt haben.

Dieser Artikel erschien zuerst auf n-tv.de sowie bei The European.

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Leserpost

netiquette:

Paul Braun / 07.05.2020

Ich hätte diese Chinesische Grippe schon gerne mal gehabt und wäre resistent. Ich vertraue dabei auf meinen Körper den mir der Herrgott gegeben hat.

Dov Nesher / 07.05.2020

@Thomas Brox. Da anzunehmen ist, dass die “Corona-Maßnahmen” einen reduzierenden Effekt auf die Sterblichkeit durch andere Infektionskrankheiten hat, ist diese Rechnung viel zu einfach. Wenn es eine nur geringe “Übersterblichkeit” gibt, dann weiß man nicht woraus sich diese ergibt. Der Schluss, dass “Corona” nicht so schlimm ist, ist leider ein Kurzschluss.

sybille eden / 07.05.2020

Quasi sozialistische Länder wie BRD, Frankreich ,Spanien und Italien brauchen nun mal den oder die grosse/n Vorsitzende/n die sagen wo es lang geht. Liberale Eigenverantwortung ist nicht erwünscht und schon garnicht “hilfreich”. Logisch, sonst wären es ja auch keine sozialistischen Länder. Recht und Gesetz werden nur angewendet wenn es der Regierung in den Kram passt. Ansonsten stören diese Sachen nur beim Durchregieren oder Transformieren.

Stephan Bujnoch / 07.05.2020

Daß die WHO die Schweden lobt, wundert nicht. Dieser Club von überbezahlten Funktionären hat überhaupt keine Verantwortung irgendeiner Bevölkerungsgruppe gegenüber, weltweit. Deshalb hängt man jetzt sein Fähnchen in den Wind, nach der Devise, wir habens ja von Anfang an gewusst. Bei der Würdigung des schwedischen Kurses durch das Corona Tal muß man m.M. nach bedenken, daß in Schweden keine Agglomerationen vergleichbar zum Resteuropa existieren, die Leute - von der Stadt abgesehen “verlaufen” sich einfach in der Fläche, was bedeutet, daß die Begegnungswahrscheinlichkeit über die Zeit mit vielen fremden Personen für große Bevölkerungsteile vergleichsweise deutlich geringer sein dürfte. Der lockdownund seine Argumentation wankt nicht, weil anfangs sichergestellt werden musste, daß das medizinische System nicht von einem “Tsunami” überrollt wird. Was dann aber sträflich gefehlt hat, war, schnellstens durch Tests das Ausmaß stiller Infektionen und damit das wahre Gefahrenpotential des Virus zu bestimmen. Wenn Herr Streeck nicht bei Laschet angeklpft hätte, wäre derlei nicht passiert. Die Ergebnisse wurden in Berlin auch nicht zur Kenntnis genommen,- was not invented here, forget about it. Dies geschah weder fahrlässig oder grob fahrlässig, nein, das Ausblenden dieser Kenntnisse war intendiert,- bis heute. Die wirtschaftlichen Rückschläge, die uns wegen dieser Verzögerung noch ins Haus stehen, wären ohne diese wohlbekannte Politik des Aussitzens deutlich geringer gewesen, als sie jetzt sein werden.

Jürgen F. Matthes / 07.05.2020

Schweden hat sich so verhalten, wie es in Deutschland während der Grippesaison immer üblich war: Abstand halten zu Infizierten und kein Händeschütteln. Spätestens Mitte März ebbte immer die “Welle” ab. Im April war es meist vorbei. So auch dieses Mal. Deshalb hat das RKI auch seine Presseberichte eingestellt, denn “Die Grippewelle der Saison 2019/20 endete mit der 12. KW 2020”. Wer dennoch die Übersterblichkeit mit vergangenen Jahren vergleichen will, hat Pech. Weil das Statistische Bundesamt für eine Übersterblichkeit in den Monaten Januar bis März 2020 “aktuell keine Hinweise” hat, werden ab April keine Zahlen mehr angegeben. Vergleicht man die Zahlen bis März, erkennt man, daß der von der deutschen Regierung Ende März verordnete Lockdown auf die Grippewelle wirkungslos war, aber einen gewaltigen wirtschaftlichen Schaden angerichtet hat. Das ist der Unterschied zu den Schweden. 

Dr. Ralph Buitoni / 07.05.2020

Immer wieder ließt man in der Mittelstrompresse und auch in Kommentaren hier, dass Schweden mit Deutschland nicht vergleibar sei, da “so dünn besiedelt”. Um Himmels willen, was haben die Menschen für Vorstellungen über Schweden? Dass die Menschen dort geographisch gleich verteilt über die ganze riesige Fläche leben? Jeder in seiner Höhle mit seinem Lieblings-Rentier, oder auch in rot gestrichenen Villa-Kunterbunt-Häusern mit komischen Pferden? Die schwedische Bevölkerung lebt genau so überwiegend in dicht besiedelten Städten und Dörfern wie die Menschen in Mitteleuropa, mit vergleichbar vielen Sozialkontakten in Familien, mit Freunden, beim Einkauf oder im Büro. Ok, ein paar einsam lebende Holzfäller und Elch-Jäger gibt es auch, aber solche Außenseiter findet man auch im bayerischen Wald.

Heuer, Ulrich / 07.05.2020

Wenn man sich durch die Leserbriefe arbeitet weiß man wieso die Merkel, Söder und Co bis zu 80% Zustimmung haben. Gehts noch? Wo ist die erste Welle ? Die Zahl der im Land Verstorbenen ist um 0 Personen höher als 2017/18/19 gemessen an den ersten 3 Monaten des Jahres. Jetzt warten alle auf die 2. und 3. Welle. Ich bin sichtlich schockiert auf dieser Plattform soviel Naivität zu finden. Ende der Durchsage

J. Schad / 07.05.2020

Die Schweden haben ganz einfach die Strategie gegen Corona gewählt, die durchsetzbar war bei über 60 muslimische No-Go-Areas, wo sich selbst die Polizei nur unter Verstärkung reintraut, wo keine Post mehr zugestellt wird und wo das schwedische Rechtssystem zusammengefallen ist. Im Neusprech heißt das dann: “Wir vertrauen ausschließlich auf die Eigenverantwortung!” Ha, ha! Dann erfährt man, dass die Schweden doch Restaurants und Kneipen dicht gemacht haben, die sich nicht an die Abstandsregeln gehalten haben. Wollen wir wetten, Herr Weimer, dass kein einziges dieser geschlossenen Lokale in den No-Go-Areas liegt? Und ich denke, man sollte auch nicht solche kruden Behauptungen eines Regierungsmitgliedes einer Regierung, die eine geradezu idiotische Einwanderungspolitik betreibt, so einfach übernehmen, wie Sie das tun, Herr Weimer. Abschottung würde nichts bringen? Die (Sterbe-) Zahlen auf “euromomo” sagen im Vergleich Schweden zu Ungarn aber ganz was anderes. Ein Land, das laut “worldometers” ca. 9-fach über dem Welt-Durchschnitt liegt mit den sog. Corona-Toten und ca. 7,5-fach so viele Tote hat wie sein ähnlich dünn besiedeltes Nachbarland (Norwegen), so über den grünen Klee zu loben, ist m.E. völlig unangebracht. Man gewinnt überdies den Eindruck beim Lesen des Artikels, als ob es nur den schwedischen und den deutschen Weg als Corona-Strategie gäbe, also nur hopp oder dopp.

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