Der Krieg in Israel ist weder neu noch überraschend, sondern wurde bereits zu Beginn des Jahrtausends erklärt. Sein Schauplatz liegt nicht nur an Israels Grenzen, sondern an vielen Orten der Welt, auf den Schulhöfen und Straßen europäischer Großstädte, auf dem Campus amerikanischer Universitäten.
Es gibt glückliche Jahrestage und traurige. Dieser war zunächst tieftraurig: Israel führt seit einem Jahr, seit der grausamen Attacke der Hamas am 7. Oktober 2023, einen Krieg an mehreren Fronten. Der Krieg hat die egozentrischen, freiheitsliebenden, viel reisenden Israelis auf ungeahnte Weise vereint. Aus allen Himmelsrichtungen flogen sie herbei, um zu kämpfen, in wenigen Stunden waren 300.000 Reservisten unter Waffen, dazu 60.000 Freiwillige und ungezählte Helfer im Hinterland, insgesamt – neben den 170.000 Wehrpflichtigen – gut eine halbe Million junge Frauen und Männer (gegenüber etwa einem Dutzend bekannten Verweigerungen).
So begann der Krieg: mit einem spontanen Bekenntnis der israelischen Jugend zur Heimatliebe, zum Patriotismus. Die Stimmung der Jugend ist die entscheidende Größe angesichts der erstaunlichen Demographie des Landes: Etwa 38 Prozent aller Israelis sind unter 18 Jahre alt (zum Vergleich: in Deutschland sind es 16 Prozent). Und mehr als die Hälfte der israelischen Bevölkerung – rund 55 Prozent – ist unter dreißig, diese Altersgruppe kämpft aktiv im Krieg und erlebt die von der Hamas fanatisierte Bevölkerung in Gaza und ihre Zellen in der Westbank – ein Erlebnis, das ihr künftiges Wahlverhalten beeinflussen wird. Man kann davon ausgehen, dass die von der Europäischen Union favorisierten Konzepte – „Zweistaatenlösung“, „Truppenabzug aus den besetzten Gebieten“ et cetera – in Israel weiter an Popularität verlieren werden.
Daher hat sich die israelische Linke neu formiert, ihre beiden Parteien Avodah und Meretz wurden vereinigt, um es wenigstens zusammen ins nächste Parlament zu schaffen. Ihr neuer Vorsitzender ist – wenig überraschend – ein pensionierter General. Militärs genießen dieser Tage in Israel weitaus größeres Vertrauen als Berufspolitiker, die kürzlich ein anderer General, Dan Goldfus, öffentlich aufforderte, sich an den jungen Soldaten ein Beispiel zu nehmen und Anstand, Einigkeit und Verantwortungsgefühl zu zeigen. Er wurde von der Armeeführung getadelt, weil er sich als aktiver Offizier nicht in die Politik des Landes einmischen dürfe, doch wenige Wochen später befördert und ist nun einer der ranghöchsten Generäle Israels. Die Regierung Netanyahu vermeidet wohlweislich offene Spannungen mit der Armeeführung. Wo Netanyahu es dennoch versucht – etwa bei seinem zweifachen Anlauf, den ihm unbequemen Verteidigungsminister General Galant zu entlassen – zieht er den Kürzeren.
Obama hat die Psychologie des militanten Islam nie verstanden
Daher ist das von deutschen Medien kolportierte Bild, Netanyahu sorge für eine endlose Fortsetzung des Krieges, um sich dadurch an der Macht zu halten, dumm und falsch. An der Weiterführung des Krieges ist vor allem die unter Waffen stehende israelische Jugend interessiert, mit anderen Worten: die Bevölkerungsmehrheit; und die Armeeführung agiert in ihrem Sinn. Netanyahu hat hier in Israel eher den Ruf, Kriege unter internationalem Druck abzubrechen, ehe sie ihr strategisches Ziel erreicht haben. Die Kriege 2009, 2012 und 2014 wurden voreilig beendet, auf Druck der Obama-Administration, was die Hamas nach ihrer Logik als Niederlage wertete – und als Ermutigung, Israel im Herbst 2023 den siegreichen Todesstoß zu versetzen. Obama hat, wie seine Kairoer Rede von 2009 belegt, die Psychologie des militanten Islam nie verstanden. Seine Marionette Biden war daher, was die Nahost-Politik betrifft, der schwächste und am meisten kontraproduktive US-Präsident, an den ich mich erinnern kann.
Fast niemand in Israel zweifelt an der Notwendigkeit dieses Krieges, dessen Härte und Dauer, dessen auch für Israel hohe Verluste nicht zuletzt auf das Konto früherer Unterlassungen und Fehleinschätzungen gingen. Fürs Erste wurde die Aufarbeitung der gravierenden Fehler von Politikern, Geheimdienstleuten und hohen Offizieren, die zum Debakel des 7. Oktober beitrugen, bis Kriegsende vertagt, was nicht heißt, dass sie vergessen wäre. Netanyahus Regierung ist weitgehend unbeliebt, doch ihr Sturz scheint vorerst nicht der Mühe wert. Auch, weil Minister, Generäle und andere Verantwortliche – so das verbreitete Kalkül – gerade durch ihr Schuldgefühl am Einknicken unter internationalem Druck gehindert werden und diesen Krieg zu einem von der israelischen Mehrheit erhofften Ende führen müssen: Zerschlagung der Hamas, möglichst auch der Hisbollah als kampffähige militärische Formationen.
Eine in westlichen Medien überbewertete Bewegung, angeführt von einigen Familien in Hamas-Gefangenschaft befindlicher Geiseln, fordert sofortige Waffenruhe und bringt Zehntausende zu Demos auf die Straße. In Spiegel Online und ähnlichen Medien werden diese Proteste als israelische Mehrheitsmeinung dargestellt. Es gibt auch Familien von Geiseln, die derweil in den USA für Donals Trump die Werbetrommel rühren, weil sie nicht falsches Appeasement, sondern entschlossenes Dagegenhalten für den richtigen Umgang mit militanten Muslimen halten.
Eine Gruppe von Eltern gefallener Soldaten fordert eine Fortsetzung des Krieges bis zur Zerschlagung der Hamas, damit der Tod ihrer Kinder in Gaza „eine Bedeutung“ hätte. Und die Bürgermeister evakuierter Städte und Dörfer im Norden Israels „erklären, dass sie keine voreiligen Vereinbarungen mit der Hisbollah akzeptieren werden“, wie die Zeitung Yediot Acheronot am 26.9. 2024 meldete. „Stattdessen fordern sie entschlossenes Handeln von Netanjahus Regierung und danken der Armee für ihre jüngsten Erfolge. Sie halten einen Waffenstillstand für ein Geschenk an die Hisbollah.“
Die Vereinten Nationen haben im Umgang mit den islamischen Terror-Milizen versagt
Aus solchen Meinungsverschiedenheiten nehmen ausländische Medien das Stereotyp einer „Spaltung“ der israelischen Gesellschaft. Die israelische Gesellschaft ist von jeher heterogen, schon wegen ihrer verschiedenen kulturellen Hintergründe (jüdische Einwanderer aus 145 Ländern, dazu zwei Millionen Araber, Drusen und andere Minderheiten). Heftige Kontroversen, extreme, oft unvereinbare Meinungen gehören zum Demokratieverständnis der Israelis. Die meisten von ihnen verfügen über ein flexibles Ego, das sie über Nacht aus lautstarken Opponenten der Regierung in disziplinierte Soldaten verwandelt und umgekehrt. Gerade junge Israels motiviert das in Israel sehr weitgehende Recht auf freie Meinungsäußerung zum Kampf für ihr bedrohtes Land. Manche fahren von der Demo geradewegs zu ihrer Kampfeinheit.
Der Krieg bringt spürbare Veränderungen im Alltag mit sich. Einige Dienstleistungen sind stark reduziert. Das Gesundheitssystem wirkt stellenweise überlastet. Die Inflation bei Lebensmitteln ist beunruhigend. Personalmangel und Handelsboykotte führen zu Einbußen in bestimmten Wirtschaftszweigen. Zugleich kommt es zu ungeheuren Gewinnen in der Militärindustrie, vor allem für Hersteller von Raketen- und anderen Abwehrsystemen, die mit Aufträgen aus aller Welt überhäuft sind – insgesamt wird das israelische Nationaleinkommen (und damit das Steuereinkommen des Staates) kaum leiden. Ob uns diese Akzentverschiebung in Richtung Rüstungsindustrie behagt oder nicht – sie scheint unvermeidlich. Ungebrochen ist der israelische Bevölkerungszuwachs, vor allem durch im Land geborene Kinder (die durchschnittliche israelische Geburtenrate liegt nach wie vor bei über 3 Kindern pro Mutter), auch durch weiterhin starke Einwanderung, etwa aus der Ukraine oder aus westeuropäischen Ländern wie Frankreich, Belgien, zunehmend auch Deutschland, deren Juden sich von den dortigen islamischen Einwanderern bedroht fühlen.
Glauben wir an einen Sieg? Es wäre großartig, wenn wenigstens UN-Resolution 1701 von 2006 implementiert würde, die eine Entwaffnung der Hisbollah verlangte und ihren Abzug hinter den Litani-Fluss – nichts davon ist bisher geschehen. Die Vereinten Nationen haben im Umgang mit den islamischen Terror-Milizen versagt, bis hin zur offenen Kollaboration im Fall der UNRWA – kaum ein Israeli möchte daher die UN an einer künftigen Friedenslösung beteiligt sehen. Ohnehin sind wir hinaus über die naive Hoffnung auf einen „dauerhaften Frieden im Nahen Osten“: Derzeit kann es nur zeitweise Frieden geben, nachdem Israel schwere Schläge ausgeteilt hat. Denn dieser Krieg ist kein neuer Krieg und alles andere als überraschend. Er wurde uns allen zu Beginn des Jahrtausends erklärt, von einem entschlossenen, kampfbereiten Gegner. Wir haben uns lange geweigert, ihn zur Kenntnis zu nehmen. Sein Schauplatz liegt nicht nur an Israels Grenzen, sondern an vielen Orten der Welt, auf den Schulhöfen und Straßen europäischer Großstädte, auf dem Campus amerikanischer Universitäten. Die meisten Israelis wissen, dass wir für mehr kämpfen als für unser Land.
Von diesem Text erschien eine gekürzte Fassung in der Wochenzeitung "Junge Freiheit", Ausgabe Nr.41/24, 4.Oktober 2024.
Hören Sie sich auch das kürzlich erschienene Interview von MDR AKTUELL mit Chaim Noll an.
Chaim Noll wurde 1954 unter dem Namen Hans Noll in Ostberlin geboren. Seit 1995 lebt er in Israel, in der Wüste Negev. Chaim Noll unterrichtet neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit an der Universität Be’er Sheva und reist regelmäßig zu Lesungen und Vorträgen nach Deutschland. In der Achgut-Edition ist von ihm erschienen „Der Rufer aus der Wüste – Wie 16 Merkel-Jahre Deutschland ramponiert haben. Eine Ansage aus dem Exil in Israel